MLWerke | | | 7. Kapitel | | | Inhalt | | | 9. Kapitel | | | Franz Mehring |
Seitenzahlen nach: Franz Mehring - Gesammelte Schriften, Band 3. Berlin/DDR,
1960, S. 232-244.
1. Korrektur
Erstellt am 30.10.1999
|232| Hatte Marx in England eine zweite Heimat gefunden, so darf man den Begriff der Heimat freilich nicht zu weit ausdehnen. Er ist niemals wegen seiner revolutionären Agitation, die sich nicht zuletzt gegen den englischen Staat richtete, auf englischem Boden behelligt worden. Die Regierung des »habgierigen, neidischen Krämervolks« besaß ein größeres Maß von Selbstachtung und Selbstbewußtsein, als diejenigen festländischen Regierungen besitzen, die in der Angst des bösen Gewissens mit Spießen und Stangen der Polizei hinter ihren Gegnern herjagen, auch wenn diese sich nur auf dem Gebiete der Diskussion und der Propaganda bewegen.
Allein in anderem und tieferem Sinne hat Marx keine Heimat mehr gefunden, seitdem er mit genialem Blick der bürgerlichen Gesellschaft in Herz und Nieren geschaut hatte. Das Schicksal des Genies in dieser Gesellschaft ist ein weitläufiges Kapitel, über das die verschiedensten Meinungen laut geworden sind; von dem harmlosen Gottvertrauen des Philisters, das jedem Genie den endgültigen Sieg prophezeit, bis zu Fausts melancholischem Worte:
Die historische Methode, die Marx entwickelt hat, gestattet auch in dieser Frage tiefere Einblicke in den Zusammenhang der Dinge. Der Philister prophezeit jedem Genie den endgültigen Sieg, eben weil er ein Philister ist; wenn aber ein Genie einmal nicht gekreuzigt oder verbrannt wird, so nur, weil es sich am letzten Ende bescheidet, ein Philister zu werden. Ohne den Zopf, der ihnen hinten hing, wären die Goethe und die Hegel nie anerkannte Größen der bürgerlichen Gesellschaft geworden.
Die bürgerliche Gesellschaft, die in dieser Hinsicht nur die ausgeprägteste Form aller Klassengesellschaft ist, mag sonst Verdienste haben, |233| so viele sie will, aber eine gastliche Heimat für das Genie ist sie nie gewesen. Sie kann es auch nicht sein, denn gerade darin besteht das innerste Wesen des Genies, den schöpferischen Drang einer ursprünglichen Menschenkraft ins Spiel zu setzen gegen das überlieferte Herkommen und an den Schranken zu rütteln, innerhalb deren die Klassengesellschaft nur bestehen kann. Der einsame Friedhof auf der Insel Sylt, der die unbekannten Toten beherbergt, die das Meer an den Strand spült, trägt die fromme Inschrift: Es ist das Kreuz auf Golgatha Heimat für Heimatlose. Darin ist unbewußt, aber deshalb nicht weniger treffend das Los des Genies in der Klassengesellschaft gezeichnet: heimatlos wie es in ihr ist, findet es seine Heimat nur am Kreuze auf Golgatha.
Es sei denn, daß sich das Genie so oder so mit der Klassengesellschaft abfindet. Wenn es sich in den Dienst der bürgerlichen Gesellschaft stellte, um die feudale Gesellschaft zu stürzen, so gewann es scheinbar eine unermeßliche Macht, doch zerrann diese Macht in dem Augenblick, wo es sich selbstherrlich gebärden wollte: immerhin durfte es auf dem Felsen von St. Helena enden. Oder das Genie hüllte sich in den Bratenrock des Spießbürgers und mochte es dann zum großherzoglich sächsischen Staatsminister in Weimar oder zum königlich preußischen Professor in Berlin bringen. Aber wehe dem Genie, das sich in stolzer Unabhängigkeit und Unnahbarkeit der bürgerlichen Gesellschaft gegenüberstellt, das aus ihrem innersten Gefüge ihren nahenden Untergang zu deuten weiß, das die Waffen schmiedet, die ihr den Todesstoß versetzen werden. Für solch Genie hat die bürgerliche Gesellschaft nur Foltern und Qualen, die äußerlich weniger roh erscheinen mögen, aber innerlich grausamer sind, als das Marterholz der antiken und der Scheiterhaufen der mittelalterlichen Gesellschaft war.
Von den genialen Menschen des neunzehnten Jahrhunderts hat niemand schwerer unter diesem Lose gelitten als der genialste von allen, als Karl Marx. Schon im ersten Jahrzehnte seiner öffentlichen Wirksamkeit mußte er mit der alltäglichen Misere ringen, und bei seiner Übersiedelung nach London hatte ihn das Exil mit allen Schrecken empfangen, aber was man sein wahrhaft prometheisches Los nennen darf, begann doch erst, als er nun, nach mühseligem Aufstieg zur Höhe, in der Fülle seiner männlichen Kraft, jahre- und jahrzehntelang an jedem neuen Tage von der gemeinen Not des Lebens, von der niederziehenden Sorge um das tägliche Brot gepackt wurde. Bis zum Tage seines Todes ist es ihm nicht gelungen, sich eine noch so bescheidene Existenz auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaft zu sichern.
Dabei war er weit entfernt von dem, was der Philister in dem landläufig-liederlichen |234|* Sinn eine »geniale« Lebensführung zu nennen pflegt. Seiner Riesenkraft entsprach sein Riesenfleiß; die Überarbeit seiner Tage und Nächte begann schon früh, seine ursprünglich eisenfeste Gesundheit zu zerrütten. Er nannte die Arbeitsunfähigkeit das Todesurteil jedes Menschen, der kein Vieh sei, und es war ihm bitterer Ernst mit diesem Worte; als er einst mehrere Wochen schwer erkrankt war, schrieb er an Engels: »In dieser Zeit, wo ich ganz arbeitsunfähig, gelesen: Carpenters, Physiology, Lord dito, Kölliker, Gewebelehre, Spurzheim, Anatomie des Hirns- und Nervensystems, Schwann und Schleiden über die Zellenschmiere.« Und bei aller Unersättlichkeit des Dranges zu forschen blieb Marx sich immer dessen bewußt, was er schon als Jüngling gesagt hatte, daß der Schriftsteller nicht arbeiten dürfe, um zu erwerben, aber daß er erwerben müsse, um zu arbeiten; »die gebieterische Notwendigkeit einer Erwerbsarbeit« hat Marx niemals verkannt.
Aber alle seine Anstrengungen scheiterten an dem Argwohn oder dem Hasse oder im günstigsten Falle der Angst einer feindlichen Welt. Auch solche deutschen Verleger, die sich sonst etwas auf ihre Unabhängigkeit zugute zu tun pflegten, scheuten vor dem Namen des verrufenen Demagogen zurück. Alle deutschen Parteien verleumdeten ihn gleichmäßig, und wo immer die reinen Umrisse seiner Gestalt unter den künstlichen Nebeln hervorschimmerten, tat die boshafte Heimtücke des systematischen Totschweigens ihr infames Werk. So lange und so völlig ist sonst nie der größte Denker einer Nation ihrem Gesichtskreise entschwunden wie in diesem Falle.
Die einzige Verbindung, durch die Marx sich in London halbwegs sicheren Boden unter den Füßen hätte schaffen können, war seine Tätigkeit für die »New-York Daily Tribune«, die von 1851 ab ein reichliches Jahrzehnt währte. Die »Tribune« war mit ihren 200.000 Abonnenten damals das gelesenste und reichste Blatt der Vereinigten Staaten, und durch ihre Agitation für den amerikanischen Fourierismus hatte sie sich immerhin über die platte Geldmacherei eines rein kapitalistischen Unternehmens erhoben. An und für sich waren die Bedingungen, unter denen Marx für sie arbeiten sollte, auch nicht gerade ungünstig; er sollte wöchentlich je zwei Artikel schreiben und jeder Artikel sollte mit je 2 Pfund Sterling (40 Mark) honoriert werden. Das wäre ein Jahreseinkommen von 4.000 Mark gewesen, wodurch sich Marx auch in London notdürftig hätte über Wasser halten können. Freiligrath, der sich immer doch noch rühmte, das »Beefsteak des Exils« zu essen, bezog für seine kaufmännische Tätigkeit anfangs auch nicht mehr.
Selbstverständlich handelte es sich in keiner Weise um die Frage, ob |235| das Honorar, das Marx von dem amerikanischen Blatte bezog, dem literarischen und wissenschaftlichen Wert seiner Beiträge irgend entsprochen hätte. Ein kapitalistisches Zeitungsunternehmen rechnet nur mit Marktpreisen, und das ist in der bürgerlichen Gesellschaft sein gutes Recht. Mehr hat auch Marx nicht beansprucht, aber was er selbst in der bürgerlichen Gesellschaft hätte beanspruchen können, war die Innehaltung des einmal abgeschlossenen Arbeitsvertrags und vielleicht auch einige Achtung vor seiner Arbeit. Daran ließ es die »New-York Daily Tribune« und ihr Herausgeber aber ganz und gar fehlen. Dana war zwar theoretisch ein Fourierist, aber praktisch ein hartgesottener Yankee; sein Sozialismus laufe auf die lausigste Kleinbürgerprellsucht hinaus, meinte Engels in einem zornigen Augenblick. Obgleich Dana sehr gut wußte, was er an einem Mitarbeiter wie Marx besaß und damit nicht wenig vor seinen Abonnenten renommierte, wenn er nicht gar die Briefe, die Marx ihm schrieb, als eigene redaktionelle Arbeit eskamotierte, was zum berechtigten Ärger ihres Verfassers nur allzuoft geschah, so ließ er es doch an keiner Rücksichtslosigkeit fehlen, deren sich ein kapitalistischer Ausbeuter gegen eine von ihm ausgebeutete Arbeitskraft erdreisten zu dürfen glaubt.
Nicht nur, daß er bei schlechterem Geschäftsgang Marx sofort auf Halbsold setzte, so zahlte er überhaupt nur die Artikel, die er wirklich druckte, und er war nicht blöde, alles unter den Tisch zu werfen, was ihm gerade nicht in seinen Kram paßte. Es kam vor, daß drei, daß sechs Wochen lang die Aufsätze, die Marx sandte, in den Papierkorb wanderten. Freilich machten es die paar deutschen Blätter, in denen Marx ein vorübergehendes Unterkommen fand, wie die Wiener Presse, nicht besser. So konnte er mit Recht sagen, bei seiner Arbeit für Zeitungen käme er schlechter fort als der erste beste Zeilenreißer.
Schon im Jahre 1853 sehnte er sich nach ein paar Monaten Einsamkeit, um wissenschaftlich, zu arbeiten: »Es scheint, ich soll nicht dazu kommen. Das beständige Zeitungsschmieren ennuyiert [Mehring übersetzt: langweilt] mich. Es nimmt mir viel Zeit weg, zersplittert und ist doch nichts. Unabhängig soviel man will - man ist an das Blatt und dessen Publikum gebunden, speziell wenn man Barzahlung erhält wie ich. Rein wissenschaftliche Arbeiten sind etwas total anderes.« Aus einer ganz anderen Tonart noch klang es, als Marx einige Jahre länger unter Danas mildem Szepter gearbeitet hatte: »Es ist in der Tat ekelhaft, daß man verdammt ist, es als ein Glück zu betrachten, wenn ein solches Löschpapier einen mit in sein Boot aufnimmt. Knochen stampfen, mahlen und Suppe draus kochen wie die Paupers im Workhaus, darauf |236| reduziert sich die politische Arbeit, zu der man reichlich in solchem concern [Mehring übersetzt: Unternehmen] verdammt ist.« In der Kärglichkeit des Lebensunterhalts nicht nur, sondern namentlich auch in der völligen Unsicherheit der ganzen Existenz hat Marx das Los des modernen Proletariers geteilt.
Was man früher doch nur ganz im allgemeinen wußte, zeigen seine Briefe an Engels in der ergreifendsten Form; wie er einmal das Haus hüten mußte, weil er keinen Rock oder keinen Schuh für die Straße besaß, wie er ein andermal der Pfennige entbehrte, um sich Schreibpapier zu kaufen oder Zeitungen zu lesen, wie er ein drittes Mal nach ein paar Briefmarken jagte, um ein Manuskript an den Verleger senden zu können. Dazu der ewige Zank mit den Hökern und Krämern, denen er die notwendigsten Lebensmittel nicht zu zahlen vermochte, des Landlords zu geschweigen, der ihm alle Augenblicke den Pfänder ins Haus zu setzen drohte, und als ständige Zuflucht das Pfandhaus, dessen Wucherzinsen dann noch das letzte verschlangen, was die Schattengestalt der Sorge von der Schwelle seines Hauses hätte scheuchen können.
Und sie hockte nicht nur an der Schwelle, sondern saß mit an seinem Tische. Von früh auf an ein sorgloses Leben gewöhnt, wankte seine hochsinnige Frau wohl unter den Pfeilen und Schleudern eines wütenden Geschicks und wünschte sich mit ihren Kindern ins Grab. Es fehlt in seinen Briefen nicht an Spuren häuslicher Szenen, und er meinte gelegentlich, es gebe keine größere Eselei für Leute mit allgemeinen Strebungen als zu heiraten, und sich so an die kleinen Nöte des privaten Lebens zu verraten. Immer aber, wenn ihre Klagen ihn ungeduldig machten, entschuldigte und rechtfertigte er sie; sie habe ungleich schwerer als er an den unbeschreiblichen Demütigungen, Qualen und Schrecken zu tragen, die in ihrer Lage durchzumachen seien, zumal da ihr die Flucht in die Hallen der Wissenschaft verschlossen sei, die ihn doch immer wieder rettete. Ihren Kindern die unschuldigen Freuden der Jugend verkürzt zu sehen, traf beide Eltern gleich schwer.
So traurig dies Schicksal eines großen Geistes war, so erhob es sich doch zur tragischen Höhe erst dadurch, daß Marx die quälende Marter von Jahrzehnten freiwillig auf sich nahm und jede Versuchung abwies, sich in den Hafen eines bürgerlichen Berufs zu retten, den er mit allen Ehren hätte aufsuchen können. Was darüber zu sagen ist, sagte er einfach und schlicht, ohne alle hochtrabenden Worte: »Ich muß meinen Zweck durch dick und dünn verfolgen und darf der bürgerlichen Gesellschaft nicht erlauben, mich in eine money-making machine [Mehring übersetzt: geldmachende Maschine] zu verwandeln.« Diesen Prometheus |237|* schmiedeten nicht die Keile des Hephästos an den Felsen, sondern ein eherner Wille, der mit der Sicherheit einer Magnetnadel auf die höchsten Ziele der Menschheit wies. Sein ganzes Wesen ist biegsamer Stahl. Nichts bewundernswerter, als wenn er, in einem und demselben Briefe oft, scheinbar erdrückt von der kläglichsten Misere, mit wunderbarer Elastizität emporschnellt, um die schwierigsten Probleme mit der Seelenruhe eines Weisen zu erörtern, dem nicht die leiseste Sorge die sinnende Stirn furcht.
Aber freilich - empfunden hat Marx die Streiche, womit die bürgerliche Gesellschaft ihn verfolgte. Es wäre ein törichter Stoizismus, zu fragen: Was bedeuten solche Qualen, wie Marx sie erduldet hat, gerade für den Genius, der sein Recht doch nur von der Nachwelt empfängt? So geckenhaft jenes eitle Literatentum ist, das seinen Namen womöglich jeden Tag in der Zeitung gedruckt sehen will, so notwendig ist es für jede produktive Kraft, den nötigen Spielraum für ihre Entfaltung zu finden, und aus dem Echo, das sie erweckt, neue Kraft für neue Schöpfungen zu gewinnen. Marx war kein tugendstelziger Schwätzer, wie sie in schlechten Dramen und Romanen umgehen, sondern ein weltfreudiger Mensch, wie Lessing einer war, und so ist ihm die Stimmung nicht fremd geblieben, worin der sterbende Lessing an seinen ältesten Jugendfreund schrieb: »Ich glaube nicht, daß Sie mich als einen Menschen kennen, der nach Lobe heißhungrig ist. Aber die Kälte, mit der die Welt gewissen Leuten zu bezeugen pflegt, daß sie ihr auch gar nichts recht machen, ist, wenn nicht tötend, so doch erstarrend.« Es ist dieselbe Bitterkeit, womit Marx am Vorabend seines fünfzigsten Geburtstags schrieb: Ein halbes Jahrhundert auf dem Rücken und immer noch Pauper! So wünschte er sich einmal lieber hundert Klafter tief unter die Erde, als so fortzuvegetieren, oder der Schrei der Verzweiflung rang sich aus seinem Herzen, seinem ärgsten Feinde gönne er nicht durch den Morast zu waten, worin er seit acht Wochen sitze, mit der größten Wut dabei, daß sein Intellekt durch die Lumpereien kaputt gemacht und seine Arbeitskraft gebrochen werde.
Gewiß ist Marx deshalb kein »verdammt trübseliger Hund« geworden, wie er gelegentlich spottete, und insoweit mochte Engels mit Recht sagen, daß sein Freund niemals Trübsal geblasen habe. Aber wie sich Marx mit Vorliebe eine harte Natur nannte, so ist er doch in des Unglücks Esse härter und härter gehämmert worden. Der heitere Himmel, der sich über seinen Jugendarbeiten wölbte, bedeckte sich mehr und mehr mit schweren Gewitterwolken, aus denen seine Gedanken wie zündende Blitze fuhren, und seine Urteile über Feinde, und oft genug |238| auch Freunde, gewannen eine schneidende Schärfe, die nicht bloß schwache Seelen verletzen konnte.
Die ihn deshalb einen eisig kalten Demagogen schelten, sind nicht weniger - wenn auch freilich nicht mehr - auf dem Holzwege als die wackeren Unteroffiziersseelen, die in diesem großen Kämpfer nur eine blanke Puppe des Paradeplatzes erblicken.
Jedoch hatte Marx den Sieg seines Lebens nicht allein seiner gewaltigen Kraft zu danken. Nach allem menschlichen Ermessen wäre er endlich doch unterlegen, auf die eine oder die andere Weise, wenn ihm nicht in Engels ein Freund beschieden gewesen wäre, von dessen aufopfernder Treue man sich erst seit der Veröffentlichung ihres Briefwechsels ein zutreffendes Bild machen kann.
Ein Bild, das seinesgleichen nicht hat in aller überlieferten Geschichte. Es hat niemals an historischen Freundespaaren gefehlt, auch in der deutschen Geschichte nicht, deren Lebenswerk so eng verschmolzen ist, daß es sich nicht in ein Mein und Dein scheiden läßt, aber immer blieb ein spröder Rest des Eigenwillens oder des Eigensinns oder selbst nur ein geheimes Widerstreben, die eigene Persönlichkeit aufzugeben, die nach dem Worte des Dichters »das höchste Glück der Erdenkinder« ist. Luther sah in Melanchthon schließlich nur den schwachherzigen Gelehrten und Melanchthon in Luther schließlich nur den rohen Bauer, und man muß schon an stumpfen Sinnen leiden, um in dem Briefwechsel Goethes und Schillers nicht den geheimen Mißton zwischen dem großen Geheimderat und dem kleinen Hofrat zu hören. Der Freundschaft, die Marx und Engels verband, fehlte diese letzte Spur menschlicher Bedürftigkeit; je mehr sich ihr Denken und Schaffen verwob, um so mehr blieb doch jeder von ihnen ein ganzer Mann.
Schon im Äußern unterschieden sie sich. Engels, der blonde Germane, hoch aufgeschossen, mit englischen Manieren, wie ein Beobachter von ihm sagte: immer sorgsam gekleidet, straff zusammengenommen in der Disziplin nicht nur der Kaserne, sondern auch des Kontors; er wollte mit sechs Kommis einen Verwaltungszweig tausendmal einfacher und übersichtlicher einrichten als mit sechzig Regierungsräten, die nicht einmal leserlich schreiben könnten und einem alle Bücher versauten, so daß kein Teufel daraus klug werde: bei aller Respektabilität des Börsenmitgliedes |239|* von Manchester aber, in den Geschäften und Vergnügungen der englischen Bourgeoisie, ihren Fuchsjagden und ihren Weihnachtsschmäusen, der geistige Arbeiter und Kämpfer, der im Häuschen fern am Ende der Stadt seinen Schatz barg, ein irisches Volkskind, in dessen Armen er sich erholte, wenn er des Menschenpacks allzu müde wurde.
Dagegen Marx, stämmig, untersetzt, mit den funkelnden Augen und der ebenholzschwarzen Löwenmähne, die den semitischen Ursprung nicht verleugneten: lässig in seiner äußeren Haltung: ein geplagter Familienvater, der allem gesellschaftlichen Treiben der Weltstadt fern lebte: hingegeben aufreibender Geistesarbeit, die ihm kaum gestattete, ein schnelles Mittagsmahl einzunehmen, und bis tief in die Nacht auch seine Körperkraft verzehrte: ein rastloser Denker, dem das Denken der höchste Genuß war: darin der rechte Erbe eines Kant, eines Fichte und namentlich eines Hegel, dessen Wort er gern wiederholte: »Selbst der verbrecherische Gedanke eines Bösewichts ist erhabener und großartiger als die Wunder des Himmels«, nur daß sein Gedanke unablässig zur Tat drängte: unpraktisch in kleinen, aber praktisch in großen Dingen: viel zu unbeholfen, einen kleinen Haushalt zu ordnen, aber unvergleichlich in der Fähigkeit, ein Heer zu werben und zu führen, das eine Welt umwälzen soll.
Wenn anders der Stil der Mensch ist, so unterschieden sich beide auch als Schriftsteller. Jeder war in seiner Weise ein Meister der Sprache und jeder auch ein Sprachgenie, das viele Gebiete fremder Sprachen und selbst Dialekte beherrschte. Engels leistete darin noch mehr als Marx, aber wenn er in seiner Muttersprache schrieb, nahm er sich, selbst in seinen Briefen, geschweige denn in seinen Schriften, straff zusammen und hielt ihr Kleid von allen Fasern und Fäserchen des Auslandes frei, ohne deshalb den Schrullen der teutschtümelnden Sprachreiniger zu verfallen. Er schrieb leicht und licht, so durchsichtig und klar, daß man dem Strom seiner bewegten Rede stets bis auf den Grund blicken kann.
Marx schrieb lässiger zugleich und schwerer. In seinen jugendlichen Briefen ist, wie in den Jugendbriefen Heines, noch ein Ringen mit der Sprache deutlich zu spüren, und in den Briefen seiner reiferen Jahre, namentlich seit seinem Aufenthalt in England, kauderwelschte er deutsch, englisch und französisch arg durcheinander. Auch in seinen Schriften gibt es mehr Fremdwörter als gerade unvermeidlich sind, und es fehlt weder an Anglizismen noch an Gallizismen, aber er ist so sehr Meister der deutschen Sprache, daß er nicht ohne schwere Einbußen übersetzt werden kann. Als Engels ein Kapitel des Freundes in einer französischen Übersetzung las, an der Marx selbst mühsam gefeilt hatte, meinte er |240| gleichwohl, Kraft und Saft und Leben seien zum Teufel. Wenn Goethe einmal an Frau von Stein schrieb: »In Gleichnissen laufe ich mit Sancho Pansas Sprüchwörtern um die Wette«, so konnte Marx in der schlagenden Bildlichkeit der Sprache mit den größten »Gleichnismachern«, einem Lessing, einem Goethe, einem Hegel um die Wette laufen. Er hatte Lessings Wort begriffen, daß in einer vollkommenen Darstellung Begriff und Bild zusammengehören wie Mann und Weib, wofür ihn denn die Universitätsgelehrsamkeit, von dem Altmeister Wilhelm Roscher bis zum jüngsten Privatdozenten, gebührend abgestraft hat durch den niederschmetternden Vorwurf, er habe sich nur in ganz unbestimmter, »mit Bildern zusammengeflickter Weise« verständlich machen können. Marx erschöpfte die Fragen, die er behandelte, immer nur soweit, daß dem Leser das fruchtbarste Nachdenken übrigblieb; seine Rede ist ein Wellenspiel auf der purpurnen Tiefe des Meeres.
Engels hat in Marx stets den überlegenen Genius anerkannt; neben ihm wollte er immer nur die zweite Violine gespielt haben. Doch ist er niemals nur sein Ausleger und Helfer gewesen, sondern sein selbständiger Mitarbeiter, ein ihm nicht gleicher, aber ihm ebenbürtiger Geist. Wie Engels in den Anfängen ihrer Freundschaft auf einem entscheidenden Gebiete mehr gegeben als empfangen hat, so schrieb ihm Marx zwanzig Jahre später: »Du weißt, daß alles 1. bei mir spät kommt, und 2. ich immer in Deinen Fußstapfen nachfolge.« In seiner leichteren Rüstung bewegte Engels sich leichter, und wenn sein Blick scharf genug war, den entscheidenden Punkt einer Frage oder Lage zu erkennen, so drang er nicht tief genug, um sofort all die Wenn und Aber zu überblicken, mit denen auch die notwendigste Entscheidung bepackt ist. Dieser Mangel ist für den handelnden Menschen freilich ein großer Vorzug, und Marx faßte keinen politischen Entschluß, ohne sich vorher Rat bei Engels zu holen, der gleich den Nagel auf den Kopf zu treffen pflegte.
Es entsprach diesem Verhältnis, daß sich der Rat, den Marx auch in theoretischen Fragen von Engels erbat, nicht ebenso ausgiebig erwies, wie in politischen. Hier war Marx gewöhnlich schon im Vorsprunge. Und ganz harthörig war er gegen einen Rat, den ihm Engels oft erteilte, um ihn zur schnellen Beendigung seines wissenschaftlichen Hauptwerkes anzutreiben. »Sei endlich einmal etwas weniger gewissenhaft Deinen eignen Sachen gegenüber; es ist immer noch viel zu gut für das Lausepublikum. Daß das Ding geschrieben wird und erscheint, ist die Hauptsache; die Schwächen, die Dir auffallen, finden die Esel doch nicht heraus.« Dieser Rat war echter Engels, wie seine Mißachtung echter Marx war.
|241| Aus alledem erhellt, daß Engels für die publizistische Tagesarbeit besser gerüstet war als Marx; »ein wahres Universallexikon«, wie dieser ihn einem gemeinsamen Freunde schildert, »arbeitsfähig zu jeder Stunde des Tages und der Nacht, voll oder nüchtern, quick im Schreiben und begriffen wie der Teufel.« Es scheint auch, daß beide nach dem Eingehen der »Neuen Rheinischen Revue« im Herbst 1850 zunächst noch ein gemeinsames Unternehmen in London ins Auge gefaßt hatten; wenigstens schrieb Marx im Dezember 1853 an Engels: »Hätten wir - Du und ich - zur rechten Zeit in London das englische Korrespondenzgeschäft angefangen, so säßest Du nicht in Manchester, Kontorgequält, und ich nicht Schuldengequält.« Wenn Engels den Aussichten dieses »Geschäfts« die Kommisstelle in der väterlichen Firma vorzog, so ist es wohl aus Rücksicht auf die trostlose Lage geschehen, in der sich Marx befand, und im Hinblick auf bessere Zeiten, nicht aber schon in der Absicht, sich dauernd dem »verfluchten Kommerz« zu ergeben. Noch im Frühjahr 1854 hat Engels den Gedanken erwogen, zur schriftstellerischen Tätigkeit nach London zurückzukehren, aber allerdings zum letzten Male; um diese Zeit muß er den Entschluß gefaßt haben, dauernd das verhaßte Joch auf sich zu nehmen, nicht nur um dem Freunde zu helfen, sondern auch um der Partei ihre erste geistige Kraft zu erhalten. Nur unter dieser Begründung konnte Engels das Opfer bringen und Marx es annehmen; zum Anbieten wie zum Annehmen gehörte ein gleich großer Sinn.
Ehe Engels im Laufe der Jahre zum Teilhaber der Firma aufrückte, war er als einfacher Kommis auch nicht gerade auf Rosen gebettet, aber vom ersten Tage seiner Übersiedelung nach Manchester an hat er geholfen und ist niemals müde geworden zu helfen. Unaufhörlich wanderten die Ein-, die Fünf-, die Zehn-, später dann auch die Hundertpfundnoten nach London. Engels verlor niemals die Geduld, auch wenn sie von Marx und seiner Frau, deren haushälterischer Sinn nicht übermäßig beschieden gewesen zu sein scheint, gelegentlich auf eine härtere Probe gesetzt wurde, als notwendig gewesen wäre. Er schüttelte kaum den Kopf, als Marx einmal den Betrag eines Wechsels vergessen hatte, der auf ihn lief, und nun am Verfalltage unangenehm überrascht wurde. Oder wenn Frau Marx bei einer abermaligen Sanierung des Haushalts einen dicken Posten aus falscher Rücksicht verschwieg, um ihn von ihrem Wirtschaftsgeld allmählich abzusparen und so bei aller guten Absicht das alte Elend von neuem zu beginnen, so überließ Engels dem Freunde den etwas pharisäischen Genuß, über die »Narrheit der Weiber« zu schelten, die »offenbar stets der Vormundschaft bedürften«, und begnügte |242|* sich mit der gutmütigen Mahnung: Sorge nur dafür, daß so etwas in Zukunft nicht wieder vorkommt.
Jedoch nicht nur am Tage schanzte Engels für den Freund im Kontor und auf der Börse, sondern er opferte ihm auch zum großen Teil die Mußestunden des Abends bis tief in die Nacht hinein. Wenn es zunächst geschah, um für Marx, solange dieser die englische Sprache noch nicht für schriftstellerische Zwecke handhaben konnte, die Briefe für die »New-York Daily Tribune« zu verfassen oder zu übersetzen, so blieb es doch bei dieser stillen Mitarbeit, auch als ihr ursprünglicher Grund fortgefallen war.
Alles das erscheint aber doch nur geringfügig gegenüber dem größten Opfer, das Engels gebracht hat: dem Verzicht auf das Maß wissenschaftlicher Leistung, das ihm nach seiner unvergleichlichen Arbeitskraft und seinen reichen Fähigkeiten beschieden gewesen wäre. Auch hiervon bekommt man einen rechten Begriff doch erst aus dem Briefwechsel zwischen beiden Männern, selbst wenn man sich nur auf die sprach- und militärwissenschaftlichen Studien beschränkt, die Engels mit besonderer Vorliebe trieb, aus »alter Inklination« sowohl als auch aus den praktischen Bedürfnissen des proletarischen Emanzipationskampfes heraus. Denn so sehr ihm alles »Autodidaktentum« verhaßt - »es ist überall Unsinn«, meinte er verächtlich - und so gründlich seine Methode der wissenschaftlichen Arbeit war, so war er doch ebensowenig wie Marx ein bloßer Stubengelehrter, und jede neue Erkenntnis war ihm doppelt wertvoll, wenn sie sofort helfen konnte, die Ketten des Proletariats zu lüften.
So begann er mit dem Studium der slawischen Sprachen, aus der »Konsideration« heraus, daß »wenigstens einer von uns« bei der nächsten Haupt- und Staatsaktion die Sprache, die Geschichte, die Literatur, die sozialen Einrichtungen gerade derjenigen Nationen kenne, mit denen man sofort in Konflikt kommen werde. Die orientalischen Wirren führten ihn auf die orientalischen Sprachen; vor dem Arabischen schreckte er zurück mit seinen viertausend Wurzeln, aber »das Persische ist ein wahres Kinderspiel von einer Sprache«; in drei Wochen wollte er damit fertig sein. Dann kamen die germanischen Sprachen daran: »ich sitze jetzt tief im Ulfilas, ich mußte doch endlich einmal mit dem verdammten Gotischen fertig werden, das ich immer bloß so desultorisch trieb. Zu meiner Verwunderung finde ich, daß ich viel mehr weiß, als ich dachte; wenn ich noch ein Hilfsmittel bekomme, so denk' ich in vierzehn Tagen komplett fertig damit zu sein. Dann geht's ans Altnordische und Angelsächsische, mit denen ich auch immer so auf halbem Fuße gestanden. Bis |243| jetzt arbeite ich ohne Lexikon oder andre Hilfsmittel, bloß gotischen Text und den Grimm, der alte Kerl ist aber wirklich famos.« Als die schleswig-holsteinische Frage in den sechziger Jahren auftauchte, trieb Engels »etwas friesisch-englisch-jütisch-skandinavische Philologie und Archäologie«, beim neuen Aufflammen der irischen Frage »etwas Keltisch-Irisches« und so fort. Im Generalrat der Internationalen sind ihm später seine umfassenden Sprachkenntnisse trefflich zustatten gekommen; »Engels stottert in zwanzig Sprachen«, hieß es wohl, da er in Augenblicken erregten Sprechens leicht mit der Zunge anstieß.
So auch verdiente er sich den Spitznamen des »Generals« durch seine noch eifrigere und eindringlichere Beschäftigung mit den Kriegswissenschaften. Auch hier wurde eine »alte Inklination« durch die praktischen Bedürfnisse der revolutionären Politik genährt. Engels rechnete mit der »enormen Wichtigkeit, die die partie militaire bei der nächsten Bewegung bekommen müsse«. Mit den Offizieren, die sich in den Revolutionsjahren auf die Seite des Volkes geschlagen hatten, waren nicht die besten Erfahrungen gemacht worden. »Dies Soldatenpack«, meinte Engels, »hat einen unbegreiflich schmutzigen Korpsgeist. Sie hassen einander bis auf den Tod, beneiden sich gegenseitig wie Schuljungen die kleinste Auszeichnung, aber gegen die Leute vom Zivil sind sie alle einig.« Engels wollte es nun so weit bringen, daß er theoretisch einigermaßen mitsprechen könne, ohne sich zu sehr zu blamieren.
Er war kaum in Manchester warm geworden, als er »Militaria zu ochsen« begann. Er begann mit dem »Allerplattesten und Ordinärsten, was im Fähnrichs- und Leutnantsexamen gefordert und was ebendeswegen überall als bekannt vorausgesetzt wird«. Er studierte das gesamte Heerwesen bis in alle technischen Einzelheiten: Elementartaktik, Befestigungssystem von Vauban bis auf das moderne System der detachierten Forts, Brückenbau und Feldverschanzungen, Waffenkunde bis auf die verschiedene Konstruktion der Feldlafetten, das Verpflegungswesen der Lazarette und anderes mehr; endlich ging er zur allgemeinen Kriegsgeschichte über, wo er den Engländer Napier, den Franzosen Jomini und den Deutschen Clausewitz mit eindringendem Fleiß durcharbeitete.
Weit entfernt im Sinne einer seichten Aufklärung gegen die moralische Unvernunft der Kriege zu eifern, suchte Engels vielmehr ihre historische Vernunft zu erkennen, wodurch er mehr als einmal den gewaltigen Zorn der deklamierenden Demokratie erregt hat. Wenn einst ein Byron die Schalen glühenden Zorns über die beiden Heerführer ausgoß, die in der Schlacht bei Waterloo als Fahnenträger des feudalen |244| Europas dem Erben der Französischen Revolution den Todesstoß gegeben hatten, so fügte es ein bezeichnender Zufall, daß Engels in seinen Briefen an Marx von Blücher sowohl wie von Wellington historische Bildnisse entwarf, die in knappem Rahmen so klar und scharf umrissen sind, daß sie selbst bei dem heutigen Stande der Kriegswissenschaft schwerlich nur in einem Striche geändert zu werden brauchen.
Auch auf einem dritten Gebiet, auf dem Engels gern und viel arbeitete, auf dem Gebiete der Naturwissenschaften, ist es ihm nicht vergönnt gewesen, die letzte Hand an seine Forschungen in den Jahrzehnten zu legen, in denen er sich in kaufmännische Fron begab, um der wissenschaftlichen Arbeit eines Größeren freien Raum zu schaffen.
Alles das war auch ein tragisches Schicksal. Aber Engels hat darüber niemals gegreint; denn alle Sentimentalität war ihm so fremd wie seinem Freunde. Er hat es immer als das große Glück seines Lebens betrachtet, vierzig Jahre neben Marx zu stehen, auch um den Preis, daß dessen mächtigere Gestalt ihn überschattete. Er hat es nicht einmal als eine verspätete Genugtuung empfunden, daß er nach dem Tode des Freundes noch über ein Jahrzehnt der erste Mann der internationalen Arbeiterbewegung sein, unbestritten in ihr die erste Violine spielen durfte; er meinte im Gegenteil, ihm werde ein größeres Verdienst zugeschrieben, als ihm zukomme.
Indem jeder der beiden Männer völlig in der gemeinsamen Sache aufging und jeder von beiden ihr nicht dasselbe, aber ein gleich großes Opfer brachte, ohne jeden peinlichen Rest des Murrens oder des Prahlens, wurde ihre Freundschaft ein Bund, der in aller Geschichte seinesgleichen nicht gehabt hat.
Pfad: »../fm/fm03«
Verknüpfte Dateien: »../../css/format.css«
MLWerke | | | 7. Kapitel | | | Inhalt | | | 9. Kapitel | | | Franz Mehring |