MLWerke | 6. Kapitel | Inhalt | 8. Kapitel | Franz Mehring

Seitenzahlen nach: Franz Mehring - Gesammelte Schriften, Band 3. Berlin/DDR, 1960, S. 198-231.
1. Korrektur
Erstellt am 30.10.1999

Franz Mehring: Karl Marx - Geschichte seines Lebens

Siebentes Kapitel: Das Londoner Exil


1. »Neue Rheinische Revue«

|198| In dem letzten Briefe, den Marx aus Paris an Engels richtete, teilte er mit, er habe alle Aussicht, in London ein deutsches Journal zu stiften; ein Teil der Gelder sei ihm schon sicher. Er bat Engels, der nach dem Scheitern des badisch-pfälzischen Aufstandes als Flüchtling in der Schweiz lebte, sofort nach London zu kommen. Engels folgte dem Rufe, indem er die Fahrt von Genua aus mit einem Segelschiff machte.

Woher die Mittel für das geplante Unternehmen geflossen sind, läßt sich nicht mehr feststellen. Reichlich können sie nicht gewesen sein, und auf eine lange Dauer der Zeitschrift war auch nicht gerechnet; Marx hoffte, daß nach drei bis vier Monaten der Weltbrand dazwischen kommen werde. Die »Einladung zur Aktienzeichnung« auf die »Neue Rheinische Zeitung. Politisch-Ökonomische Revue, Redigiert von Karl Marx«, ist aus London vom 1. Januar 1850 datiert und von Konrad Schramm als Geranten des Unternehmens gezeichnet. Es heißt darin, die Redakteure der »Neuen Rheinischen Zeitung« hätten sich, nachdem sie, sei es in Süddeutschland, sei es in Paris, an den revolutionären Bewegungen des letzten Sommers teilgenommen hätten, in London wieder zusammengefunden und beschlossen, von hier aus die Zeitung fortzusetzen. Sie könne zunächst nur als Revue in monatlichen Heften von etwa fünf Bogen erscheinen; sobald es die Mittel erlaubten, solle sie jedoch alle vierzehn Tage in gleichem Umfange oder womöglich als großes wöchentliches Blatt nach Art der amerikanischen und englischen Wochenblätter herausgegeben werden, um sich, sobald die Verhältnisse die Rückkehr nach Deutschland gestatteten, sofort wieder in eine Tageszeitung zu verwandeln. Schließlich wurde zur Zeichnung von Aktien zu je 50 Franken aufgefordert.

Es werden nicht viele Aktien untergebracht worden sein. Gedruckt wurde die Zeitung in Hamburg, wo eine buchhändlerische Firma ihren Kommissionsverlag übernommen hatte; sie beanspruchte dafür 50 Prozent von den 25 Silbergroschen vierteljährigen Ladenpreises. Viele |199| Mühe hat sie sich mit der Sache nicht gegeben, zumal da ihr die preußische Besatzung in Hamburg den Atem beklemmte. Es wäre aber kaum besser gewesen, wenn sie größeren Eifer entwickelt hätte. Lassalle trieb in Düsseldorf keine 50 Abonnenten auf, und Weydemeyer, der sich 100 Exemplare zum Vertrieb nach Frankfurt kommen ließ, hatte nach einem halben Jahre erst 51 Gulden eingenommen; »ich trete die Leute zwar genug, aber trotz aller Mahnungen beeilt sich niemand mit dem Zahlen.« Mit berechtigter Bitterkeit schrieb ihm Frau Marx, das Geschäft sei durch nachlässigen und unordentlichen Betrieb gänzlich ruiniert worden, und man wisse nicht, ob die Verschleppung des Buchhändlers oder der Geschäftsführer und Bekannten in Köln oder das Benehmen der Demokratie am schädlichsten gewesen sei.

Ganz ohne Schuld war auch nicht die ungenügende redaktionelle Vorbereitung des Unternehmens, das im wesentlichen auf Marx und Engels allein angewiesen war. Das Manuskript für das Januarheft traf erst am 6. Februar in Hamburg ein. Aber die Nachlebenden haben allen Grund, dankbar zu sein, daß der Plan überhaupt ausgeführt wurde, denn wäre er nur wenige Monate verzögert worden, so hätte ihn das schnelle Verrinnen der revolutionären Flut überhaupt unmöglich gemacht. So sind uns in den sechs Heften der Revue kostbare Zeugnisse dafür erhalten, wie Marx nach den Worten seiner Frau durch »seine ganze Energie, das ganze ruhige, klare, stille Selbstbewußtsein seines Wesens« sich über die kleinlichen Sorgen des Lebens zu erheben wußte, die täglich und stündlich »in empörender Form« an ihn herantraten.

Marx und ebenso Engels - dieser noch mehr als jener - haben namentlich in ihrer Jugend die kommenden Dinge immer in viel zu naher Ferne gesehen, oft schon die Frucht pflücken zu können gehofft, wo sich kaum erst die Blüte zu entfalten begann; wie oft sind sie deshalb falsche Propheten gescholten worden! Und ein falscher Prophet zu sein, gilt nicht eben als der feinste Ruhm eines Politikers. Aber man muß dabei unterscheiden, ob falsche Prophezeiungen aus der kühnen Zuversicht eines klaren und scharfen Denkens entspringen oder aus der eitlen Selbstbespiegelung in frommen Wünschen. In diesem Falle wirkt die Enttäuschung entnervend, indem ein Blendwerk spurlos verschwindet, in jenem anderen Falle aber stärkend, indem der denkende Geist den Ursachen seines Irrtums nachspürt und dadurch neue Erkenntnis gewinnt.

Vielleicht niemals hat es Politiker gegeben, die in dieser Selbstkritik von so unerbittlicher Wahrhaftigkeit gewesen sind wie Marx und Engels. Von jener elenden Rechthaberei, die sich der herbsten Enttäuschung |200|* gegenüber noch selbst zu täuschen sucht, indem sie sich vorspiegelt, daß sie doch recht behalten hätte, wenn nur dies oder jenes anders gekommen wäre, wie es tatsächlich gekommen ist, waren sie völlig frei. Ebenso frei waren sie aber von allem wohlfeil weisen Absprechen, von allem unfruchtbaren Pessimismus; sie lernten aus der Niederlage, um mit verstärkter Kraft den Sieg vorzubereiten.

Mit dem Fehlschlage des 13. Juni in Paris, dem Scheitern der Reichsverfassungskampagne in Deutschland und der Niederwerfung der ungarischen Revolution durch den Zaren, hatte ein großer Abschnitt der Revolution seinen Abschluß gefunden. Ihr Wiedererwachen war nur noch möglich in Frankreich, wo die entscheidenden Würfel trotz alledem noch nicht gefallen waren. An dieser Hoffnung hielt Marx fest, aber das hinderte ihn nicht, sondern trieb ihn dazu an, den bisherigen Verlauf der französischen Revolution einer rücksichtslosen, jeder Illusion spottenden Kritik zu unterziehen. Es geschah so, daß er das wirre Durcheinander ihrer Kämpfe, das ideologischen Politikern mehr oder minder als unentwirrbar erscheinen mußte, von ihrem inneren Springpunkt her beleuchtete, von den ökonomischen Gegensätzen, die in ihnen aufeinanderstießen.

So gelang es ihm, in dieser Darstellung, die sich durch die drei ersten Hefte der Revue zog, oft genug, die verworrensten Tagesfragen durch ein paar epigrammatische Sätze zu schlichten! Was hatten die erleuchteten Köpfe der Bourgeoisie und selbst doktrinäre Sozialisten in der Pariser Nationalversammlung über das Recht auf Arbeit zusammengeredet, und wie völlig schöpfte Marx den historischen Sinn wie Unsinn dieses Schlagwortes in den wenigen Sätzen aus: »In dem ersten Konstitutionsentwurf, verfaßt vor den Junitagen, befand sich noch das ›droit à travail‹, das Recht auf Arbeit, erste unbeholfene Formel, worin sich die revolutionären Ansprüche des Proletariats zusammenfassen. Es wurde verwandelt in das droit à l'assistance, in das Recht auf öffentliche Unterstützung, und welcher moderne Staat ernährt nicht in der einen oder der andern Form seine Paupers? Das Recht auf Arbeit ist im bürgerlichen Sinn ein Widersinn, ein elender, frommer Wunsch, aber hinter dem Rechte auf Arbeit steht die Gewalt über das Kapital, hinter der Gewalt über das Kapital die Aneignung der Produktionsmittel, ihre Unterwerfung unter die assoziierte Arbeiterklasse, also die Aufhebung der Lohnarbeit, des Kapitals und ihres Wechselverhältnisses.«[1] Hatte Marx an der französischen Geschichte zuerst den Klassenkampf als treibendes Rad der historischen Entwicklung erkannt, wie er denn auch in ihr seit den Tagen des Mittelalters in besonders klaren und klassischen |201|* Formen hervorgetreten ist, so erklärt sich leicht seine besondere Vorliebe für die französische Geschichte. Diese Abhandlung, wie später die andere über den bonapartistischen Staatsstreich und die noch spätere über die Pariser Kommune, sind die glänzendsten Steine in dem Juwelenschrein seiner kleineren historischen Schriften.

Als lustiges Gegenbild, doch nicht ohne tragischen Ausgang, gab sich daneben in den drei ersten Heften der Revue das Bild einer kleinbürgerlichen Revolution, das Engels von der deutschen Reichsverfassungskampagne entwarf.[2] Gemeinsam von beiden verfaßt waren die Monatsübersichten, worin sie vor allem dem ökonomischen Gange der Dinge nachspürten. Schon im Februarhefte wiesen sie auf die Entdeckung der kalifornischen Goldgruben hin, als auf eine Tatsache, die »noch wichtiger als die Februarrevolution« sei und noch großartigere Resultate haben werde als die Entdeckung Amerikas. »Eine Küste von 30 Breitengraden Länge, eine der schönsten und fruchtbarsten der Welt, bisher so gut wie unbewohnt, verwandelt sich zusehends in ein reiches, zivilisiertes Land, dichtbevölkert von Menschen aller Stämme, vom Yankee zum Chinesen, vom Neger zum Indianer und Malaien, vom Kreolen und Mestizen zum Europäer. Das kalifornische Gold ergießt sich in Strömen über Amerika und die asiatische Küste des Stillen Ozeans und reißt die widerspenstigsten Barbarenvölker in den Welthandel, in die Zivilisation. Zum zweiten Male bekommt der Welthandel eine neue Richtung ... Dank dem kalifornischen Golde und der unermüdlichen Energie der Yankees werden beide Küsten des Stillen Meers bald ebenso bevölkert, ebenso offen für den Handel, ebenso industriell sein, wie es jetzt die Küste von Boston bis New Orleans ist. Dann wird der Stille Ozean die selbe Rolle spielen wie jetzt das Atlantische und im Altertum und Mittelalter das Mittelländische Meer - die Rolle der großen Wasserstraße des Weltverkehrs; und der Atlantische Ozean wird herabsinken zu der Rolle eines Binnensees, wie sie jetzt das Mittelmeer spielt. Die einzige Chance, daß die europäischen zivilisierten Länder dann nicht in dieselbe industrielle, kommerzielle und politische Abhängigkeit fallen, in der Italien, Spanien und Portugal sich jetzt befinden, liegt in einer gesellschaftlichen Revolution, die, solange es noch Zeit ist, die Produktions- und Verkehrsweise nach den aus den modernen Produktivkräften hervorgehenden Bedürfnissen der Produktion selbst umwälzt und dadurch die Erzeugung neuer Produktivkräfte möglich macht, welche die Superiorität [Mehring übersetzt: Überlegenheit] der europäischen Industrie sichern und so die Nachteile der geographischen Lage ausgleichen.«[3] Nur daß, wie die Verfasser dieser großartigen Aussicht |202|* alsbald erkennen sollten, die gegenwärtige Revolution an der Entdeckung der kalifornischen Goldgruben versandete.

Ebenso gemeinsam von Marx und Engels verfaßt sind die Kritiken einiger Schriften, in denen sich vormärzliche Leuchten mit der Revolution auseinanderzusetzen gesucht hatten; der deutsche Philosoph Daumer, der französische Historiker Guizot und das englische Originalgenie Carlyle. Wenn Daumer der Schule Hegels entstammte, so hatte Guizot auf Marx, Carlyle auf Engels bedeutenden Einfluß geübt. Nunmehr hieß es von allen dreien: Gewogen auf der Waage der Revolution und zu leicht befunden. Die unglaublichen Gemeinplätze, in denen Daumer »die Religion des neuen Weltalters« predigte, werden in dem »rührenden Bilde« zusammengefaßt: Die deutsche Philosophie ringt die Hände und wehklagt am Sterbebette ihres Nährvaters, des deutschen Spießbürgertums. An Guizot wird nachgewiesen, wie selbst die tüchtigsten Leute des ancien régime, sogar Leute, denen in ihrer Weise historisches Talent keineswegs abzusprechen sei, durch das fatale Februarereignis so vollständig in Verwirrung gebracht worden seien, daß ihnen alles geschichtliche Verständnis, daß ihnen sogar das Verständnis ihrer eigenen früheren Handlungsweise abhanden gekommen sei. Endlich, wenn die Schrift Guizots zeigte, daß die Kapazitäten der Bourgeoisie im Untergehen begriffen waren, so zeigten ein paar Flugschriften Carlyles den Untergang des literarischen Genies an den akut gewordenen geschichtlichen Kämpfen, gegen die es seine verkannten, unmittelbaren, prophetischen Inspirationen geltend zu machen suchte.

Indem Marx und Engels in diesen glänzenden Kritiken die verheerenden Wirkungen der Revolution auf die literarischen Größen der vormärzlichen Zeit nachwiesen, waren sie doch weit davon entfernt, an irgendeine mystische Kraft der Revolution zu glauben, wie ihnen mitunter nachgeredet worden ist. Die Revolution schuf nicht das Bild, das die Daumer, Guizot und Carlyle bis auf den Tod erschreckte, sondern riß nur den Schleier von diesem Bilde. In den Revolutionen nimmt die historische Entwicklung nicht einen anderen, sondern nur einen schnelleren Gang; in diesem Sinne hat Marx sie wohl einmal »Lokomotiven der Geschichte« [4] genannt. Der dumme Philisterglaube an die »friedliche und gesetzliche Reform«, die allen revolutionären Ausbrüchen überlegen sei, ist Männern, wie Marx und Engels, natürlich immer ferngeblieben; ihnen war die Gewalt auch eine ökonomische Potenz, die Geburtshelferin jeder neuen Gesellschaft.

2. Der Fall Kinkel

|203| Mit ihrem vierten Heft, im April 1850, hörte die »Neue Rheinische Revue« auf, regelmäßig zu erscheinen, und einiges dazu beigetragen hat wohl ein kleiner Artikel dieses Hefts, von dem die Verfasser vorhersagten, daß er »die allgemeine Entrüstung der sentimentalen Schwindler und demokratischen Deklamatoren« erregen würde: eine kurze, aber vernichtende Kritik der Verteidigungsrede, die Gottfried Kinkel am 7. August 1849 als gefangener Freischärler vor dem Kriegsgerichte in Rastatt gehalten und Anfang April 1850 in einem Berliner Blatte veröffentlicht hatte.

An sich war diese Kritik vollkommen berechtigt. Kinkel hatte vor dem Kriegsgericht die Revolution und seine Waffengefährten verleugnet; er hatte dem »Kartätschenprinzen« gehuldigt und »das Kaisertum Hohenzollern« hochleben lassen, vor denselben Kriegsgerichten, die 26 seiner Kameraden auf den Sandhaufen geschickt hatten, wo sie alle tapfer gestorben waren. Aber Kinkel saß im Zuchthause, als Marx und Engels ihn angriffen; wie man allgemein annahm als ein ausgesuchtes Opfer der königlichen Rachsucht, die das auf Festungsstrafe lautende Urteil des Kriegsgerichts durch einen Akt der Kabinettsjustiz in die entehrende Zuchthausstrafe umgewandelt haben sollte. Ihn in solcher Lage noch an einen politischen Pranger zu stellen, konnte nicht bloß bei »sentimentalen Schwindlern und demokratischen Deklamatoren« starkes Bedenken erregen.

Seitdem haben sich die Archive über den Fall Kinkel geöffnet, der sich danach als ein wahres Nest tragikomischer Verwechslungen darstellt. Kinkel war ursprünglich Theologe und zwar orthodoxer Theologe; durch seinen Abfall vom rechten Glauben, der durch die Verheiratung mit einer geschiedenen Katholikin begleitet oder auch gefördert wurde, hatte er einen unversöhnlichen Haß der Rechtgläubigen hervorgerufen, der ihm einen, weit über Verdienst und Würdigkeit hinausgehenden Ruf als »Freiheitshelden« verschaffte. In dieselbe Partei mit Marx und Engels war er in der Tat nur durch ein »Mißverständnis« geraten; politisch kam er nicht über die Schlagworte der landläufigen Demokratie hinaus, wobei ihn die - nach einem Worte Freiligraths - »verfluchte Schönrednerei«, die ihm noch aus seiner theologischen Zeit anhing, gelegentlich ebenso weit nach links reißen mochte wie in der Rastatter Rede nach rechts. Eine bescheidene, dichterische Begabung diente dazu, ihn bekannter zu machen, als andere Demokraten seines Schlages waren.

|204| In der Reichsverfassungskampagne war Kinkel in die Freischar Willichs eingetreten, in der auch Engels und Moll kämpften; hier hielt er sich tapfer und wurde in den letzten Gefechten an der Murg, wo Moll fiel, durch einen Streifschuß am Kopf verwundet und dann gefangengenommen. Das Kriegsgericht verurteilte ihn zu lebenslänglicher Festungsstrafe, aber damit war dem »Kartätschenprinzen« oder, wie sich Kinkel in seiner Verteidigung preislicher ausgedrückt hatte, »der Königlichen Hoheit unseres Thronfolgers« nicht gedient, und das Generalauditoriat in Berlin beantragte beim Könige, das kriegsgerichtliche Urteil aufzuheben, da Kinkel die Todesstrafe verwirkt habe, und von neuem kriegsgerichtlich über ihn erkennen zu lassen.

Hiergegen erhob sich nunmehr das gesamte Ministerium, indem es zwar anerkannte, daß die Strafe des Hochverräters zu milde sei, aber die Bestätigung des Urteils aus Rücksicht auf die öffentliche Meinung »aus Gnaden« anriet. Zugleich erschien es ihm »geraten«, die Vollstreckung der Strafe in einer »Zivilanstalt« anzuordnen, da es »große Sensation« erregen würde, wenn Kinkel als Festungssträfling behandelt werden würde. Der König genehmigte diese Anträge des Ministeriums, erregte dadurch aber gerade die »große Sensation«, die vermieden werden sollte. Die »öffentliche Meinung« empfand es als blutigen Hohn, daß ein König »aus Gnaden« einen Hochverräter, den selbst ein Kriegsgericht nur auf die Festung schicken wollte, ins Zuchthaus sandte.

Sie war jedoch im Irrtum, weil sie sich auf die Feinheiten preußischer Strafvollstreckung nicht verstand. Kinkel war nicht zu militärischem Festungsarrest, sondern zu militärischer Festungsstrafe verurteilt worden, einer Strafe, die noch in viel härteren und widerlicheren Formen vollzogen wurde, als die Zuchthausstrafe. Die Festungssträflinge wurden in engen Löchern zu zehn oder zwanzig zusammengepfercht, hatten nur eine harte Pritsche als Lager, wurden karg und schlecht beköstigt, mußten die niedrigsten Arbeiten verrichten wie Abtrittausräumen, Straßenkehren usw., und beim geringsten Versehen bekamen sie die Peitsche zu kosten. Vor diesem Hundeleben wollte das Ministerium, aus Angst vor der »öffentlichen Meinung«, den gefangenen Kinkel bewahren, aber als die »öffentliche Meinung« die Sache umgekehrt verstand, wagte es es doch nicht, aus Angst vor dem »Kartätschenprinzen« und dessen rachsüchtiger Partei, sich offen zu seiner »humanen« Absicht zu bekennen, und ließ den König lieber unter einem Verdacht, der ihn auch in den Augen der Gutgesinnten schwer schädigen mußte und geschädigt hat.

Unter dem fatalen Eindruck dieser mißlungenen Aktion wollte das Ministerium nicht neue »Sensationen« durch die Erlebnisse Kinkels im |205| Zuchthause hervorrufen, wagte sich aber nur zu dem Befehl aufzuschwingen, daß auf keinen Fall die Strafe der körperlichen Züchtigung an ihm vollstreckt werden dürfe. Auch seine Befreiung von körperlicher Zwangsarbeit hätte es gern gesehen und legte dem Zuchthausdirektor in Naugard nahe, wo Kinkel zuerst saß, die Verantwortung auf die eigene Kappe zu nehmen. Aber der stramme Bürokrat hielt sich an seine Instruktion und setzte Kinkel ans Spulrad. Darob wieder gewaltige Aufregung; ein »Lied vom Spulen« entstand und wurde viel deklamiert, Bilder des »spulenden Dichters« überschwemmten Deutschland, und Kinkel selbst schrieb an seine Gattin: »Das Spiel des Schicksals und der Parteiwut geht ins Wahnwitzige, daß die Hand, die der deutschen Nation ›Otto den Schütz‹ schrieb, jetzt die Spule dreht.« Jedoch bestätigte sich alsbald die alte Erfahrung, daß die »sittliche Entrüstung« des Philisters in einer großen Lächerlichkeit zu enden pflegt. Erschreckt durch den Lärm und mutiger als das Ministerium, aber freilich auch sofort wegen »demokratischer Anschauungen« denunziert, ordnete die Stettiner Bezirksregierung die Beschäftigung Kinkels mit schriftlichen Arbeiten an, worauf Kinkel selbst erklärte, er wünsche beim Spulrade zu bleiben, da eine leichte körperliche Anstrengung ihm gestatte, sich frei mit seinen Gedanken zu beschäftigen, während tagelanges Kopieren seine Brust angreife und ihn krank mache.

Die weitverbreitete Meinung, als werde Kinkel im Zuchthause auf den Befehl des Königs mit besonderer Bosheit behandelt, traf nicht zu, wenn er auch mancherlei zu leiden hatte. Schnuchel, der Naugarder Direktor, war ein strammer Bürokrat, aber kein Unmensch: er duzte Kinkel, aber gewährte ihm viele Bewegung in freier Luft und hatte menschliches Verständnis für die rastlosen Bemühungen der Frau Kinkel, ihren Mann zu befreien. In Spandau dagegen, wohin Kinkel im Mai 1850 kam, wurde er Sie genannt, mußte sich aber Bart und Haupthaar scheren lassen; der Direktor Jeserich, ein frömmelnder Reaktionär, quälte ihn mit Bekehrungsversuchen und begann mit der »verehelichten Kinkel« sofort die widerlichsten Zänkereien. Immerhin machte auch dieser Seelenverkäufer keine großen Schwierigkeiten, als ihn das Ministerium zum Bericht über den Antrag der Frau Kinkel aufforderte, falls man ihren Mann nach Amerika entlasse, so werde er sich durch sein Ehrenwort verpflichten, auf jede politische Tätigkeit zu verzichten und nie nach Europa zurückzukehren. Jeserich meinte sogar, soweit er den Kinkel kennengelernt habe, werde eine gründliche Heilung seines innersten Menschen noch am ehesten in Amerika erlangt werden. Aber mindestens ein Jahr müsse er im Kerker verbüßt haben, damit das Schwert der |206| Obrigkeit nicht gar so stumpf und schartig werde; dann könne ihm die Auswanderung gestattet werden, es sei denn, daß Kinkels Gesundheit unter der längeren Haft litte, wovon jedoch nichts zu spüren wäre. Dieser Bericht Jeserichs ging an den König, der sich nun freilich rachsüchtiger erwies als die Minister und der Zuchthausdirektor; »Allerhöchstdieselben« entschieden, dem p. Kinkel könne nach Ablauf eines Jahres noch nicht die Auswanderung gestattet werden, da er noch ganz anders gedemütigt werden müsse, als bisher geschehen sei.

Überblickt man den Kultus, der damals mit Kinkel getrieben wurde, so begreift man den Widerwillen, den er bei Männern wie Marx und Engels erregen mußte. Dergleichen spießbürgerliche Spektakelstücke sind ihnen immer unausstehlich gewesen. Schon in seiner Darstellung der Reichsverfassungskampagne hatte sich Engels sehr bitter über das viele Wesen ausgelassen, das mit den »gebildeten Opfern« der Maiaufstände gemacht würde, während niemand von den Hunderten und Tausenden von Arbeitern spräche, die in der Schlacht gefallen wären oder in den Rastatter Kasematten verfaulten oder im Auslande allein von allen Flüchtlingen das Exil bis auf die Hefen des Elends zu durchkosten hätten. Allein wenn man auch davon absah, so gab es auch unter den »gebildeten Opfern« viele, die ungleich Schwereres zu tragen hatten und es ungleich männlicher trugen als Kinkel, ohne daß ein Hahn danach krähte. Es sei nur an August Röckel erinnert, der als Künstler mindestens ebenso hoch stand als Kinkel, er wurde im Zuchthause von Waldheim aufs grausamste bis zur körperlichen Züchtigung mißhandelt, war aber nach zwölf Jahren unerträglicher Foltern nicht zu bewegen, auch nur mit dem Zucken einer Augenwimper um Gnade zu bitten, so daß die an seinem Stolz verzweifelnde Reaktion ihn schließlich sozusagen gewaltsam aus dem Zuchthause werfen mußte. Und Röckel war nicht der einzige seiner Art. Vielmehr war Kinkel der einzige, der schon nach wenigen Monaten einer immerhin erträglichen Haft durch Veröffentlichung seiner Rastatter Rede vor aller Welt Reu' und Leid tat. Da war die derbe und herbe Kritik, die Marx und Engels an dieser Rede übten, durchaus angebracht; sie konnten mit Recht sagen, daß sie die Lage des gefangenen Kinkel dadurch nicht verschlechterten, sondern verbesserten.

Der Verlauf des Falles Kinkel gab ihnen dann auch sonst recht. Die Schwärmerei für Kinkel löste die Schnüre bürgerlicher Geldbeutel so weit, daß ein Beamter des Spandauer Zuchthauses bestochen und Kinkel im November 1850 durch Karl Schurz befreit werden konnte. Das hatte nun der König von seiner Rachsucht. Hätte er Kinkel gegen dessen ehrenwörtliches Versprechen, keine Politik mehr zu treiben, nach Amerika |207|* auswandern lassen, so würde Kinkel schnell vergessen worden sein, wie sogar der Zuchthausdirektor Jeserich begriffen hatte; nun wurde Kinkel durch seine gelungene Flucht ein dreimal gefeierter Agitator, und der König hatte zum Schaden noch den Spott zu tragen.

Doch wußte er sich in seiner königlichen Art zu fassen. Der Bericht über Kinkels Flucht regte in ihm einen Gedanken an, den er selbst ehrlich genug war, als unlauter zu bezeichnen. Er befahl seinem Manteuffel, durch die »kostbare Persönlichkeit« des Stieber ein Komplott aufdecken und bestrafen zu lassen. Stieber war damals schon so allgemein verachtet, daß sich selbst der Berliner Polizeipräsident Hinckeldey, der in der Verfolgung politischer Gegner ein sehr weites Gewissen hatte, heftig gegen seine Wiederanstellung im Polizeidienst sträubte. Half aber alles nichts, und Stieber inszenierte nun als seine Probearbeit das Diebstahls- und Meineidsstück des Kölner Kommunistenprozesses.

An mancherlei Schurkerei übertraf es dutzendfach den Fall Kinkel, aber man hat nicht gehört, daß sich auch nur ein biederer Bürgersmann darüber aufgeregt hätte. Vielleicht wollte diese angenehme Klasse damit beweisen, daß Marx und Engels sie von vornherein richtig durchschaut hatten.

3. Die Spaltung des Kommunistenbundes

Im übrigen hatte der Fall Kinkel mehr eine symptomatische als eine tatsächliche Bedeutung. Das Wesen des Streits, in den Marx und Engels mit der Londoner Emigration gerieten, läßt sich daran am genauesten erkennen, aber seine wichtigste Erscheinung war er nicht, geschweige denn, daß er seine Ursache gewesen wäre.

Was Marx und Engels mit der sonstigen Emigration verband und was sie von ihr trennte, zeigen die beiden Schöpfungen, denen sie neben der Herausgabe der »Neuen Rheinischen Revue« im Jahre 1850 ihre Arbeit widmeten: auf der einen Seite das Flüchtlingskomitee, das sie mit Bauer, Pfänder und Willich gründeten, um den Emigranten zu helfen, die um so massenhafter nach London strömten, je mehr die Schweiz die rauhe Seite gegen die Flüchtlinge herauszukehren begann, auf der andern Seite die Wiederherstellung des Kommunistenbundes, die um so notwendiger wurde, je rücksichtsloser die siegreiche Gegenrevolution der Arbeiterklasse Preß- und Versammlungsfreiheit und überhaupt alle Mittel öffentlicher Propaganda entriß. Man mag sagen, daß Marx und Engels sich menschlich mit der Emigration solidarisch erklärten, |208| aber nicht politisch; daß sie ihre Leiden teilten, aber nicht ihre Einbildungen; daß sie ihr den letzten Pfennig opferten, aber nicht das kleinste Bruchteilchen ihrer Überzeugungen.

Die deutsche und nun gar die internationale Flüchtlingsschaft stellte eine verworrene Masse der allerverschiedensten Elemente dar. Sie alle hofften auf ein Wiedererwachen der Revolution, die sie in die Heimat zurückführen würde, und sie alle arbeiteten auf dies Ziel hin, womit eine einheitliche Aktion gegeben zu sein schien. Jedoch jeder Anlauf dazu scheiterte regelmäßig; er gedieh höchstens zu papierenen Kundgebungen, die destoweniger besagten, je pomphafter sie klangen. Sobald gehandelt werden sollte, entstanden die unerbaulichsten Zänkereien. Sie wurden nicht verschuldet durch die Personen und höchstens verschärft durch die trostlose Lage, in der sich diese Personen befanden; ihre wirkliche Ursache waren die Klassenkämpfe, die den Gang der Revolution bestimmt hatten und in der Emigration fortdauerten, trotz aller Versuche, sie wegzuphantasieren. Die Fruchtlosigkeit dieser Versuche sahen Marx und Engels von vornherein ein und beteiligten sich nicht daran, was alle Fraktionen und Fraktiönchen der Emigration wenigstens in der einen Ansicht vereinigte, daß Marx und Engels die eigentlichen und unverbesserlichen Störenfriede seien.

An ihrem Teil setzten sie den proletarischen Klassenkampf fort, den sie schon vor der Revolution begonnen hatten. Die alten Mitglieder des Kommunistenbundes hatten sich seit dem Herbst 1849 fast vollzählig in London wieder zusammengefunden, bis auf Moll, der in den Kämpfen an der Murg gefallen war, sowie Schapper, der erst im Sommer 1850 eintraf, und endlich Wilhelm Wolff, der noch ein Jahr später aus der Schweiz übersiedelte. Dazu waren manche neue Kräfte gewonnen: August Willich, der ehemalige preußische Offizier, der sich im badisch-pfälzischen Feldzuge als umsichtiger Freischarenführer bewährt hatte und von seinem damaligen Adjutanten Engels geworben worden war: eine tüchtige Persönlichkeit, aber theoretisch ein unklarer Kopf. Dann allerlei junges Volk, der Kaufmann Konrad Schramm, der Lehrer Wilhelm Pieper und namentlich Wilhelm Liebknecht, der auf deutschen Universitäten studiert, aber seine Examina in den badischen Aufständen und im schweizerischen Exil bestanden hatte. Sie alle waren in diesen Jahren viel um Marx, am anhänglichsten und treuesten wohl Liebknecht. Auf die anderen beiden ist Marx nicht immer gut zu sprechen gewesen, da sie ihm manche Unruhe machten, doch darf man nicht jedes ärgerliche Wort, das er gelegentlich über sie äußerte, wörtlich nehmen. Als Konrad Schramm noch in jungen Jahren von der Schwindsucht dahingerafft |209|* worden war, rühmte Marx ihn als den »Percy Heißsporn« der Partei; auch von Pieper meinte er, daß er »bei alledem ein bon garçon« sei. Durch Pieper kam der Göttinger Advokat Johannes Miquel in brieflichen Verkehr mit Marx und trat in den Bund der Kommunisten ein. Marx schätzte in ihm offenbar einen Mann von Geist, und Miquel hat auch eine Reihe von Jahren bei der Fahne ausgehalten, bis er sich wie sein Freund Pieper ins liberale Lager rückwärts wandte.

Ein Rundschreiben der Zentralbehörde, vom März 1850 datiert, von Marx und Engels verfaßt und von Heinrich Bauer als Emissär nach Deutschland gebracht, war bestimmt, den Bund der Kommunisten wiederherzustellen. Es ging von der Auffassung aus, daß eine neue Revolution bevorstände, »sei es, daß sie hervorgerufen wird durch eine selbständige Erhebung des französischen Proletariats oder durch die Invasion der Heiligen Allianz gegen das revolutionäre Babel«.[5] Wie die Märzrevolution die Bourgeoisie, so würde die neue Revolution das Kleinbürgertum zum Siege führen, das die Arbeiterklasse abermals verraten würde. Das Verhältnis der revolutionären Arbeiterpartei zu den kleinbürgerlichen Demokraten wurde dahin zusammengefaßt: »Sie geht mit ihr zusammen gegen die Fraktion, deren Sturz sie bezweckte; sie tritt ihnen gegenüber in allem, wodurch sie sich für sich selbst festsetzen wollen.«[6] Die Kleinbürger würden eine für sie siegreiche Revolution dazu ausnützen, die kapitalistische Gesellschaft soweit zu reformieren, daß sie für ihre eigene Klasse und bis zu einem gewissen Grade auch für die Arbeiter bequemer und erträglicher gemacht würde. Damit könnte aber das Proletariat keineswegs zufrieden sein. Während die demokratischen Kleinbürger möglichst rasch nach Durchführung ihrer beschränkten Forderungen auf Abschluß der Revolution drängen würden, wäre es vielmehr die Aufgabe der Arbeiter, die Revolution permanent zu machen, »so lange, bis alle mehr oder weniger besitzenden Klassen von der Herrschaft verdrängt sind, die Staatsgewalt vom Proletariat erobert und die Assoziation der Proletarier nicht nur in einem Lande, sondern in allen herrschenden Ländern der ganzen Welt so weit vorgeschritten ist, daß die Konkurrenz der Proletarier in diesen Ländern aufgehört hat und daß wenigstens die entscheidenden produktiven Kräfte in den Händen der Proletarier konzentriert sind.«[7]

Demgemäß warnte das Rundschreiben die Arbeiter davor, sich durch die Einigungs- und Versöhnungspredigten der kleinbürgerlichen Demokraten täuschen und zum Anhängsel der bürgerlichen Demokratie herabdrücken zu lassen. Sie müßten im Gegenteil sich möglichst fest und stark organisieren, um nach dem Siege der Revolution, den sie wie |210| bisher immer durch ihre Kraft und ihren Mut erkämpfen würden, dem Kleinbürgertum solche Bedingungen zu diktieren, daß die Herrschaft der bürgerlichen Demokraten den Keim des Untergangs in sich trüge und ihre spätere Verdrängung durch die Herrschaft des Proletariats; bedeutend erleichtert würde. »Die Arbeiter müssen vor allen Dingen während des Konfliktes und unmittelbar nach dem Kampfe, soviel nur irgend möglich, der bürgerlichen Abwiegelung entgegenwirken und die Demokraten zur Ausführung ihrer jetzigen terroristischen Phrasen zwingen ... Weit entfernt, den sogenannten Exzessen, den Exempeln der Volksrache an verhaßten Individuen oder öffentlichen Gebäuden, an die sich nur gehässige Erinnerungen knüpfen, entgegenzutreten, muß, man diese Exempel nicht nur dulden, sondern ihre Leitung selbst in die Hand nehmen.«[8] Bei den Wahlen für eine Nationalversammlung müßten die Arbeiter überall selbständige Kandidaten aufstellen, selbst wo gar keine Aussicht für ihren Sieg vorhanden wäre, unbekümmert um alle demokratischen Redensarten. Natürlich könnten die Arbeiter im Anfange der Bewegung noch keine direkt kommunistischen Maßregeln vorschlagen, aber sie könnten die Demokraten dazu zwingen, nach möglichst vielen Seiten in die bisherige Gesellschaftsordnung einzugreifen, ihren regelmäßigen Gang zu stören und sich selbst zu kompromittieren sowie möglichst viele Produktivkräfte, Transportmittel, Fabriken, Eisenbahnen usw. in den Händen des Staats zu kompensieren. Vor allem sollten die Arbeiter nicht dulden, daß bei Aufhebung des Feudalismus, die feudalen Ländereien, wie in der großen französischen Revolution, den Bauern als freies Eigentum gegeben, somit das Landproletariat erhalten und eine kleinbürgerliche Bauernklasse gebildet würde, die denselben Kreislauf der Verarmung und Verschuldung durchmachte wie der französische Bauer. Vielmehr müßten die Arbeiter verlangen, daß die konfiszierten Feudalländereien Staatsgut blieben und zu Arbeiterkolonien verwandelt würden, die das assoziierte Landproletariat mit allen Mitteln des großen Ackerbaus zu bearbeiten habe. Dadurch erlange das Prinzip des gemeinsamen Eigentums sogleich eine feste Grundlage mitten in den wankenden bürgerlichen Eigentumsverhältnissen.

Bewaffnet mit diesem Rundschreiben, hatte Bauer mit seiner Missionsreise nach Deutschland großen Erfolg. Es gelang ihm, zerrissene Fäden wieder anzuknüpfen und neue Fäden zu spinnen, namentlich großen Einfluß auf die Reste der Arbeiter-, Bauern-, Tagelöhner- und Turnvereine zu gewinnen, die sich noch in allem Wüten der Gegenrevolution erhalten hatten. Auch die einflußreichsten Mitglieder der |211| von Stephan Born gegründeten Arbeiterverbrüderung schlossen sich dem Bunde an, der »alle brauchbaren Kräfte für sich gewonnen« habe, wie Karl Schurz nach Zürich berichtete, als er zu gleicher Zeit im Auftrage einer schweizerischen Flüchtlingsorganisation Deutschland bereiste. In einer zweiten, vom Juni 1850 datierten Ansprache konnte die Zentralbehörde berichten, daß der Bund in einer Reihe deutscher Städte festen Fuß gefaßt und sich leitende Kreise gebildet hätten, in Hamburg für Schleswig-Holstein, in Schwerin für Mecklenburg, in Breslau für Schlesien, in Leipzig für Sachsen und Berlin, in Nürnberg für Bayern, in Köln für Rheinland und Westfalen.

In eben dieser Ansprache wurde der Kreis London als der stärkste des ganzen Bundes bezeichnet, der fast ausschließlich für die Kosten aufkomme. Er leite fortwährend den deutschen Arbeiterbildungsverein in London, wie den entschiedenen Teil der dortigen Flüchtlinge; auch stehe die Zentralbehörde in naher Verbindung mit der revolutionären Partei der Engländer, Franzosen und Ungarn. Aber in anderer Beziehung war der Kreis London doch auch wieder die schwächste Seite des Bundes, insofern als er ihn in die immer hitzigeren, aber auch immer hoffnungsloseren Kämpfe der Emigration verwickelte.

Im Laufe des Sommers 1850 entschwand sichtlich die Hoffnung auf ein baldiges Wiedererwachen der Revolution. In Frankreich wurde das allgemeine Stimmrecht vernichtet, ohne daß sich die Arbeiterklasse erhob; die Entscheidung stand nur noch zwischen dem Prätendenten Louis Bonaparte und der monarchistisch-reaktionären Nationalversammlung. In Deutschland zog sich das demokratische Kleinbürgertum von der politischen Bühne zurück, während die liberale Bourgeoisie sich an dem Leichenraub beteiligte, den Preußen an der deutschen Revolution versuchte. Dabei wurde Preußen von den deutschen Mittel- und Kleinstaaten geprellt, die alle nach der österreichischen Pfeife tanzten, während der Zar über diese ganze deutsche Gesellschaft die drohende Knute schwang. In dem Maße aber, wie die wirkliche Revolution verebbte, steigerten sich die fieberhaften Anstrengungen der Emigration, eine künstliche Revolution zu fabrizieren; sie täuschte sich über alle drohenden Anzeichen fort und setzte ihre Hoffnung auf Wundertaten, die sie durch ihren entschlossenen Willen erreichen könnte. In demselben Maße wurde sie mißtrauischer gegen jede Selbstkritik aus ihren eigenen Reihen. So gerieten Marx und Engels, die mit klarem und kühlem Blick den wirklichen Hergang der Dinge beobachteten, in immer schrofferen Gegensatz zur Emigration. Aber wie hätte die Stimme der Logik und Vernunft den Sturm der Leidenschaften in einer mehr und mehr verzweifelnden Masse |212| bändigen können! Sie vermochte es so wenig, daß der allgemeine Taumel auch in den Londoner Kreis des Kommunistenbundes eindrang und seine Zentralbehörde innerlich zerrüttete.

In ihrer Sitzung vom 15. September 1850 kam es zur offenen Spaltung. Sechs Mitglieder standen gegen vier: Marx und Engels, dann Bauer, Eccarius, Pfänder von der alten Garde und von dem jungen Nachwuchs Konrad Schramm gegen Willich, Schapper, Fränckel und Lehmann, unter denen nur einer vom alten Stamm war: Schapper, ein Urrevolutionär, wie Engels ihn wohl genannt hat, den die revolutionäre Leidenschaft fortriß, nachdem er die Greuel der Gegenrevolution ein Jahr lang aus nächster Nähe mit angesehen hatte und eben erst in England gelandet war.

In der entscheidenden Sitzung kennzeichnete Marx den Gegensatz mit den Worten: »An die Stelle der kritischen Anschauung setzt die Minorität eine dogmatische, an die Stelle der materialistischen eine idealistische. Statt der wirklichen Verhältnisse wird ihr der bloße Wille zum Triebrade der Revolution. Während wir den Arbeitern sagen: Ihr habt 15, 20, 50 Jahre Bürgerkriege und Völkerkämpfe durchzumachen, nicht nur um die Verhältnisse zu ändern, sondern um euch selbst zu ändern und zur politischen Herrschaft zu befähigen, sagt ihr im Gegenteil: ›wir müssen gleich zur Herrschaft kommen, oder wir können uns schlafen legen.‹ Während wir speziell die deutschen Arbeiter auf die unentwickelte Gestalt des deutschen Proletariats hinweisen, schmeichelt ihr aufs plumpste dem Nationalgefühl und dem Standesvorurteil der deutschen Handwerker, was allerdings populärer ist. Wie von den Demokraten das Wort Volk zu einem heiligen Wesen gemacht wird, so von euch das Wort Proletariat[9] Es kam zu heftigen Auseinandersetzungen, sogar zu einer - übrigens von Marx mißbilligten - Duellforderung Schramms an Willich, die bei Antwerpen ausgetragen wurde und zu einer leichten Verwundung Schramms führte. Aber eine Einigung der Geister erwies sich als unmöglich.

Die Mehrheit suchte den Bund zu retten, indem sie seine Leitung nach Köln verlegte; der Kreis Köln sollte eine neue Zentralbehörde wählen und an die Stelle des einen bisherigen Kreises London sollten zwei Kreise treten, die, von einander unabhängig, nur mit der gemeinsamen Zentralbehörde verkehrten. Der Kreis Köln ging darauf ein und wählte eine neue Zentralbehörde, aber die Minderheit weigerte sich, sie anzuerkennen. Sie besaß den stärkeren Anhang in dem Kreise London und namentlich in dem deutschen Arbeiterbildungsverein, aus dem Marx und seine näheren Freunde ausschieden. Willich und Schapper |213| stifteten einen Sonderbund, der sich alsbald in eine abenteuerliche Revolutionsspielerei verlor.

Umfassender als in der Sitzung vom 15. September begründeten Marx und Engels ihre Auffassung in dem fünften und sechsten Heft ihrer »Revue«, einem Doppelheft, womit sie im November 1850 ihr Dasein beschloß. Neben einer großen Abhandlung, in der Engels den Bauernkrieg von 1525 nach historisch-materialistischen Gesichtspunkten darstellte, enthielt es einen Aufsatz von Eccarius über die Schneiderei in London, den Marx mit dein frohen Rufe begrüßte: »Ehe das Proletariat seine Siege auf Barrikaden und in Schlachtlinien erficht, kündet es die Ankunft seiner Herrschaft durch eine Reihe intellektueller Siege an.«[10] Eccarius, selbst in einem der Londoner Schneidershops tätig, begriff das Erliegen des Handwerks vor der großen Industrie als geschichtlichen Fortschritt, während er gleichzeitig in den Ergebnissen und Leistungen der großen Industrie die von der Geschichte selbst hervorgebrachten und täglich sich neu erzeugenden realen Bedingungen der proletarischen Revolution erkannte. An dieser rein materialistischen Auffassung, die von keinen Gefühlsmucken gestört, der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Bewegung gegenübertrat, rühmte Marx den großen Fortschritt über die sentimentale, moralische und psychologische Kritik hinaus, wie sie Weitling und andere schriftstellernde Arbeiter gegen die bestehenden Zustände geltend gemacht hätten. Es war eine Frucht seiner ruhelosen Arbeit und die ihm willkommenste Frucht.

Das Schwergewicht dieses letzten Heftes aber lag in der ökonomisch-politischen Übersicht der Monate Mai bis Oktober. In einer umfassenden Untersuchung legten Marx und Engels die ökonomischen Ursachen der politischen Revolution und Gegenrevolution dar, wie jene aus einer schweren wirtschaftlichen Krise entstanden sei und diese ihre Wurzel in einem neuen Aufschwunge der Produktion habe. Sie kamen zu dem Ergebnis: »Bei dieser allgemeinen Prosperität, worin die Produktivkräfte der bürgerlichen Gesellschaft sich so üppig entwickeln, wie dies innerhalb der bürgerlichen Verhältnisse überhaupt möglich, ist, kann von einer wirklichen Revolution keine Rede sein. Eine solche Revolution ist nur in den Perioden möglich, wo diese beiden Faktoren, die modernen Produktivkräfte und die bürgerlichen Produktionsformen, miteinander in Widerspruch geraten. Die verschiedenen Zänkereien, in denen sich jetzt die Repräsentanten der einzelnen Fraktionen der kontinentalen Ordnungspartei ergehn und gegenseitig kompromittieren, weit entfernt zu neuen Revolutionen Anlaß zu geben, sind im Gegenteil nur möglich, weil die Grundlage der Verhältnisse momentan so sicher und, was die |214| Reaktion nicht weiß, so bürgerlich ist. Am ihr werden alle die bürgerliche Entwickelung aufhaltenden Reaktionsversuche ebensosehr abprallen wie alle sittliche Entrüstung und alle begeisterten Proklamationen der Demokraten. Eine neue Revolution ist nur möglich im Gefolge einer neuen Krisis. Sie ist aber auch ebenso sicher wie diese.«[11]

Dieser klaren und überzeugenden Darlegung ward dann zum Schluß der Übersicht der Aufruf eines europäischen Zentralkomitees gegenübergestellt, der von Mazzini, Ledru-Rollin, Darasz und Ruge unterzeichnet, alle Illusionen der Emigration auf knappem Raume zusammenfaßte, der das Scheitern der Revolution auf die ehrgeizige Eifersucht der einzelnen Führer und die feindlich entgegenstehenden Meinungen der verschiedenen Volkslehrer zurückführte und sein Glaubensbekenntnis ablegte in dem Glauben an die Freiheit, die Gleichheit, die Brüderlichkeit, an die Familie, die Gemeinde, den Staat, das Vaterland, kurzum an einen sozialen Zustand, der Gott und sein Gesetz zur Spitze und das Volk zur Basis habe.

Datiert ist diese Übersicht vom 1. November 1850. Mit ihr hatte das örtliche Zusammenwirken der Verfasser auf zwei Jahrzehnte ein Ende; Engels ging nach Manchester, um wieder als Kommis in die Großspinnerei Ermen & Engels einzutreten, während Marx in London blieb, um sich mit voller Kraft seiner wissenschaftlichen Arbeit zu widmen.

4. Flüchtlingsleben

Wie diese Novembertage fast genau in die Hälfte seines Lebens fallen, so erscheinen sie nicht bloß äußerlich als eine bedeutsame Wendung des Lebenswerks, das Marx vollbracht hat. Er selbst hatte eine lebhafte Empfindung davon, und in vielleicht noch höherem Grade hatte sie Engels.

»Man sieht mehr und mehr ein«, schrieb er im Februar 1851 an Marx, »daß die Emigration ein Institut ist, worin jeder notwendig ein Narr, ein Esel und ein gemeiner Schurke wird, der sich nicht ganz von ihr zurückzieht und dem die Stellung des unabhängigen Schriftstellers, der auch nach der sogenannten revolutionären Partei den Teufel fragt, nicht genügt.« Und darauf antwortete Marx: »Mir gefällt sehr die öffentliche, authentische Isolation, worin wir zwei, Du und ich, uns jetzt befinden. Sie entspricht ganz unsrer Stellung und unsern Prinzipien. Das System wechselseitiger Konzessionen, aus Anstand geduldeter Halbheiten |215|*, und die Pflicht, vor dem Publikum seinen Teil Lächerlichkeit in der Partei mit all diesen Eseln zu nehmen, das hat jetzt aufgehört.« Und abermals Engels: »Wir haben jetzt endlich wieder einmal - seit langer Zeit zum erstenmal - Gelegenheit, zu zeigen, daß wir keine Popularität, keinen support von irgendeiner Partei irgendwelches Landes brauchen und daß unsre Position von dergleichen Lumpereien total unabhängig ist. Wir sind von jetzt an nur noch für uns selbst verantwortlich ... Wir können uns übrigens im Grund nicht einmal sehr beklagen, daß die petits grands hommes uns scheuen; haben wir nicht seit soundsoviel Jahren getan, als wären Krethi und Plethi unsre Partei, wo wir gar keine Partei hatten und wo die Leute, die wir als zu unsrer Partei gehörig rechneten, wenigstens offiziell, ... auch nicht die Anfangsgründe unsrer Sachen verstanden?« Man braucht die »Narren« und »Schurken« nicht auf die Goldwaage zu legen und kann auch sonst manches von diesen leidenschaftlichen Äußerungen abziehen: soviel bleibt sicherlich, daß Marx und Engels mit Recht einen rettenden Entschluß darin sahen, sich mit scharfem Schnitt von den unfruchtbaren Streitereien der Emigration zu trennen und, wie Engels sich ausdrückte, in »gewisser Einsamkeit« wissenschaftlich zu forschen, bis die Menschen und die Zeiten kamen, die ihre Sachen verstanden.

Nur vollzog sich der Schnitt weder so scharf noch so schnell noch so lief, wie es dem rückblickenden Beobachter wohl erscheinen mag. In den Briefen, die Engels und Marx während der nächsten Jahre wechselten, fanden die Kämpfe mit der Emigration immer noch ein allzu vielstimmiges Echo. Das ergab sich schon aus den unausgesetzten Reibungen zwischen den beiden Fraktionen, in die sich der Bund der Kommunisten gespalten hatte. Auch beabsichtigten die beiden Freunde keineswegs, auf alle Beteiligung an den politischen Kämpfen zu verzichten, indem sie sich nicht mehr in die Krakeele der Emigration mischten. Wenn sie schon ihre Mitarbeit an den chartistischen Organen nicht aufgaben, so gedachten sie es nicht einmal an dem Untergange der »Neuen Rheinischen Revue« bewenden zu lassen.

Der Verleger Schabelitz in Basel wollte ihre Fortsetzung übernehmen, doch ist nichts daraus geworden; mit Hermann Becker, der sich in Köln gehalten hatte und erst die »Westdeutsche Zeitung«, nach deren Unterdrückung aber einen kleinen Schriftenverlag leitete, verhandelte Marx über die Herausgabe seiner gesammelten Schriften und dann auch über eine Vierteljahrsschrift, die in Lüttich erscheinen sollte. Diese Pläne scheiterten an der Verhaftung Beckers im Mai 1851, doch ist von den »Gesammelten Aufsätzen, herausgegeben von Hermann Becker«, wenigstens |216|* ein Heft erschienen. Sie sollten zwei Bände von je 25 Bogen umfassen. Wer bis zum 15. Mai auf diese Bände subskribierte, erhielt sie in 10 Heften zu je 8 Silbergroschen; danach sollte der Ladenpreis von 1 Taler 15 Silbergroschen für jeden Band eintreten. Das erste Heft hatte raschen Absatz gefunden, doch muß die Angabe Weydemeyers, daß es in 15.000 Exemplaren verbreitet worden sei, auf irgendeinem Irrtum beruhen; schon der zehnte Teil dieser Ziffer würde nach den damaligen Verhältnissen einen sehr beträchtlichen Erfolg dargestellt haben.

Bei diesen Plänen spielte für Marx auch die »gebieterische Notwendigkeit einer Erwerbsarbeit« mit. Er lebte in den kümmerlichsten Verhältnissen. Im November 1849 wurde ihm das vierte Kind geboren, ein Söhnchen Guido. Die Mutter nährte das Kind selbst, worüber sie schrieb: »Der arme kleine Engel trank mir so viel Sorgen und stillen Kummer ab, daß er beständig kränkelte, Tag und Nacht in heftigen Schmerzen lag. Seit er auf der Welt ist, hat er noch keine Nacht geschlafen, höchstens zwei bis drei Stunden.« Das arme Kind starb ein Jahr nach seiner Geburt.

Aus ihrer ersten Wohnung in Chelsea wurde die Familie in brutaler Weise exmittiert, da sie die Miete zwar der Vermieterin, aber diese nicht dem Landlord gezahlt hatte. Mit Mühe und Not gewann sie ein neues Unterkommen in einem deutschen Hotel in Leicester Street, Leicester Square, von wo sie bald nach der Deanstreet 28, Soho Square, übersiedelte. Hier fand sie für ein halbes Dutzend Jahre in zwei Stübchen eine bleibende Statt.

Aber die Not war damit nicht gebannt. Sie stieg höher und höher; Ende Oktober 1850 schrieb Marx an Weydemeyer in Frankfurt a.M., dieser möge die in dem dortigen Pfandhause versetzten Silbersachen einlösen und verkaufen; nur ein Kinderbesteck, das der kleinen Jenny gehöre, solle unter allen Umständen gerettet werden. »Meine Lage ist jetzt so, daß ich unter allen Umständen Geld beitreiben muß, selbst um fortarbeiten zu können.« In eben diesen Tagen siedelte Engels nach Manchester über, um sich dem »hündischen Kommerz« zu ergeben, sicherlich schon in der Absicht, dadurch vor allem dem Freunde zu helfen.

Sonst machten sich freilich die Freunde rar in der Not. »Was mich wirklich bis ins Innerste vernichtet und mein Herz bluten macht«, schrieb Frau Marx 1850 an Weydemeyer, »das ist, daß mein Mann so viel Kleinliches durchzumachen hat, daß ihm mit so wenigem zu helfen gewesen wäre, und daß er, der so vielen gern und freudig geholfen hat, hier so hilflos stand. Glauben Sie nicht, lieber Herr Weydemeyer, daß wir an irgend jemand Ansprüche machen. Das einzige, was mein Mann |217| wohl von denen verlangen konnte, die manchen Gedanken, manche Erhebung, manchen Halt an ihm hatten, war, bei seiner ›Revue‹ mehr geschäftliche Energie, mehr Teilnahme zu entwickeln. Das bin ich so stolz und kühn zu behaupten. Das Wenige war man ihm schuldig. Ich glaube, es war dabei niemand betrogen. Das schmerzt mich, aber mein Mann denkt anders. Er hat noch nie, selbst in den schrecklichsten Momenten, die Sicherheit der Zukunft, selbst nicht den heitersten Humor verloren und war ganz zufrieden, wenn er mich heiter sah und unsere lieblichen Kinder ihr liebes Mütterchen umschmeichelten.« Und wie sie um ihn sorgte, wenn die Freunde schwiegen, so sorgte er um sie, wenn die Feinde nur allzu laut lärmten.

Ebenfalls an Weydemeyer schrieb Marx im August 1851: »Du kannst Dir denken, daß meine Lage sehr trüb ist. Meine Frau geht unter, wenn es lange so fortdauert. Die beständigen Sorgen, der allerkleinlichste bürgerliche Kampf reiben sie auf. Und dazu noch die Infamien meiner Gegner, die noch nie auch nur versucht haben, mich sachlich anzugreifen, und sich für ihre Ohnmacht dadurch zu rächen suchen, daß sie mich bürgerlich verdächtigen und die unsagbarsten Infamien über mich verbreiten ... Natürlich, ich würde lachen über den ganzen Dreck; ich lasse mich dadurch auch keinen Augenblick in meiner Arbeit stören, aber Du begreifst, daß meine Frau, die leidend ist und in dem unerfreulichsten bürgerlichen Elend vom Morgen bis zum Abend sitzt und deren Nervensystem angegriffen ist, nicht dadurch erfrischt wird, daß jeden Tag dumme Zwischenträger ihr die Ausdünstungen der demokratischen Pestkloaken zuführen. Die Taktlosigkeit einzelner Leute ist darin oft kolossal.« Als einige Monate früher (im März) ein Töchterchen Franziska eingekehrt war, hatte Frau Marx trotz der leichten Entbindung schwer krank daniedergelegen, »mehr aus bürgerlichen als aus physischen Gründen«; nicht ein Pfennig war im Hause gewesen »und dabei hat man noch die Arbeiter exploitiert! [Mehring übersetzt: ausgebeutet] und strebt nach der Diktatur!«, schrieb Marx in bitterster Stimmung an Engels.

Für seine Person fand Marx einen nie versiegenden Trost in der wissenschaftlichen Arbeit. Er saß von 9 Uhr morgens bis abends 7 Uhr auf dem Britischen Museum. Im Hinblick auf das leere Treiben der Kinkel und Willich meinte er: »Die demokratischen Simpletons, denen die Erleuchtung ›von oben‹ kommt, haben natürlich derartige Anstrengungen nicht nötig. Wofür sollten sie sich mit ökonomischem und historischem Material plagen, diese Sonntagskinder! Es ist ja alles so einfach, pflegte der wackere Willich mir zu sagen. Alles so einfach! In diesen |218| wüsten Köpfen. Höchst einfache Kerls!« Marx hoffte damals, binnen weniger Wochen mit seiner »Kritik der politischen Ökonomie« fertig zu werden, und begann schon nach einem Verleger zu suchen, ein Bemühen, das ihm wiederum nur eine Enttäuschung nach der andern einbrachte.

Im Mai 1851 kam dann ein treuer Freund nach London, auf den Marx sicher zählen konnte und mit dem er in den nächsten Jahren engsten Umgang pflog: Ferdinand Freiligrath. Aber auch ihm folgte eine Hiobspost auf dem Fuße. Am 10. Mai war der Schneider Nothjung auf einer Agitationsreise als Abgesandter des Kommunistenbundes in Leipzig verhaftet und durch die Papiere, die er bei sich trug, war die Existenz des Bundes der Polizei verraten worden. Alsbald wurden die Mitglieder der Zentralbehörde in Köln verhaftet; Freiligrath war gerade nur mit knapper Not, ohne Ahnung der ihm drohenden Gefahr, dem gleichen Schicksal entgangen. Bei seiner Ankunft in London rissen sich die verschiedenen Fraktiönchen der deutschen Emigration um den berühmten Dichter, aber Freiligrath erklärte, er halte sich nur zu Marx und dessen engstem Kreise. So lehnte er auch die Beteiligung an einer Versammlung ab, die am 14. Juli 1851 stattfinden und noch einmal den Versuch machen sollte, die deutsche Emigration unter einen Hut zu bringen. Der Versuch scheiterte wie alle früheren und rief nur neuen Zwist hervor. Am 20. Juli wurde der »Agitationsverein« unter der geistigen Leitung Ruges, am 27. Juli der »Emigrationsklub« unter der geistigen Leitung Kinkels gestiftet. Beide Vereine führten alsbald eine wütende Fehde gegeneinander, namentlich auch in der deutsch-amerikanischen Presse.

Marx hatte natürlich nur beißenden Spott übrig für diesen »Froschmäuslerkrieg«, dessen Häuptlinge ihm, ihrer ganzen Denkweise nach, so ziemlich gleich zuwider waren. Die Versuche Ruges, im Jahre 1848 »die Vernunft der Ereignisse zu redigieren«, waren in der »Neuen Rheinischen Zeitung« mit einer Art künstlerischer Vorliebe behandelt worden, doch fehlte es auch nicht an gröberem Geschütz gegen »Arnold Winkelried Ruge«, den »pommerschen Denker«, dessen Schriften »die Gosse« seien, worin »aller Phrasenunrat und alle Widersprüche der deutschen Demokratie zusammenflössen«.[12] Bei aller politischen Konfusion Ruges war er immerhin ein anderer Mann als Kinkel, der seit seiner Flucht aus dem Spandauer Zuchthause in London den interessanten Löwen zu spielen versuchte, »bald für die Kneipe, bald für den Salon«, wie Freiligrath spottete. Für Marx hatte er im Augenblick gleichwohl ein näheres Interesse, da sich Willich mit Kinkel verbündete für den höheren Schwindel einer neuen, auf Aktien zu gründenden Revolution. Am 14. September 1851 landete Kinkel in New York mit der Mission, geachtete |219|* Flüchtlinge als Bürgen einer deutschen Nationalanleihe zu gewinnen »im Betrage von zwei Millionen Dollars zur Beförderung der bevorstehenden republikanischen Revolution« und Sammlung eines vorläufigen Fonds von 20.000 Talern. Allerdings war Kossuth zuerst auf den genialen Gedanken verfallen, mit dem revolutionären Klingelbeutel über den großen Teich zu fahren. Aber auf kleinerem Fuße betrieb Kinkel das Geschäft nicht minder eifrig und unbedenklich; der Meister wie der Schüler predigten in den Nordstaaten gegen und in den Südstaaten für die Sklaverei.

Gegenüber diesen Possenspielen gewann Marx ernstere Beziehungen zur Neuen Welt. In seiner wachsenden Bedrängnis - »es ist fast impossible [Mehring übersetzt: unmöglich], so fortzuleben«, schrieb er am 31. Juli an Engels - wollte er eben, zusammen mit Wilhelm Wolff, eine Lithographische Korrespondenz für amerikanische Zeitungen herausgeben, als er wenige Tage darauf von der »New-York Daily Tribune«, der verbreitetsten Zeitung in Nordamerika, die Aufforderung zu regelmäßiger Mitarbeit erhielt, durch ihren Herausgeber Dana, den er aus seiner Kölner Zeit kannte. Da er die englische Sprache noch nicht geläufig genug handhabte, um in ihr zu schreiben, so sprang zunächst Engels für ihn ein und schrieb eine Reihe von Aufsätzen über die deutsche Revolution und Gegenrevolution.[13] Marx selbst aber konnte gleich darauf eine deutsche Schrift auf amerikanischem Boden veröffentlichen.

5. »Der achtzehnte Brumaire«

Josef Weydemeyer, der alte Freund von Brüssel, hatte die Revolutionsjahre als Redakteur eines demokratischen Blattes in Frankfurt a.M. tapfer durchkämpft. Indessen war dies Blatt von der immer frecher auftretenden Gegenrevolution unterdrückt worden, und seit der polizeilichen Entdeckung des Kommunistenbundes, zu dessen eifrigsten Mitgliedern Weydemeyer gehörte, waren die Spürhunde auf seiner Fährte.

Anfangs verbarg er sich »in einer stillen Kneipe in Sachsenhausen«; er wollte den Sturm vorübergehen lassen und derweil eine populäre Nationalökonomie für das Volk schreiben, aber die Luft wurde immer schwüler und »der Teufel mag das Herumlungern und Verborgenhalten auf die Dauer ertragen«. Als Gatte und Vater von zwei kleinen Kindern sah er keine Aussicht, sich in der Schweiz oder in London durchzuschlagen; so entschloß er sich, nach Amerika auszuwandern.

|220| Marx und Engels verloren den treuen Mann ungern. Vergebens mühte Marx sein Gehirn mit Plänen ab, ihm eine Stelle als Ingenieur, Eisenbahnvermesser oder dergleichen zu verschaffen; »denn einmal drüben, wer bürgt denn dafür, daß Du Dich nicht nach dem far west [Mehring übersetzt: fernen Westen] verlierst. Und wir haben so wenige Kräfte und müssen so ökonomisch mit unseren Kapazitäten umgehen.« Indessen wenn es einmal nicht anders ging, so hatte es auch seine Vorteile, einen tüchtigen Vertreter der kommunistischen Sache in der Metropole der Neuen Welt zu wissen. »Ein solider Bursche wie er hat uns in New York gerade gefehlt, und am Ende ist New York auch nicht aus der Welt und bei W[eydemeyer] ist man sicher, daß er le cas échéant [Mehring übersetzt: im nötigen Falle] doch gleich bei der Hand ist«, meinte Engels. So gaben sie ihren Segen zu dem Plane Weydemeyers, der am 29. September von Havre absegelte und nach einer stürmischen Überfahrt von ziemlich 40 Tagen in New York eintraf.

Marx hatte ihm schon am 31. Oktober einen Brief nachgesandt, worin er ihm vorschlug, sich als Buchhändler aufzutun und die besten Sachen aus der »Neuen Rheinischen Zeitung« und deren »Revue« als besondere Schriften herauszugeben. Er war nun sofort Feuer und Flamme, als Weydemeyer, unter etlichen Flüchen über die Krämerwirtschaft, die einem nirgendwo in ekelhafterer Nacktheit entgegentrete als in der Neuen Welt, die Meldung sandte, er hoffe schon zum Anfang Januar ein Wochenblatt unter dem Titel der Revolution herauszugeben, und um schleunige Einsendung von Beiträgen bat. Marx beeilte sich, alle kommunistischen Federn anzuspannen, Engels vor allem, dann Freiligrath, von dem Weydemeyer besonders ein Gedicht gewünscht hatte, Eccarius und Weerth, die beiden Wolff; er tadelte, daß Weydemeyer in der Ankündigung seiner Wochenschrift nicht auch Wilhelm Wolff genannt habe: »Keiner von uns allen hat seine populäre Manier. Er ist außerordentlich bescheiden. Man muß um so mehr allen Schein vermeiden, als halte man seine Mitwirkung für überflüssig.« Für sich selbst kündigte er - neben einer längeren Abhandlung über ein neues Werk Proudhons - namentlich einen Aufsatz über den »Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte« an, den bonapartistischen Staatsstreich vom 2. Dezember, der zur Zeit das große Ereignis der europäischen Politik war und unzählige Schriften hervorrief.

Berühmt davon wurden namentlich zwei und trugen ihren Verfassern reichen Lohn ein, deren Unterschied von der seinigen Marx später so erläutert hat: »Viktor Hugos [Mehring fügt ein: ›Napoleon le Petit‹] beschränkt sich auf bittere und geistreiche Invektive gegen den verantwortlichen |221|* Herausgeber des Staatsstreichs. Das Ereignis selbst erscheint bei ihm wie ein Blitz aus heitrer Luft. Er sieht darin nur die Gewalttat eines einzelnen Individuums. Er merkt nicht, daß er dies Individuum groß statt klein macht, indem er ihm eine persönliche Gewalt der Initiative zuschreibt, wie sie beispiellos in der Weltgeschichte dastehen würde. Proudhons [Mehring fügt ein: ›Coup d'État‹] seinerseits sucht den Staatsstreich als Resultat einer vorhergegangenen geschichtlichen Entwicklung darzustellen. Unterderhand verwandelt sich ihm jedoch die geschichtliche Konstruktion des Staatsstreichs in eine geschichtliche Apologie des Staatsstreichshelden. Er verfällt so in den Fehler unserer sogenannten objektiven Geschichtsschreiber. Ich weise dagegen nach, wie der Klassenkampf in Frankreich Umstände und Verhältnisse schuf, welche einer mittelmäßigen und grotesken Personage das Spiel der Heldenrolle ermöglichen.«[14] Wie ein Aschenbrödel erschien diese Schrift neben ihren glücklicheren Schwestern, aber während diese längst in Asche und Staub versunken sind, strahlt sie heute noch in unvergänglicher Frische.

Mit einer vorher kaum noch je erreichten Meisterschaft wußte Marx in dieser von Geist und Witz funkelnden Arbeit ein zeitgeschichtliches Ereignis an der Hand der materialistischen Geschichtsauffassung bis auf den tiefsten Grund zu erklären. Die Form ist so kostbar wie der Inhalt. Von dem prachtvollen Vergleich des Anfangs: »Bürgerliche Revolutionen, wie die des achtzehnten Jahrhunderts, stürmen rascher von Erfolg zu Erfolg, ihre dramatischen Effekte überbieten sich, Menschen und Dinge scheinen in Feuerbrillanten gefaßt, die Ekstase ist der Geist jedes Tages; aber sie sind kurzlebig, bald haben sie ihren Höhepunkt erreicht, und ein langer Katzenjammer erfaßt die Gesellschaft, ehe sie die Resultate ihrer Drang- und Sturmperiode nüchtern sich aneignen lernt. Proletarische Revolutionen dagegen, wie die des neunzehnten Jahrhunderts, kritisieren beständig sich selbst, unterbrechen sich fortwährend in ihrem eignen Lauf, kommen auf das scheinbar Vollbrachte zurück, um es wieder von neuem anzufangen, verhöhnen grausam-gründlich die Halbheiten, Schwächen und Erbärmlichkeiten ihrer ersten Versuche, scheinen ihren Gegner nur niederzuwerfen, damit er neue Kräfte aus der Erde sauge und sich riesenhafter ihnen gegenüber wieder aufrichte, schrecken stets von neuem zurück vor der unbestimmten Ungeheuerlichkeit ihrer eignen Zwecke, bis die Situation geschaffen ist, die jede Umkehr unmöglich macht, und die Verhältnisse selbst rufen: Hic Rhodus, hic salta! Hier ist die Rose, hier tanze!«[15] - bis zu dem sichern Prophetenworte des Schlusses: »Wenn der Kaisermantel endlich |222| auf die Schultern des Louis Bonaparte fällt, wird das eherne Standbild Napoleons von der Höhe der Vendômesäule herabstürzen.«[16]

Und unter welchen Umständen wurde diese herrliche Schrift verfaßt! Es war noch das wenigste, daß Weydemeyer seine Wochenschrift schon nach der ersten Nummer aus Mangel an Mitteln »stoppen« mußte; er schrieb darüber: »Die Arbeitslosigkeit, die seit dem Herbste hier in ungekanntem Maße herrscht, setzt allen neuen Unternehmungen bedeutende Hindernisse in den Weg. Und nun all die verschiedenen Manieren, in denen die Arbeiter seit einiger Zeit hier ausgebeutet werden: erst Kinkel, dann Kossuth, und die Mehrzahl ist eselhaft genug, für alle ihr feindliche Propaganda eher einen Dollar herzugeben, als für die Vertretung ihrer Interessen einen Cent. Der amerikanische Boden wirkt äußerst korrumpierend auf die Leute und gibt ihnen noch gleichzeitig die Anmaßung, als übersähen sie ihre Genossen in der Alten Welt bei weitem.« Doch verzweifelte Weydemeyer noch nicht daran, seine Wochenschrift als Monatsschrift zu neuem Leben zu erwecken; mit 200 lumpigen Dollars hoffte er, die Sache machen zu können.

Schwerer fiel ins Gewicht, daß Marx gleich nach dem 1. Januar erkrankte und nur unter großen Beschwerden arbeiten konnte; »seit Jahren hat mich nichts so niedergeworfen, wie diese verdammte Hämorrhoidalkrankheit, selbst die beste französische Blamage nicht«. Vor allem aber wurde er von dem »Gelddreck« gehetzt, der ihm jeden ruhigen Augenblick trübte; »seit einer Woche habe ich«, schrieb er am 27. Februar, »den angenehmen Punkt erreicht, wo ich aus Mangel an den im Pfandhaus untergebrachten Röcken nicht mehr ausgehe und aus Mangel an Kredit kein Fleisch mehr essen kann«. Endlich am 25. März konnte er den letzten Stoß Manuskript an Weydemeyer senden, zugleich mit einem Glückwunsch zur Geburt eines kleinen Revolutionärs, die Weydemeyer ihm angezeigt hatte: »Man kann in keiner famoseren Zeit auf die Welt kommen als heutzutage. Wenn man in sieben Tagen von London nach Kalkutta fährt, werden wir beide längst geköpft sein oder Wackelköpfe haben. Und Australien und Kalifornien und der Stille Ozean! Die neuen Weltbürger werden nicht mehr begreifen, wie klein unsere Welt war.« Im Hinblick auf die gewaltigen Aussichten der menschheitlichen Entwicklung bewahrte Marx das heitere Gleichgewicht der Seele mitten in allem persönlichen Ungemach.

Aber traurige Tage standen ihm unmittelbar bevor. In einem Schreiben vom 30. März muß ihm Weydemeyer jede Aussicht auf den Druck der Schrift genommen haben. Das Schreiben selbst hat sich nicht erhalten, wohl aber sein Echo: ein heftiger Brief Wilhelm Wolffs vom |223| 16. April, geschrieben am Tage, wo ein Kind von Marx begraben wurde, geschrieben »in allseitigem Pech und horribelster Bedrängnis fast aller Bekannten«, voll bitterer Vorwürfe für Weydemeyer, der auch nicht auf Rosen gebettet war und immer sein Bestes tat.

Es waren furchtbare Ostern für Marx und seine Familie. Das Kind, das sie verloren, war das ein Jahr zuvor geborene Töchterchen; auf einem Tagebuchblatt der Mutter fanden sich die ergreifenden Worte: »Ostern 1852 erkrankte unsere arme kleine Franziska an einer schweren Bronchitis. Drei Tage rang das arme Kind mit dem Tode. Es litt so viel. Sein kleiner entseelter Körper ruhte in dem kleinen hinteren Stübchen, wir alle wanderten zusammen in das vordere, und wie die Nacht heranrückte, betteten wir uns auf die Erde. Da lagen die drei lebenden Kinder mit uns, und wir weinten um den kleinen Engel, der kalt und erblichen neben uns ruhte. Der Tod des lieben Kindes fiel in die Zeit unserer bittersten Armut. Da lief ich zu einem französischen Flüchtling, der in der Nähe wohnte und der uns kurz vorher besucht hatte. Er gab mir gleich mit der freundlichsten Teilnahme zwei Pfund Sterling. Mit ihnen wurde der kleine Sarg bezahlt, in dem mein armes Kind nun in Frieden schlummert. Es hatte keine Wiege, als es zur Welt kam, und auch die letzte kleine Behausung war ihm lange versagt. Wie war uns, als es hinausgetragen wurde zu seiner letzten Ruhestätte.« Und an diesem schwarzen Tage traf der Unheilsbrief Weydemeyers ein. Marx hatte die größte Sorge um seine Frau, die seit zwei Jahren alle seine Unternehmungen fehlschlagen sah.

Jedoch in diesen unglücklichen Stunden schwamm schon seit einer Woche ein neuer Brief Weydemeyers auf dem Wasser, der, vom 9. April, datiert, also begann: »Eine unerwartete Hilfe hat schließlich die Schwierigkeiten beseitigt, die sich dem Druck der Broschüre entgegenstellten. Nach Absendung meines letzten Briefes traf ich einen von unsern Frankfurter Arbeitern, einen Schneider, der ebenfalls in diesem Sommer hierhergekommen war. Er stellte mir sofort seine ganzen Ersparnisse, vierzig Dollars, zur Verfügung.« Diesem Arbeiter ist es zu danken, daß damals, der »Achtzehnte Brumaire« das Licht der Öffentlichkeit erblickt hat. Weydemeyer nannte nicht einmal den Braven - und was wäre auch daran gelegen, ob er so oder so hieß? Was ihn leitete, war das Klassenbewußtsein des Proletariats, das nicht müde wird in hochherzigen Opfern für seine Emanzipation.

Der »Achtzehnte Brumaire« bildete nun das erste Heft der Monatsschrift »Revolution«, die Weydemeyer herauszugeben versuchte; das zweite und letzte Heft enthielt zwei poetische Sendschreiben Freiligraths |224|* an Weydemeyer, in denen mit prächtigem Humor namentlich die amerikanischen Bettelfahrten Kinkels gegeißelt wurden. Dann hatte die Sache ein Ende; einige Beiträge, die Engels geliefert hatte, waren auf der Fahrt verlorengegangen.

Von dem »Achtzehnten Brumaire« ließ Weydemeyer tausend Exemplare abziehen, von denen etwa der dritte Teil nach Europa, wenn auch nicht in den europäischen Buchhandel gelangte; diese Exemplare wurden von Parteifreunden in England und namentlich am Rhein vertrieben. Auch »radikale« Buchhändler waren nicht zu bewegen, den Vertrieb einer so »zeitwidrigen« Schrift zu übernehmen und ebensowenig konnte eine englische Übersetzung, die Pieper entwarf und Engels glättete, an den Mann gebracht werden.

Wenn aber die Not um Verleger für Marx noch gesteigert werden konnte, so geschah es dadurch, daß dem bonapartistischen Staatsstreich der Kölner Kommunistenprozeß folgte.

6. Der Kölner Kommunistenprozeß

Seit den Verhaftungen im Mai 1851 hatte Marx den Lauf der Untersuchung mit reger Teilnahme verfolgt, doch da sie alle Augenblicke stockte, aus Mangel an »objektivem Tatbestand für die Anklage«, wie sogar der Anklagesenat des Kölner Appellhofes feststellte, so war zunächst wenig zu tun. Den elf Angeklagten war nichts nachzuweisen als die Teilnahme an einer geheimen Propagandagesellschaft, und darüber verhängte der Code pénal keine Strafe.

Aber nach dem Willen des Königs sollte die »kostbare Persönlichkeit« des Stieber ihr »Probestück« machen und dem preußischen Publikum das lange und gerecht ersehnte Schauspiel eines entdeckten und (vor allem) bestraften Komplotts geben, und Stieber war ein zu guter Patriot, um nicht dem Willen seines angestammten Herrn und Königs gerecht zu werden. Er begann in würdiger Weise mit einem Einbruchsdiebstahl, indem er durch eines seiner Werkzeuge den Schreibtisch eines gewissen Oswald Dietz erbrechen ließ, der Schriftführer in dem Sonderbunde Willichs war. Mit richtigem Polizeiblick erkannte Stieber, daß ihm das unbesonnene und unvorsichtige Treiben dieses Bundes Aussichten auf das Gelingen seiner erhabenen Mission eröffnete, die er bei der »Partei Marx« vergebens suchen würde.

In der Tat gelang es ihm, mit Hilfe der gestohlenen Schriftstücke |225| sowie mit Hilfe allerlei Lockspitzeleien und sonstiger Polizeistreiche, wobei ihm die bonapartische Polizei am Vorabend des Staatsstreichs hilfreiche Hand leistete, ein sogenanntes »deutsch-französisches Kompott in Paris« zu fabrizieren, das im Februar 1852 zur Verurteilung einiger armer Teufel von deutschen Arbeitern zu längeren oder kürzeren Freiheitsstrafen durch die Pariser Geschworenen führte. Aber was durch alle Stieberschen Künste nicht hergestellt werden konnte, war irgendein Zusammenhang mit den Kölner Angeklagten; gegen sie ergab sich aus dem »deutsch-französischen Komplott« nicht einmal der Schatten eines Beweises.

Vielmehr wurde der Gegensatz zwischen der »Partei Marx« und der »Partei Willich-Schapper« dadurch nur geschärft. Im Frühjahr und Sommer 1852 kam es zu verstärkten Reibungen, zumal da Willich nach wie vor gemeinsame Sache mit Kinkel machte, dessen Rückkehr aus Amerika auch den sonstigen Flüchtlingshader wieder in helleren Flammen auflodern ließ. Es war nicht gelungen, die 20.000 Taler aufzubringen, die als Grundstock der revolutionären Nationalanleihe dienen sollten, sondern nur etwa die Hälfte davon, und was damit begonnen werden sollte, wurde eine Frage, über die sich die demokratischen Flüchtlinge die Köpfe nicht nur zerbrachen, sondern auch schon zerschlugen. Schließlich wurden 1.000 Pfund Sterling - der Rest war in Reisekosten und sonstigen Spesen draufgegangen - in der Westminsterbank als Handgeld für die erste provisorische Regierung niedergelegt. Für diesen Zweck haben sie zwar nie gedient, aber der ganze Unfug hatte immerhin das leidlich versöhnende Ende, daß diese Gelder fünfzehn Jahre später geholfen haben, der Presse der deutschen Sozialdemokratie in ihren Anfängen über manche Schwierigkeiten fortzuhelfen.

Derweil der Hader über diesen Nibelungenhort noch tobte, haben Marx und Engels die kämpfenden Helden in einigen Federzeichnungen konterfeit, die leider nicht auf die Nachwelt gekommen sind. Sie wurden dazu veranlaßt durch den ungarischen Obersten Banya, der sich bei ihnen durch ein eigenhändig von Kossuth ausgefertigtes Patent als Polizeipräsident der ungarischen Emigration beglaubigt hatte. Tatsächlich war Banya ein Allerweltspitzel, der sich als solcher gerade bei diesem Anlaß entpuppte, indem er das ihm von Marx für einen Berliner Buchhändler anvertraute Manuskript an die preußische Regierung auslieferte. Marx nagelte den Patron sofort durch eine von ihm unterzeichnete Denunziation in der »New-Yorker Criminalzeitung« fest, doch sein Manuskript blieb verloren und ist bis auf diesen Tag verschollen.[17] Hatte die preußische Regierung es etwa zu erlangen gesucht, um damit |226| Material für den Kölner Prozeß zu gewinnen, so ist ihrer Liebe Müh' umsonst gewesen.

In ihrer Verzweiflung, Beweismaterial gegen die Angeklagten aufzutreiben, hatte sie die öffentliche Verhandlung des Prozesses von Assise zu Assise verschoben und dadurch die Spannung des verehrlichen Publikums aufs höchste gesteigert, bis sie sich im Oktober 1852 endlich entschließen mußte, den Vorhang über dem Spektakelstücke aufzuziehen. Da nun mit allen krampfhaften Meineiden des Polizeigesindels nicht bewiesen werden konnte, daß die Angeklagten etwas mit dem »deutsch-französischen Komplott« zu tun hatten, das heißt mit einem Komplott, das von polizeilichen Lockspitzeln während ihrer Untersuchungshaft in einer Organisation angestiftet worden war, mit der sie in heller Feindschaft gelebt hatten, so rückte Stieber endlich mit dem »Originalprotokollbuch der Partei Marx« heraus, einer Reihe fortlaufender Protokolle über die Verhandlungen, in denen Marx und seine Gesinnungsgenossen ihre ruchlosen Weltumstürzungspläne erörtert haben sollten. Das Buch war eine infame Fälschung, die in London unter der Leitung des Polizeileutnants Greif durch die Lockspitzel Charles Fleury und Wilhelm Hirsch zusammengeschustert worden war. Es trug die Spuren der Fälschung schon äußerlich an der Stirn, ganz abgesehen von dem blödsinnigen Inhalt, aber Stieber rechnete mit dem bürgerlichen Stumpfsinn der sorgfältig ausgesiebten Geschworenen und der strengen Überwachung der Post, womit man jede Aufklärung von London her abschneiden zu können hoffte.

Der nichtswürdige Plan scheiterte jedoch an der Energie und Umsicht, womit Marx ihm zu begegnen wußte, so wenig er für einen aufreibenden und wochenlangen Kampf gerüstet war. Am 8. September hatte er an Engels geschrieben: »Meine Frau ist krank, Jennychen ist krank, Lenchen hat eine Art Nervenfieber. Den Doktor kann und konnte ich nicht rufen, weil ich kein Geld für Medizin habe. Seit acht bis zehn Tagen habe ich die Familie mit Brot und Kartoffeln durchgefüttert, von denen es noch fraglich ist, ob ich sie heute auftreiben kann ... Artikel für Dana schrieb ich nicht, weil ich nicht den Penny hatte, um Zeitungen lesen zu gehn ... Das Beste und Wünschenswerteste, was passieren könnte, wäre, wenn mich die landlady zum Haus hinauswürfe. Ich wäre dann wenigstens die Summe von 22 £ St. quitt. Aber so viel Gefälligkeit ist ihr kaum zuzutrauen. Dazu Bäcker, Milchmann, Teekerl, greengrocer [Mehring übersetzt: Gemüsehändler], alte Metzgerschuld noch. Wie soll ich mit all dem Teufelsdreck fertig werden? Endlich, in den letzten acht bis zehn Tagen, habe ich einige Schillinge und Pence, was |227| mir das Fatalste ist, aber es war nötig, um nicht zu verrecken, von Knoten [Mehring übersetzt: Arbeitern] gepumpt.« In dieser verzweifelten Lage mußte er den Kampf mit übermächtigen Gegnern aufnehmen, und im Kampf vergaß er, wie auch seine tapfere Frau, die häusliche Sorge.

Noch war der Sieg nicht entschieden, als Frau Marx an einen amerikanischen Freund schrieb: »Von hier aus mußten sämtliche Beweise der Fälschung beigebracht werden, mein Mann hatte also den ganzen Tag bis in die Nacht hinein zu arbeiten. Dann mußten sämtliche Sachen, sechs- bis achtmal abgeschrieben, auf den verschiedensten Wegen nach Deutschland spediert werden, über Frankfurt, Paris usw., da alle Briefe an meinen Mann, sowie alle Briefe von hier nach Köln erbrochen und unterschlagen werden. Das Ganze ist jetzt ein Kampf zwischen der Polizei einerseits und meinem Manne andererseits, dem man alles, selbst die Leitung des Prozesses, in die Schuhe schiebt. - Entschuldigen Sie mein konfuses Schreiben, aber ich habe auch etwas in der Intrigue mitgewirkt und abgeschrieben, daß mir die Finger brennen. Daher das Durcheinander. Eben kommen von Weerth und Engels ganze Packe von Kaufmannsadressen und kaufmännischen Scheinbriefen an, um die Aktenstücke usw. sicher zu befördern. Bei uns ist jetzt ein ganzes Büro etabliert. Zwei, drei schreiben, andere laufen, die dritten schrapen die Pennies zusammen, damit die Schreiber fortexistieren und Beweise des unerhörtesten Skandals gegen die ganze offizielle Welt beibringen können. Dazwischen singen und pfeifen meine drei fidelen Kinder und werden oft hart angerannt von ihrem Herrn Papa. Das ist ein Treiben.«

Marx siegte in diesem Kampfe; die Fälschung Stiebers wurde noch vor den Assisen aufgedeckt, und der Staatsprokurator selbst mußte das »unselige Buch« als Beweismittel preisgeben. Aber der Sieg wurde zum Verhängnis für den größeren Teil der Angeklagten. Die fünfwöchigen Verhandlungen hatten ein solches Übermaß polizeilicher, von den höchsten Behörden des preußischen Staats geförderter Schandtaten aufgedeckt, daß die völlige Freisprechung aller Angeklagten diesen Staat vor aller Welt gebrandmarkt haben würde. Ehe sie es darauf ankommen ließen, vergewaltigten die Geschworenen lieber ihre Ehre und ihr Gewissen und verurteilten 7 von den 11 Angeklagten wegen versuchten Hochverrats: den Zigarrenarbeiter Röser, den Schriftsteller Bürgers, den Schneidergesellen Nothjung zu 6, den Arbeiter Reiff, den Chemiker Otto, den ehemaligen Referendar Becker zu 5 und den Schneidergesellen Leßner zu 3 Jahren Festungshaft. Freigesprochen wurden der Kommis Ehrhardt und die Ärzte Daniels, Jacoby und Klein. Doch wurde |228| einer von den Freigesprochenen am härtesten von allen getroffen: Daniels starb wenige Jahre später an der Schwindsucht, die er sich in der Zellenhaft der anderthalbjährigen Untersuchung zugezogen hatte, tief betrauert von Marx, dem Frau Daniels in einem erschütternden Briefe die letzten Grüße ihres Gatten sandte.

Die anderen Opfer dieses schändlichen Prozesses haben ihn lange überlebt und sich zum Teil in die bürgerliche Welt zurückgefunden, wie Bürgers, der es zum fortschrittlichen Reichstagsabgeordneten brachte, und Becker, der Oberbürgermeister von Köln und Mitglied des preußischen Herrenhauses wurde, um seiner hochpatriotischen Gesinnung willen bei Hofe und der Regierung wohl angesehen. Von den Verurteilten, die treu zur Fahne hielten, sind Nothjung und Röser noch in den Anfängen der neuerwachenden Arbeiterbewegung tätig gewesen, und Leßner hat lange Marx und Engels überlebt, zu deren treuesten Gefährten er im Exil gehörte.

Nach dem Kölner Prozesse löste sich der Bund der Kommunisten auf, und ihm folgte bald der Sonderbund Willich-Schapper. Willich wanderte nach Amerika aus, wo er sich als General der Nordstaaten in dem Sezessionskriege verdienten Ruhm erworben hat, und Schapper kehrte reumütig zu den alten Genossen zurück.

Marx aber schritt zur moralischen Stäupung des Systems, das vor den Kölner Assisen einen schimpflichen Sieg erfochten hatte. Er verfaßte die »Enthüllungen über den Kölner Kommunisten-Prozeß«, die er in der Schweiz und wenn möglich auch in Amerika erscheinen lassen wollte. Am 7. Dezember schrieb er amerikanischen Freunden: »Ihr werdet den Humor der Broschüre zu schätzen wissen, wenn Ihr erwägt, daß ihr Verfasser durch Mangel an hinreichender Hinterer- und Fußbedeckung so gut wie interniert ist und außerdem wirklich widrige Misere über seine Familie jeden Augenblick hereinbrechen zu sehen bedroht war und ist. Der Prozeß brachte mich auch hierfür in die Patsche, indem ich fünf Wochen, statt fürs Brot zu arbeiten, für die Partei gegen die Regierungsmachinationen arbeiten mußte. Außerdem hat er mir deutsche Buchhändler, mit denen ich hoffte, wegen meiner Ökonomie abzuschließen, total abspenstig gemacht.« Am 11. Dezember aber schrieb Schabelitz' Sohn, der den Verlag übernommen hatte, aus Basel an Marx, er lese bereits den ersten Korrekturbogen. »Ich bin überzeugt, daß die Broschüre ungeheures Aufsehen machen wird, denn sie ist ein Meisterwerk.« Schabelitz wollte 2.000 Exemplare abziehen und den Preis des Exemplars auf 10 Silbergroschen festsetzen, in der Annahme, daß jedenfalls ein Teil der Auflage beschlagnahmt werden würde.

|229| Leider wurde die ganze Auflage beschlagnahmt, als sie aus dem badischen Grenzdorfe, wo sie sechs Wochen gelagert hatte, ins Innere Deutschlands verschickt werden sollte. Am 10. März meldete Marx die Hiobspost an Engels mit den bitteren Worten: »Soll einem unter solchen Umständen nicht die Lust zum Schreiben vergehn? Immer zu arbeiten pour le roi de Prusse!« Wie die Sache ausgekommen war, ließ sich nicht mehr feststellen; der Argwohn, den Marx anfänglich gegen den Verleger hegte, erwies sich bald als ungerecht. Schabelitz wollte sogar 500 Exemplare, die er zurückbehalten hatte, noch in der Schweiz verbreiten, aber daraus scheint nicht viel geworden zu sein, und für Marx hatte die Sache noch den bitteren Nachgeschmack, daß ein Vierteljahr später zwar nicht Schabelitz selbst, aber dessen Sozius Amberger von ihm den Ersatz der Druckkosten in Höhe von 424 Franken beanspruchte.

Was in der Schweiz mißlungen war, gelang dann wenigstens in Amerika, wo freilich das Erscheinen der »Enthüllungen« die preußische Regierung nicht sehr zu beunruhigen brauchte. Die »New England Zeitung« in Boston druckte sie ab, und Engels ließ auf seine Kosten 440 Sonderabzüge herstellen, die mit Lassalles Hilfe in der Rheinprovinz verbreitet werden sollten. Frau Marx korrespondierte deshalb mit Lassalle, der eifrig genug war, doch läßt sich aus diesem Briefwechsel nicht feststellen, ob der erstrebte Zweck wirklich erreicht worden ist.

Ein lebhafteres Echo fand die Schrift in der deutsch-amerikanischen Presse, wo namentlich Willich gegen sie mobilmachte, was Marx wieder zu einer kleinen Schrift gegen Willich veranlaßte, die gegen Ende des Jahres 1853 unter dem Titel »Der Ritter vom edelmütigen Bewußtsein«[18] erschien. Sie der Vergangenheit zu entreißen, der sie längst anheimgefallen ist, lohnt sich heute kaum. Wie immer in solchen Kämpfen, so ist damals hüben und drüben gesündigt worden, und als Sieger in der Sache hat Marx gern auf den Triumph über den Besiegten verzichtet. Schon im Jahre 1860 erklärte er von den ersten Jahren der Emigration, ihre glänzendste Verteidigung sei ein Vergleich ihrer Geschichte mit der gleichzeitigen Geschichte der Regierungen und der bürgerlichen Gesellschaft; einige wenige Personen ausgenommen, könne ihr nichts vorgeworfen werden als Illusionen, die durch die Zeitverhältnisse mehr oder weniger berechtigt waren, und Narrheiten, die aus den außerordentlichen Umständen, worin sie sich unerwartet gestellt fand, notwendig hervorwuchsen.

Und als Marx im Jahre 1875 eine zweite Auflage der »Enthüllungen« |230| veranstaltete, schwankte er einen Augenblick, ob er den Abschnitt über die Fraktion Willich-Schapper nicht streichen solle. Er ließ ihn zwar stehen, aber nur, weil ihm bei näherem Erwägen jede Verstümmelung des Textes als Fälschung eines historischen Dokuments erschien, und fügte hinzu: »Der gewaltsame Niederschlag einer Revolution läßt in den Köpfen ihrer Mitspieler, namentlich der vom heimischen Schauplatz ins Exil geschleuderten, eine Erschütterung zurück, welche selbst tüchtige Persönlichkeiten für kürzere oder längere Zeit sozusagen unzurechnungsfähig macht. Sie können sich nicht in den Gang der Geschichte finden, sie wollen nicht einsehen, daß sich die Form der Bewegung verändert hat. Daher Konspirations- und Revolutionsspielerei, gleich kompromittierlich für sie selbst und die Sache, in deren Dienst sie stehen; daher auch die Fehlgriffe Schappers und Willichs. Willich hat im nordamerikanischen Bürgerkrieg gezeigt, daß er mehr als ein Phantast ist, und Schapper, lebenslang Vorkämpfer der Arbeiterbewegung, erkannte und bekannte, bald nach Ende des Kölner Prozesses, seine augenblickliche Verirrung. Viele Jahre später, auf seinem Sterbebett, einen Tag vor seinem Tode, sprach er mir noch mit beißender Ironie von jener Zeit der ›Flüchtlingstölpelei‹. Andererseits erklären die Umstände, in denen die ›Enthüllungen‹ verfaßt wurden, die Bitterkeit des Angriffs auf die unfreiwilligen Helfershelfer des gemeinsamen Feindes. In Augenblicken der Krise wird Kopflosigkeit zum Verbrechen an der Partei, das öffentliche Sühne herausfordert.«[19] Goldne Worte, zumal in Tagen, wo die Pflege des »guten Tons« hoch über die Wahrung der Prinzipienklarheit gestellt wird.

War die Schlacht geschlagen und der Sieg erfochten, so war Marx am wenigsten der Mann kleinlichen Nachtragens. Er gab mehr zu als er zuzugeben brauchte, wenn er im Jahre 1860 gegenüber unwirschen Bemerkungen Freiligraths über die »zweideutigen und verworfenen Elemente«, die sich in den Bund gedrängt hätten, an seinem Teil einräumte: »Daß Dreck aufgeworfen wird in Stürmen, daß keine revolutionäre Zeit nach Rosenöl riecht, daß hie und da selbst allerlei Unrat an einen anfliegt - ist sicher. Aut, aut [Mehring übersetzt: Entweder, oder].« Aber er durfte mit Recht hinzufügen: »Übrigens wenn man die ungeheuren Anstrengungen der ganzen offiziellen Welt gegen uns bedenkt, die, um uns zu ruinieren, den Code pénal nicht etwa anstreifte, sondern tief durchwatete; wenn man das Lästermaul der ›Demokratie der Dummheit‹ bedenkt, die unserer Partei nie verzeihen konnte, mehr Verstand und Charakter zu haben als sie selbst; wenn man die gleichzeitige Geschichte aller andren Parteien kennt; und wenn man sich endlich fragt, |231| was denn nun tatsächlich gegen die ganze Partei vorgebracht werden kann, kommt man zum Schluß, daß sie in diesem neunzehnten Jahrhundert durch ihre Reinheit ausgezeichnet dasteht.«

Indem der Bund der Kommunisten sich auflöste, zerrissen die letzten Fäden, die Marx mit dem öffentlichen Leben Deutschlands verknüpften. Das Exil, »die Heimat der Guten«, wurde ihm von nun an zur zweiten Heimat.


[1] Karl Marx: Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 7, S. 41/42. <=

[2] Friedrich Engels: Die deutsche Reichsverfassungskampagne, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 7, S. 109-197. <=

[3] Karl Marx/Friedrich Engels: Revue, Januar/Februar 1950, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 7, S. 220/221. <=

[4] Karl Marx: Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 7, S. 85. <=

[5] Karl Marx/Friedrich Engels: Ansprache der Zentralbehörde an den Bund vom März 1850, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 7, S. 245. <=

[6] Karl Marx/Friedrich Engels: Ansprache der Zentralbehörde an den Bund vom März 1650, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 7, S. 246/247. <=

[7] Karl Marx/Friedrich Engels: Ansprache der Zentralbehörde an den Bund vom März 1850, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 7, S. 248. <=

[8] Karl Marx/Friedrich Engels: Ansprache der Zentralbehörde an den Bund vom März 1850, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 7, S. 249. <=

[9] Karl Marx: Enthüllungen über den Kommunistenprozeß zu Köln, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 8, S. 412. <=

[10] Karl Marx/Friedrich Engels [Redaktionelle Anmerkung zu dem Artikel »Die Schneiderei in London oder der Kampf des großen und des kleinen Capitals« von J. G. Eccarius], in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 7, S. 416. <=

[11] Karl Marx/Friedrich Engels: Revue, Mai bis Oktober 1850, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 7, S. 440. <=

[12] Karl Marx/Friedrich Engels: Revue, Mai bis Oktober 1850, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 7, S. 440. <=

[13] Friedrich Engels: Revolution und Konterrevolution in Deutschland, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 8, S. 3-108. <=

[14] Karl Marx: Vorwort [zur Zweiten Ausgabe (1869) »Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte«], in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 16, S. 358/359. <=

[15] Karl Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 8, S. 118. <=

[16] Karl Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 8, S. 207. <=

[17] Karl Marx/Friedrich Engels: Die großen Männer des Exils, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 8, S. 233-333. <=

[18] Karl Marx: Der Ritter vom edelmütigen Bewußtsein, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 9, S. 489-518. <=

[19] Karl Marx: Nachwort [zu »Enthüllungen über den Kommunisten-Prozeß zu Köln«], in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 18, S. 568/569. <=


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