MLWerke | 8. Kapitel | Inhalt | 10. Kapitel | Franz Mehring

Seitenzahlen nach: Franz Mehring - Gesammelte Schriften, Band 3. Berlin/DDR, 1960, S. 245-271.
1. Korrektur
Erstellt am 30.10.1999

Franz Mehring: Karl Marx - Geschichte seines Lebens

Neuntes Kapitel: Krimkrieg und Krise


1. Europäische Politik

|245| Etwa zur selben Zeit, Ende 1853, als Marx durch das kleine Pamphlet gegen Willich seinen Kampf mit der »demokratischen Emigrationsschwindelei und Revolutionsmacherei« abschloß, begann mit dem Krimkriege eine neue Periode der europäischen Politik, die für die nächsten Jahre in erster Reihe seine Aufmerksamkeit fesselte.

Was er darüber zu sagen hatte, ist vornehmlich in seinen Aufsätzen für die »New-York Daily Tribune« niedergelegt. So sehr ihn dies Blatt auf die Stufe eines gewöhnlichen Zeitungskorrespondenten herabzudrücken suchte, so durfte Marx mit Recht sagen, daß er sich mit »eigentlicher Zeitungskorrespondenz nur ausnahmsweise befaßt« habe. Er blieb nur sich selber treu, wenn er auch die literarische Erwerbsarbeit zu adeln wußte, indem er sie auf mühsamen Studien aufbaute und ihr dadurch einen dauernden Wert verlieh.

Diese Schätze sind zum großen Teil noch ungehoben, und es wird einige Mühe kosten, sie ans Tageslicht zu fördern. Indem die »New-York Daily Tribune« die Beiträge, die Marx ihr lieferte, sozusagen als Rohmaterial behandelte, sie nach ihrem Belieben dem Papierkorb überantwortete oder auch unter ihrer eigenen Flagge veröffentlichte und oft nur, wie Marx zornig sagte, den »Schund« unter seinem Namen wiedergab, wird sich Marxens ganze Arbeit für das amerikanische Blatt nicht mehr herstellen lassen, und soweit es noch möglich ist, wird es einer sorgsamen Prüfung bedürfen, um ihre Grenzen genau festzustellen.

Eine unentbehrliche Handhabe dafür ist erst seit verhältnismäßig kurzer Zeit durch die Veröffentlichung des Briefwechsels zwischen Engels und Marx gegeben. Aus ihm geht zum Beispiel hervor, daß die Artikelreihe über die deutsche Revolution und Gegenrevolution, als deren Verfasser Marx seit langem gegolten hat, überwiegend von Engels verfaßt worden ist, sowie daß dieser nicht nur die militärischen Aufsätze für die »New-York Daily Tribune« verfaßt hat, was längst bekannt war, sondern auch sonst in umfassender Weise für das Blatt mitgearbeitet |246|* hat. Außer der erwähnten Artikelreihe sind bisher die Aufsätze über die orientalische Frage aus den Spalten der »New-York Daily Tribune« gesammelt worden, aber diese Sammlung ist sowohl in dem, was sie enthält als auch in dem, was sie nicht enthält, noch viel anfechtbarer als die andere, bei der doch nur ein unrichtiger Verfasser vorausgesetzt worden ist.

Mit dieser kritischen Prüfung wäre aber nur der leichtere Teil der Arbeit getan. So hoch Marx die publizistische Tagesarbeit zu heben wußte, so konnte er sie doch nicht über sich selbst herausheben. Auch das größte Genie kann nicht zweimal in der Woche, just mit dem fälligen Dampfer am Dienstag oder Freitag, neue Entdeckungen machen oder neue Gedanken gebären. Dabei läuft immer, wie Engels einmal sagte, »reine Ärmelschüttelei und Aushelferei mit dem bloßen Gedächtnis« mitunter. Zudem ist die Tagesarbeit immer von Tagesnachrichten und Tagesstimmungen abhängig, von denen sie sich nicht einmal befreien darf, ohne langweilig und ledern zu werden. Was wären die vier starken Bände des Briefwechsels zwischen Engels und Marx ohne die hundert Widersprüche, in denen sich die großen Richtlinien ihres Denkens und Kämpfens entwickeln!

Die großen Richtlinien ihrer europäischen Politik, wie sie mit dem Krimkriege einsetzten, sind aber heute schon vollkommen klar, auch ohne das massenhafte Material, das noch in den Spalten der »New-York Daily Tribune« seiner Auferstehung harrt. Man kann sie im gewissen Sinne eine Umkehr nennen. Die Verfasser des »Kommunistischen Manifestes« richteten ihr Hauptaugenmerk auf Deutschland und so auch die »Neue Rheinische Zeitung«. Dann trat diese Zeitung begeistert für die Unabhängigkeitskämpfe der Polen, der Italiener, der Ungarn ein, und endlich verlangte sie den Krieg gegen Rußland als die starke Reserve der europäischen Gegenrevolution, was sie dann mehr und mehr zuspitzte in den Weltkrieg gegen England, mit dem erst die soziale Revolution aus dem Reiche der Utopie in das Reich der Wirklichkeit trete.

Die »englisch-russische Sklaverei«, die auf Europa laste, war nun der Punkt, an den Marx seine europäische Politik zur Zeit des Krimkrieges anknüpfte. Er begrüßte diesen Krieg, insoweit er das europäische Übergewicht einzudämmen versprach, das der Zarismus durch die siegreiche Gegenrevolution gewonnen hatte, aber er war nichts weniger als einverstanden mit der Art und Weise, wie die Westmächte gegen Rußland kämpften. Ebenso dachte Engels, der den Krimkrieg eine einzige kolossale Komödie der Irrungen nannte, bei der man sich jeden Augenblick frage: Wer ist hier der Geprellte? Beide sahen in dem Kriege, soweit |247| ihn Frankreich und namentlich England führten, nur einen Scheinkrieg, trotz der Million Menschenleben und der ungezählten Millionen, die er an Geld kostete.

Er war es sicherlich insofern, als weder der falsche Bonaparte noch Lord Palmerston, der englische Minister des Auswärtigen, den russischen Koloß in seinem Lebensnerv zu treffen gedachten. Sobald sie sicher waren, daß Österreich die russische Hauptmacht an der Westgrenze in Schach hielt, verlegten sie den Krieg nach der Krim, um sich in die Festung Sewastopol zu verbeißen, deren eine Hälfte sie nach Jahr und Tag glücklich erobert hatten. An diesem dürftigen Lorbeer mußten sie sich genügen lassen und schließlich von dem »besiegten« Rußland die Erlaubnis »erbitten«, ihre Truppen ungestört nach Hause zu verschiffen.

An dem falschen Bonaparte war es erklärlich genug, weshalb er den Zaren nicht zu einem Kampf auf Leben und Tod herauszufordern wagte, weniger an Palmerston, den die festländischen Regierungen als revolutionären »Feuerbrand« fürchteten und die festländischen Liberalen als das Muster eines konstitutionell-liberalen Ministers bewunderten. Marx löste das Rätsel, indem er die Blaubücher und Parlamentsverhandlungen aus der ersten Hälfte des Jahrhunderts, darüber hinaus dann aber auch eine Reihe diplomatischer, im Britischen Museum niedergelegter Berichte einer mühsamen Prüfung unterzog, um aus ihnen nachzuweisen, daß seit der Zeit Peters des Großen bis auf die Tage des Krimkrieges ein geheimes Zusammenwirken zwischen den Kabinetten von London und Petersburg stattgefunden habe und daß namentlich Palmerston ein feiles Werkzeug der zarischen Politik sei. Die Ergebnisse dieser Studien sind nicht unbestritten geblieben und werden auch heute noch bestritten, namentlich was Palmerston anbetrifft, dessen skrupellose Geschäftspolitik mit ihren Halbheiten und Widersprüchen Marx unzweifelhaft viel treffender beurteilt hat als die festländischen Regierungen und Liberalen, ohne daß sich daraus mit zwingender Notwendigkeit ergibt, daß Palmerston von Rußland gekauft gewesen sei. Aber wichtiger als die Frage, ob Marx diesen Bogen gelegentlich überspannt hat, ist die Tatsache, daß er ihn fortan stets gespannt hielt und als eine unerläßliche Aufgabe der Arbeiterklasse betrachtete, die Mysterien der internationalen Staatskunst zu durchdringen und die diplomatischen Streiche der Regierungen zu verhindern oder, wenn ihr das noch nicht möglich sein sollte, zu denunzieren.[1]

Vor allem kam es ihm auf den unversöhnlichen Kampf gegen die barbarische Macht an, deren Haupt er in Petersburg sitzen und deren Hände er in allen europäischen Kabinetten wühlen sah. Er sah in dem |248| Zarentum nicht nur die große Hauptfestung der europäischen Reaktion, deren bloße passive Existenz eine beständige Drohung und Gefahr sei, sondern auch den Hauptfeind, der durch seine unaufhörlichen Einmischungen in die Angelegenheiten des Westens die normale Entwicklung hemme und störe, zu dem Zwecke, sich geographische Stellungen zu erobern, die ihm die Herrschaft über Europa sichern sollten und damit die Befreiung des europäischen Proletariats unmöglich machen würden. Das entscheidende Gewicht, das Marx auf diesen Gesichtspunkt legte, hat von nun an in bedeutsamer Weise seine Arbeiterpolitik beeinflußt, viel stärker als schon in den Jahren der Revolution.

Spann Marx damit nur einen Faden weiter, den er schon in der »Neuen Rheinischen Zeitung« angeknüpft hatte, so traten für ihn und ebenso für Engels die Nationen, für deren Unabhängigkeitskämpfe sich dieses Blatt begeistert hatte, sehr in den Hintergrund. Nicht als ob beide je aufgehört hätten, die Unabhängigkeit Polens, Ungarns und Italiens sowohl als ein Recht dieser Länder, wie auch als das Interesse Deutschlands und Europas zu vertreten. Aber schon im Jahre 1851 gab Engels den alten Lieblingen den trockenen Laufpaß: »Den Italienern, Polen und Ungarn werde ich deutlich genug sagen, daß sie in allen modernen Fragen das Maul zu halten haben.« Einige Monate darauf sagte er den Polen, daß sie eine aufgelöste Nation seien, nur so lange noch brauchbar als Mittel, bis Rußland selbst in die Revolution hineingerissen sei. Die Polen hätten in der Geschichte nie etwas anderes getan, als tapfere krakeelsüchtige Dummheit gespielt. Selbst gegen Rußland hätten sie nie etwas von historischer Bedeutung getan, während Rußland wirklich progressiv gegen den Osten sei. Die russische Herrschaft mit all ihrer Gemeinheit, all ihrem slawischen Schmutz, sei zivilisierend für das Schwarze und Kaspische Meer und Zentralasien, für Baschkiren und Tataren, und Rußland habe viel mehr Bildungselemente und besonders industrielle Elemente in sich aufgenommen als das seiner ganzen Natur nach chevaleresk-bärenhäuternde Polen. Sätze, die freilich stark von der Leidenschaft der Emigrantenkämpfe gefärbt sind. Später hat Engels wieder viel milder über Polen geurteilt und noch in seinen letzten Lebensjahren anerkannt, daß es wenigstens zweimal die europäische Zivilisation gerettet habe: durch seine Erhebung in den Jahren 1792 bis 1793 und durch seine Revolution von 1830 bis 1831.

Marx selbst aber schrieb dem gefeierten Helden der italienischen Revolution ins Stammbuch: »Mazzini kennt nur die Städte mit ihrem liberalen Adel und ihren aufgeklärten Bürgern. Die materiellen Bedürfnisse des italienischen Landvolkes - so ausgesogen und systematisch |249| entnervt und verdummt wie das irische - liegen natürlich unter dem Phrasenhimmel seiner kosmopolitisch-neokatholisch-ideologischen Manifeste. Aber allerdings gehört Mut dazu, den Bürgern und dem Adel zu erklären, daß der erste Schritt zur Unabhängigkeit Italiens die völlige Emanzipation der Bauern und die Verwandlung ihres Halbpachtsystems in freies bürgerliches Eigentum ist.« Und dem prahlerisch in London sich aufspielenden Kossuth ließ Marx in einem Offenen Briefe seines Freundes Ernest Jones erklären, daß die europäischen Revolutionen den Kreuzzug der Arbeit gegen das Kapital bedeuteten. Sie könnten nicht auf das geistige und soziale Niveau eines obskuren, halb barbarischen Volkes wie die Magyaren herabgedrückt werden, die noch in der Halbzivilisation des sechzehnten Jahrhunderts steckten und sich tatsächlich einbildeten, sie dürften die große Erleuchtung Deutschlands und Frankreichs kommandieren und der Leichtgläubigkeit Englands ein erschwindeltes Hoch ablocken.

Am weitesten jedoch entfernte sich Marx von den Überlieferungen der »Neuen Rheinischen Zeitung«, indem er auf Deutschland nicht nur nicht mehr sein Hauptaugenmerk richtete, sondern es so ziemlich aus seinem politischen Gesichtskreise verbannte. Deutschland spielte damals freilich eine ungemein trübselige Rolle in der europäischen Politik und konnte als russisches Paschalik gelten, aber wenn es sich dadurch einigermaßen erklärt, so war es doch in mancher Beziehung verhängnisvoll, daß Marx - und dasselbe gilt von Engels - eine Reihe von Jahren jede engere Fühlung mit der deutschen Entwicklung verlor. Vor allem die Mißachtung, die beide als annektierte Rheinländer von jeher gegen den preußischen Staat empfunden hatten, steigerte sich in den Tagen Manteuffel-Westphalens auf einen Grad, der in starkem Mißverhältnis zu ihrem Scharfblick für die reale Lage der Dinge stand.

Ein beredtes Zeugnis dafür legt besonders auch der eine Ausnahmefall ab, wo Marx die preußischen Zustände der Zeit seiner Beachtung würdigte. Es geschah gegen Ende des Jahres 1856, als Preußen sich wegen des Neuenburger Handels mit der Schweiz in die Haare geriet. Der Zwischenfall veranlaßte Marx, wie er am 2. Dezember 1856 an Engels schrieb, seinen »höchst mangelhaften Kenntnissen von der preußischen Geschichte« nachzuhelfen, wobei er das Ergebnis seiner Studien dahin zusammenfaßte, etwas Lausigeres habe die Weltgeschichte nie produziert. Was er im Anschluß daran in dem Briefe selbst ausführte und einige Tage darauf im »Peoples Paper«, einem chartistischen Organ, ausführlicher wiederholte, zeigt ihn nicht entfernt auf der Höhe seiner sonstigen Geschichtsauffassung, streift vielmehr bedenklich an |250| jene historischen Niederungen biedermännisch scheltender Demokratie, die überwunden zu haben sonst gerade sein Verdienst ist.

Harter Bissen, wie der preußische Staat ohne Zweifel für jeden Kulturmenschen war, ließ er sich ebendeshalb doch nicht auflösen durch das Scheidewasser des Spotts über das »göttliche Recht der Hohenzollern«, über ihre drei immer wiederkehrenden »Charaktermasken«: Pietist, Unteroffizier, Hanswurst, über die preußische Geschichte als eine »unsaubere Familienchronik« verglichen mit dem »diabolischen Epos« der österreichischen Geschichte und ähnliches mehr, was höchstens doch nur das Warum erklärte, aber das Warum des Warum noch ganz im ungewissen ließ.

2. David Urquhart. Harney und Jones

Zu gleicher Zeit und in gleichem Sinne wie an der »New-York Daily Tribune« arbeitete Marx an den urquhartistischen und den chartistischen Organen mit.

David Urquhart war ein englischer Diplomat, der sich durch die genaue Kenntnis und unablässige Bekämpfung der russischen Weltherrschaftspläne große Verdienste erworben, aber diese Verdienste durch einen fanatischen Russenhaß und eine fanatische Türkenschwärmerei wieder geschmälert hat. Marx ist oft ein Urquhartit genannt worden, aber sehr mit Unrecht; man kann eher sagen, daß er wie Engels sich mehr an den närrischen Übertreibungen des Mannes gestoßen als seine wirklichen Leistungen geschätzt habe. Gleich wo er zum ersten Male erwähnt wird, schrieb Engels im März 1853: »Ich habe jetzt den Urquhart zu Hause ... der den Palmerston für von Rußland bezahlt angibt. Die Sache erklärt sich einfach: der Kerl ist ein keltischer Schotte mit sächsisch-schottischer Bildung, der Tendenz nach Romantiker, der Bildung nach freetrader [Mehring übersetzt: Freihändler]. Dieser Kerl ging als Philhellene nach Griechenland, und nachdem er sich drei Jahre mit den Türken herumgeschlagen, ging er in die Türkei und begeisterte sich für ebendieselben Türken. Er schwärmt für den Islam und sein Prinzip ist: wenn ich nicht Kalvinist wäre, so könnte ich nur Mohammedaner sein.« Im ganzen fand Engels das Buch Urquharts freilich höchst amüsant.

Der Berührungspunkt zwischen Marx und Urquhart war der Kampf gegen Palmerston. Ein Artikel gegen diesen Minister, den Marx in der »New-York Daily Tribune« veröffentlicht und ein Glasgower Blatt nachgedruckt |251|* hatte, erregte die Aufmerksamkeit Urquharts, und er hatte im Februar 1854 eine Zusammenkunft mit Marx, wobei er diesen mit dem Kompliment empfing, seine Artikel seien so, als ob ein Türke sie geschrieben hätte. Als Marx darauf erklärte, daß er »Revolutionist« sei, fand sich Urquhart sehr enttäuscht, denn es gehörte zu seinen Schrullen, daß die europäischen Revolutionäre bewußte oder unbewußte Werkzeuge des Zarismus seien, um den europäischen Regierungen Schwierigkeiten zu bereiten. »Er ist ein kompletter Monoman«, schrieb Marx nach dieser Unterredung an Engels. Er stimme in nichts mit ihm überein, wie er ihm erklärt habe, außer Palmerston, und zu diesem Punkt habe Urquhart ihm nicht verholfen.

Man wird nun freilich diese vertraulichen Äußerungen nicht allzusehr pressen dürfen. Öffentlich hat Marx bei allen kritischen Vorbehalten die Verdienste Urquharts wiederholt anerkannt und auch kein Hehl daraus gemacht, daß er von Urquhart, wenn auch nicht überzeugt, so doch angeregt worden sei. Er nahm deshalb auch keinen Anstand, für die Organe Urquharts, namentlich die »Free Press« in London, gelegentliche Beiträge zu liefern und die Verbreitung mehrerer seiner Aufsätze aus der »New-York Daily Tribune« in Form von Flugschriften zu gestatten. Diese Palmerston-Pamphlets wurden in verschiedenen Auflagen zu 15.000 bis 30.000 Exemplaren vertrieben und erregten großes Aufsehen. Aber sonst hat Marx bei dem Schotten Urquhart so wenig Seide gesponnen wie bei dem Yankee Dana.

Eine dauernde Verbindung zwischen Marx und Urquhart war schon dadurch ausgeschlossen, daß Marx zum Chartismus hielt, den Urquhart doppelt haßte, als Freihändler und als Russenfeind, der in jeder revolutionären Bewegung den Rubel rollen hörte. Von der schweren Niederlage, die er am 10. April 1848 erlitten hatte, hat sich der Chartismus nicht mehr erholt, aber solange seine Reste noch um neues Leben rangen, haben Engels und Marx sie tapfer und treu unterstützt, namentlich uneigennützige Mitarbeit an den Organen geleistet, die George Julian Harney und Ernest Jones in den fünfziger Jahren herausgaben, Harney in rascher Folge hintereinander den »Red Republican«, den »Friend of the People« und die »Democratic Review«, Jones die »Notes to the People« und »The Peoples Paper«, das am längsten dauerte, bis zum Jahre 1858.

Harney und Jones gehörten zur revolutionären Fraktion der Chartisten und waren unter ihnen auch wohl am freiesten von aller insularen Beschränktheit; in der internationalen Verbindung der Fraternal Democrats galten sie als die leitenden Geister. Harney war ein Seemannskind |252|* und in proletarischen Verhältnissen aufgewachsen; er hatte sich selbst an der revolutionären Literatur Frankreichs geschult und sah namentlich in Marat sein Muster. Ein Jahr älter als Marx, saß er schon zur Zeit, wo dieser die »Rheinische Zeitung« leitete, in der Redaktion des »Northern Star«, des chartistischen Hauptorgans. Hier suchte ihn im Jahre 1843 Engels auf, »ein schlanker, junger Mann von fast knabenhafter Jugendlichkeit, der schon damals ein merkwürdig korrektes Englisch sprach«. 1847 lernte Harney auch Marx kennen und schloß sich ihm begeistert an.

In seinem »Red Republican« brachte er eine englische Übersetzung des »Kommunistischen Manifestes« mit der Randnote, es sei das revolutionärste Dokument, das der Welt je gegeben worden sei, und in seiner »Democratic Review« übersetzte er die Aufsätze der »Neuen Rheinischen Revue« über die französische Revolution als die »wahre Kritik« der französischen Affären. In den Emigrantenkämpfen kam er dann doch zu seiner alten Liebe zurück und geriet in heftigen Zwist mit Jones nicht minder als mit Marx und Engels. Bald darauf siedelte er nach der Insel Jersey und dann nach den Vereinigten Staaten über, wo ihn Engels noch im Jahre 1888 besucht hat. Gleich darauf kehrte Harney nach England zurück, und hier ist er in hohem Alter als letzter Zeuge einer großen Zeit gestorben.

Ernest Jones stammte aus einem alten normannischen Geschlecht, war aber in Deutschland geboren und erzogen, wo sein Vater als militärischer Begleiter des Herzogs von Cumberland lebte, des späteren Königs Ernst August von Hannover. Dieser erzreaktionäre Wüstling, dem die englische Presse jedes Verbrechen mit Ausnahme des Selbstmordes nachsagte, hat den kleinen Ernest aus der Taufe gehoben, ohne daß diese Patenschaft und die höfischen Beziehungen seiner Familie auf ihn abgefärbt hätten. Schon als Knabe bekundete er einen unbändigen Freiheitssinn, und als Mann hat er allen Versuchungen widerstanden, ihn in goldenen Ketten einzufangen. Er zählte etwa zwanzig Jahre, als seine Familie nach England zurückkehrte, wo er sich dem Rechtsstudium widmete und zur Advokatur zugelassen wurde. Er opferte aber alle Aussichten, die ihm seine glänzenden Fähigkeiten und die aristokratischen Verbindungen seiner Familie eröffneten, um sich der chartistischen Sache zu widmen, die er mit so glühendem Eifer vertrat, daß er im Jahre 1848 zu einer zweijährigen Gefängnisstrafe verurteilt wurde. Zur Strafe für den Verrat an seiner Klasse wurde er in der Haft als gemeiner Sträfling behandelt, verließ den Kerker aber im Jahre 1850 gänzlich ungebessert und hat vom Sommer 1850 ab, ziemlich zwei Jahrzehnte |253|* lang, nahe mit Marx und Engels verkehrt, zwischen denen er im Alter stand.

Ganz ohne Trübungen ist freilich auch diese Freundschaft nicht geblieben: Trübungen ähnlicher Art, wie sie in der Freundschaft mit Freiligrath, mit dem Jones die dichterische Begabung teilte, oder auch mit Lassalle eintraten, über den Marx ähnlich, nur noch ungleich schärfer urteilte, wie wenn er von Jones 1855 schrieb: »Bei aller Energie, Ausdauer und Tätigkeit, die man an Jones anerkennen muß, verdirbt er alles durch Marktschreierei, taktloses Haschen nach Agitationsprätexten [Mehring übersetzt: -vorwänden] und Unruhe, die Zeit zu überspringen.« Auch später hat es an harten Zusammenstößen nicht gefehlt, als die chartistische Agitation unaufhaltsam versandete und Jones sich dem bürgerlichen Radikalismus näherte.

Aber im Grunde blieb es eine aufrichtige und echte Freundschaft. Jones lebte zuletzt als Advokat in Manchester und starb 1869 unerwartet, noch in der vollen Kraft des Mannesalters; auf einem eiligen Zettel sandte Engels die Trauerkunde nach London: »Das ist wieder einer von den Alten!« Marx antwortete: »Die Nachricht mit E. Jones hat bei uns im Haus natürlich tiefe Bestürzung erregt, da er einer der wenigen alten Freunde.« Engels meldete dann noch, Jones sei unter einer enormen Prozession auf demselben Kirchhof begraben worden, wo schon einer ihrer Getreuen, Wilhelm Wolff, ruhte. Es sei wirklich schade um ihn; seine bürgerlichen Phrasen seien doch nur Heuchelei, und unter den Politikern sei er der einzige gebildete Engländer gewesen, der im Grunde ganz auf ihrer Seite gestanden habe.

3. Familie und Freunde

Von allen politischen Verbindungen hielt sich Marx in diesen Jahren fern, ja fast von aller Gesellschaft. Er hatte sich völlig in die Studierstube zurückgezogen, die er nur verließ, um seiner Familie zu leben, die sich im Januar 1855 um ein Töchterchen Eleanor vermehrte.

Er war ein großer Kinderfreund wie Engels auch, und wenn er je seiner rastlosen Arbeit eine Stunde abzwackte, so war es, um mit seinen Kindern zu spielen. Sie hingen mit abgöttischer Liebe an ihm, obgleich oder auch weil er auf alle väterliche Autorität verzichtete; sie gingen mit ihm wie mit einem Kameraden um und nannten ihn »Mohr«, mit einem Spitznamen, den ihm seine dunkle Haar- und Hautfarbe eingetragen |254|* hatte. »Die Kinder müssen die Eltern erziehen«, pflegte er zu sagen. Vor allem verboten sie ihm alle Sonntagsarbeit; am Sonntag mußte er ihnen ganz gehören, und die sonntäglichen Ausflüge aufs Land, wo in einfachen Schenken gerastet wurde, um Ingwerbier zu trinken und Brot mit Käse zu verspeisen, waren die spärlichen Sonnenblicke zwischen den schweren Wolken, die immer über dem Hause hingen.

Mit besonderer Vorliebe richteten sich diese Ausflüge nach Hampstead Heath, der Heide von Hampstead, einem unbebauten, mit Baumgruppen und Stachelginster bewachsenen Hügelstrich im Norden Londons. Liebknecht hat diese Sonntagsfahrten sehr anmutig beschrieben. Die Heide ist heute nicht mehr das, was sie vor sechzig Jahren war, aber von dem alten Wirtshaus, Jack Straws Castle, an dessen Tische Marx oft gesessen hat, hat man noch immer einen prächtigen Blick über sie, mit ihrem malerischen Wechsel von Berg und Tal, namentlich wenn sie an Sonntagen von fröhlichen Menschen belebt ist. Im Süden die Riesenstadt mit ihren Häusermassen, überragt von der Kuppel der St. Paulskathedrale und den Westminstertürmen, in der dämmernden Ferne die Hügel von Surrey, im Norden ein dichtbevölkerter fruchtbarer Landstrich, mit zahlreichen Dörfern übersäet, im Westen der Schwesterhügel von Highgate, wo Marx den ewigen Schlaf schläft.

In sein bescheidenes Familienglück fuhr ihm nun aber ein zündender Blitz; am Karfreitag des Jahres 1855 wurde ihm sein einziger Sohn durch den Tod entrissen, der etwa neunjährige Edgar oder »Musch«, wie er mit einem Kosenamen in der Familie genannt wurde. Der Knabe, der schon eine reiche Begabung verriet, war der allgemeine Liebling. »Ein so trauriger, entsetzlicher Verlust, daß ich gar nicht sagen kann, wie mir der Fall ans Herz gegriffen hat«, schrieb Freiligrath in die Heimat.

Herzzerreißend klang es aus den Briefen, in denen Marx über Krankheit und Tod an Engels berichtete. Am 30. März schrieb er: »Meine Frau war seit einer Woche so krank wie nie vorher vor geistiger Erregung. Mir selbst blutet das Herz und brennt der Kopf, obgleich ich natürlich Haltung behaupten muß. Das Kind verleugnet während der Krankheit keinen Augenblick seinen originellen, gutmütigen und zugleich selbständigen Charakter.« Und am 6. April: »Der arme Musch ist nicht mehr. Er entschlief (im wörtlichen Sinne) in meinen Armen heute zwischen 5 und 6 Uhr. Ich werde nie vergessen, wie Deine Freundschaft diese schreckliche Zeit uns erleichtert hat. Meinen Schmerz um das Kind begreifst Du.« Und am 12. April: »Das Haus ist natürlich ganz verödet und verwaist seit dem Tode des teuren Kindes, das seine belebende |255|* Seele war. Es ist unbeschreiblich, wie das Kind uns überall fehlt. Ich habe schon allerlei Pech durchgemacht, aber erst jetzt weiß ich, was ein wirkliches Unglück ist ... Unter all den furchtbaren Qualen, die ich in diesen Tagen durchgemacht habe, hat mich immer der Gedanke an Dich und Deine Freundschaft aufrechtgehalten und die Hoffnung, daß wir noch etwas Vernünftiges in der Welt zusammen zu tun haben.«

Es dauerte lange, ehe die Wunde auch nur zu vernarben begann. Auf einen Trostbrief Lassalles antwortete Marx am 28. Juli: »Baco sagt, daß wirklich bedeutende Menschen so viel Relationen [Mehring übersetzt: Beziehungen] zur Natur und der Welt haben, so viele Gegenstände des Interesses, daß sie jeden Verlust leicht verschmerzen. Ich gehöre nicht zu diesen bedeutenden Menschen. Der Tod meines Kindes hat mir Herz und Hirn tief erschüttert, und ich fühle den Verlust noch so frisch wie am ersten Tag. Meine arme Frau ist auch völlig niedergebrochen.« Und Freiligrath schrieb am 6. Oktober an Marx: »Daß Dein Verlust Dich noch immer nicht losläßt, geht mir unendlich nahe. Da läßt sich nichts tun und nichts raten. Ich begreife und ich ehre Deinen Schmerz - aber suche ihn zu bemeistern, damit er Deiner nicht Meister wird. Du begehst damit keinen Verrat am Gedächtnis Deines lieben Kindes.«

Der Tod des kleinen Edgar war der Gipfel fortwährender Krankheiten, die seit ein paar Jahren in der Familie eingerissen waren, und seit dem Frühjahr auch Marx selbst ergriffen hatten, um ihn völlig nie wieder loszulassen. Hauptsächlich quälte ihn ein Leberleiden, das er von seinem Vater ererbt zu haben glaubte. Aber viel trug zu den immer schlechteren Gesundheitszuständen auch die elende Wohnung und das ungesunde Viertel bei, worin sie lag. Im Sommer 1854 wütete hier die Cholera besonders arg, angeblich weil die gleichzeitig gegrabenen Abfuhrkanäle durch die Schächte getrieben wurden, in denen die an der Pest von 1665 Gestorbenen begraben worden waren. Der Arzt drängte, »den Bannkreis von Soho Square« zu verlassen, dessen Luft Marx seit Jahren ununterbrochen eingeatmet hatte. Ein neuer Trauerfall in der Familie schuf die Möglichkeit dazu. Im Sommer 1856 war Frau Marx mit den drei Töchtern nach Trier gereist, um ihre alte Mutter noch einmal zu sehen. Sie kam aber gerade nur noch zur rechten Zeit, um ihr nach elftägigen Leiden die müden Augen zuzudrücken.

Ihre Hinterlassenschaft war gering, jedoch ein paar hundert Taler fielen auf den Anteil der Frau Marx, und dazu kam, wie es scheint, noch eine kleine Erbschaft von der schottischen Verwandtschaft her. So konnte die Familie im Herbst 1856 in ein Häuschen übersiedeln, nicht weit von |256| ihrem geliebten Hampstead Heath: 9 Graftonterrace, Maitlandpark, Haverstockhill. Die Jahresmiete betrug 36 Pfund. »Es ist eine wahrhaft prinzliche Wohnung, verglichen mit unseren früheren Löchern«, schrieb Frau Marx einer Freundin, »und obgleich die sämtlichen Einrichtungen vom Kopf bis zum Fuß nicht viel über 40 Pfund kamen (second hand rubbish spielte eine große Rolle dabei), so kam ich mir im Anfang in unserem jungen Parlour ganz großartig vor. Sämtliche Wäsche und sonstige Überreste früherer Größe wurden aus des ›Onkels‹ Händen befreit, und ich zählte mit Lust einmal wieder die Damastservietten, die noch alten schottischen Ursprungs waren. Obgleich die Herrlichkeit nicht lange dauerte, denn bald mußte ein Stück nach dem andern wieder ins ›Pop-Haus‹ wandern (so nennen die Kinder den geheimnisvollen Drei-Kugel-Shop), so freuten wir uns doch einmal recht in unserer bürgerlichen Behäbigkeit.« Es war ein nur allzu kurzes Aufatmen.

Auch unter den Freunden hielt der Tod seine Ernte. Daniels starb im Herbst 1855, Weerth im Januar 1856 in Haiti, Konrad Schramm Anfang 1858 auf der Insel Jersey. Ihnen allen wenigstens kurze Nachrufe in der Presse zu schaffen, bemühten sich Marx und Engels eifrig, aber ohne Erfolg. Sie klagten oft, daß die alte Garde zusammenschmelze und kein neuer Zufluß käme. So sehr ihnen ihre »öffentliche Isolation« anfangs gefallen hatte, und so felsenfest die Siegeszuversicht war, womit die beiden Einsamen an der europäischen Politik teilnahmen, als wären sie selbst eine europäische Macht, so waren sie doch viel zu leidenschaftliche Politiker, um nicht auf die Dauer den Mangel einer Partei zu empfinden, denn ihre wenigen Anhänger waren, wie Marx einmal selbst sagte, keine Partei. Und unter ihnen war keiner, der an den Hochwuchs ihrer Gedanken heranreichte, bis auf den einen, gegen den sie ihr Mißtrauen niemals ganz überwinden konnten.

In London war Liebknecht täglicher Gast bei Marx, namentlich solange dieser in der Deanstreet hauste, aber er hatte in seinem Dachkämmerchen hart mit der Not des Lebens zu kämpfen, und das gleiche galt von den alten Gefährten des Kommunistenbundes, von Leßner und dem Tischler Lochner, von Eccarius und dem »reuigen Sünder« Schapper. Andere waren zerstreut: Dronke als Kaufmann in Liverpool und dann in Glasgow, Imandt als Professor in Dundee, Schily als Advokat in Paris, wo auch Reinhardt, der Sekretär Heines in dessen letzten Lebensjahren, zum engeren Kreise der Getreuen zählte.

Aber auch unter den Allgetreuesten erlahmte der politische Kampf. Wilhelm Wolff, der sich in Manchester durch Stundengeben erträglich ernährte, blieb ganz der alte, wie Frau Marx einmal von ihm schrieb: |257| »die kreuzbrave, tüchtige, plebejische Natur«, nur daß mit den Jahren die Grillen des Junggesellen wuchsen und seine »Hauptkämpfe« seiner Wirtin um Tee und Zucker und Kohlen galten. Geistig ist er den alten Freunden im Exil nicht mehr viel gewesen. So auch blieb Freiligrath der alte zuverlässige Freund; ja seitdem er im Sommer 1856 die Londoner Agentur einer Schweizer Bank übertragen erhalten hatte, hat er die größere Möglichkeit finanzieller Hilfe für Marx um so reichlicher ausgenützt, ihm namentlich die Honorare der »New-York Daily Tribune«, die sich oft genug zum Überfluß noch als saumselige Zahlerin erwies, so rasch wie möglich flüssig gemacht. Auch in seinen revolutionären Überzeugungen blieb Freiligrath unerschüttert, aber dem Parteikampf entfremdete er sich mehr und mehr. Mochte er auch aus ehrlicher Überzeugung sagen, daß sich der Revolutionär nirgends mit Anstand begraben lassen könne als im Exil, so konnte der deutsche Dichter doch des Exils nicht froh werden. Da er des geliebten Weibes Heimweh sah und der Kinderschar den Weihnachtsbaum auf fremder Erde anzünden mußte, rann ihm der Quell der Dichtung selten und spärlich. Er litt darunter und empfand es wohltätig, daß die Heimat sich allmählich ihres berühmten Dichters wieder erinnerte.

Und nun die lange Reihe der »lebendig Verstorbenen«! Es traf sich, daß Marx in London mit manchen Genossen seiner philosophischen Frühzeit zusammentraf: mit Eduard Meyen, der immer noch die alte Giftkröte war, mit Faucher, der als Sekretär Cobdens freihändlerische »Geschichte zu machen« beanspruchte, mit Edgar Bauer, der umgekehrt den kommunistischen Agitator spielte, von Marx aber immer nur der »Clown« genannt wurde. Als Bruno Bauer zum Besuche des Bruders auf längere Zeit nach London kam, ist auch Marx wiederholt mit dem alten Jugendfreunde zusammengetroffen. Da Bruno Bauer für die russische Urkraft schwärmte, dagegen im Proletariat nur »Pöbel« sah, der mit Gewalt und List zu leiten sei und im äußersten Fall sich mit einem Silbergroschen Zulage abspeisen lasse, so war natürlich jede Verständigung ausgeschlossen. Marx fand ihn sichtbar gealtert, mit gewachsener Stirn und den Manieren eines pedantischen Professors, aber über seine Unterhaltungen mit dem »vergnüglichen alten Herrn« berichtete er doch ausführlich an Engels.

Allein auch aus einer jüngeren Vergangenheit waren der »lebendig Verstorbenen« gerade genug, und sie mehrten sich mit jedem Jahre. So die alten Freunde am Rheine: Georg Jung, Heinrich Bürgers, Hermann Becker und andere. Mancher von ihnen, wie Becker und nach ihm der brave Miquel, machten sich die Sache »wissenschaftlich« zurecht; erst |258| müsse die Bourgeoisie vollständig über das Junkertum siegen, ehe das Proletariat an seinen Sieg denken könne. Becker lehrte: »Soweit der Bohrwurm der Kanaille der materiellen Interessen dringt, soweit verwandelt sich das morsche Gerüst des Junkertums in Staub, und die Geschichte geht beim ersten Hauche des Weltgeistes über den ganzen äußeren Verputz zur höchst einfachen Tagesordnung über.« Eine sehr hübsche Theorie soweit, die auch heute noch manchen Schlaumeier bezaubern mag. Aber als Becker Oberbürgermeister von Köln und Miquel preußischer Finanzminister geworden war, hatten sie sich in die »Kanaille der materiellen Interessen« dermaßen verliebt, daß sie sich gegen »den ersten Hauch des Weltgeistes« zusamt seiner »höchst einfachen Tagesordnung« mit Händen und Füßen sträubten.

Für Männer wie Becker und Miquel, war es immerhin ein fragwürdiger Ersatz, als im Frühling 1856 ein Kaufmann Gustav Levy aus Düsseldorf bei Marx erschien, um ihm eine Fabrikinsurrektion in Iserlohn, Solingen usw. auf dem Präsentierteller anzubieten. Marx sprach sich derb gegen die gefährliche und nutzlose Narrheit aus; er ließ den Arbeitern, in deren angeblichem oder wirklichem Auftrage Levy gekommen war, durch diesen sagen, sie möchten in einiger Zeit wieder nach London senden, aber nichts tun ohne vorherige Verständigung.

Nicht ebenso ablehnend stellte sich Marx zu dem andern angeblichen Auftrage, den Levy von den Düsseldorfer Arbeitern haben wollte: nämlich vor Lassalle zu warnen als einem unsicheren Kantonisten, der nach dem siegreichen Ausgange der Hatzfeldtschen Prozesse unter dem schmählichen Joche der Gräfin lebe, sich von ihr unterhalten lasse, mit ihr nach Berlin gehen wolle, um ihr einen Hof von Literaten zu schaffen, die Arbeiter aber als verbrauchte Werkzeuge beiseite werfe, um zur Bourgeoisie überzugehen und was des Klatsches mehr war. Diesmal darf man mit allem Fug daran zweifeln, daß rheinische Arbeiter eine solche Botschaft an Marx gesandt haben, denn dieselben Arbeiter haben wenige Jahre später durch feierliche Adressen und jubelnde Zurufe bekundet, daß Lassalles Haus in Düsseldorf in der weißen Schreckenszeit der fünfziger Jahre »das treue Asyl der furchtlosesten und entschlossensten Parteihilfe« gewesen war. Es ist mehr als wahrscheinlich, daß der Bote auf eigene Faust die Botschaft ersonnen hat: der Biedermann war aufs äußerste ergrimmt über Lassalle, weil dieser ihm ein Darlehen von 2.000 Talern nur in der Höhe von 500 Talern hatte bewilligen wollen.

Wäre Marx davon unterrichtet gewesen, so hätte er sicherlich gegenüber diesem Levy die größte Zurückhaltung beobachtet. Aber der Bericht selbst war schon geeignet, starkes Mißtrauen zu erwecken. Marx |259| war mit Lassalle nicht gerade in häufigem, aber doch fortlaufendem Briefwechsel geblieben, er hatte ihn immer, persönlich wie politisch, als zuverlässigen Freund und Parteigenossen befunden; ja, er hatte selbst das Mißtrauen bekämpft, das in den Tagen des Kommunistenbundes allerdings noch in den Kreisen der rheinischen Arbeiter gegen Lassalle wegen dessen Verstrickung in die Hatzfeldtschen Händel bestanden hatte. Noch vor kaum Jahresfrist, als ihm Lassalle aus Paris schrieb, hatte er in durchaus herzlicher Weise geantwortet: »Ich bin natürlich überrascht, Dich so nah bei London zu wissen, ohne daß Du auch nur für einige Tage herüberzukommen denkst. Ich hoffe, Du wirst noch in Dich gehen und entdecken, wie kurz und wohlfeil die Reise von Paris nach London ist. Wären mir die Tore Frankreichs nicht hermetisch verschlossen, so würde ich Dich in Paris überraschen.«

So läßt es sich schwer erklären, daß Marx das lose Gerede Levys am 5. März 1856 an Engels berichtete und hinzufügte: »Dies alles ist nur einzelnes, herausgehört und strichweise fixiert. Das Ganze hat auf mich und Freiligrath einen definitiven Eindruck gemacht, so sehr ich für Lassalle eingenommen war und so mißtrauisch ich gegen Arbeiterklatsch bin.« Er habe dem Levy gesagt, auf den Bericht einer einzigen Seite hin zu einem Schlusse zu kommen, sei unmöglich, aber Verdacht sei unter allen Umständen nützlich; man möge Lassalle überwachen, aber einstweilen jeden öffentlichen Eklat vermeiden. Dem stimmte Engels zu, mit einigen Bemerkungen, die aus seinem Munde weniger auffallen, da er Lassalle weniger kannte als Marx. Es sei schade um den Kerl, seines großen Talentes wegen, aber diese Sachen seien doch zu arg. Lassalle sei immer ein Mensch gewesen, dem man höllisch aufpassen mußte; als echter Jud von der slawischen Grenze sei er immer auf dem Sprunge, unter Parteivorwänden jeden für seine Privatzwecke auszubeuten.

Marx aber brach seinen Briefwechsel mit dem Manne ab, der ihm wenige Jahre später mit aller Wahrheit schreiben konnte: Du hast in Deutschland keinen Freund als mich.

4. Die Krise von 1857

Als sich Marx und Engels im Herbst 1850 aus den öffentlichen Kämpfen des Parteilebens zurückzogen, hatten sie erklärt: »Eine neue Revolution ist nur möglich im Gefolge einer neuen Krisis. Sie ist aber auch ebenso sicher wie diese.«[2] Seitdem hatten sie, und mit jedem Jahre |260| ungeduldiger, nach den Anzeichen einer neuen Krise ausgespäht. Liebknecht erzählt, daß Marx sie manchmal daneben prophezeit habe und deshalb von den Freunden geneckt worden sei; als sie 1857 nun wirklich kam, ließ Marx in der Tat durch Engels an Wilhelm Wolff melden, er werde beweisen, daß sie normalerweise zwei Jahre früher hätte ausbrechen müssen.

Sie begann in den Vereinigten Staaten, und schon ihre Vorboten machten sich für Marx dadurch fühlbar, daß ihn die »New-York Daily Tribune« auf Halbsold setzte. Der Schlag traf ihn um so schwerer, als sich in der neuen Wohnung schon das alte oder selbst ein vermehrtes Elend eingestellt hatte. Marx konnte sich hier nicht »von Tag zu Tag durchklemmen wie in der Deanstreet«; ohne Aussicht und mit wachsenden Familienausgaben. »Ich weiß absolut nicht, was ich anfangen soll und bin in der Tat in einer verzweifelteren Situation als vor fünf Jahren«, schrieb er am 20. Januar 1857 an Engels. Diesen traf die Nachricht wie ein »Donnerschlag aus heiterem Himmel«, aber er eilte zu helfen und klagte nur, daß Marx nicht vierzehn Tage früher geschrieben hätte. Er hätte sich eben ein Pferd gekauft, für das ihm sein Alter das Geld als Weihnachtsgeschenk gesandt habe; »es ist mir höchst ärgerlich, daß ich hier ein Pferd halten soll, während Du in London mit Deiner Familie im Pech sitzest«. Hoch erfreut war er dann, als ein paar Monate später Dana bei Marx um Mitarbeit, namentlich auch wegen militärischer Artikel, für ein von ihm herausgegebenes Konversationslexikon anfragte. Die Sache komme ihm »ganz gepfiffen« und mache ihm «unendlichen Spaß«, da sie ein enormer Hebel sein werde, Marx aus den ewigen Geldnöten zu befreien; dieser möge nur so viele Artikel nehmen, als er kriegen könne, und allmählich ein Büro organisieren.

Daraus wurde nichts, schon aus Mangel an Leuten. Auch sonst erwies sich die Aussicht nicht so glänzend, wie Engels annahm; das Honorar lief schließlich nicht einmal auf einen Penny (81/2 Pfennig) für die Zeile hinaus, und wenn vieles auch bloße Füllarbeit zu sein brauchte, so war Engels doch viel zu gewissenhaft, um sie leichter Hand abzutun. Was davon in ihren Briefwechsel durchgesickert ist, rechtfertigt keineswegs das wegwerfende Urteil, das Engels später über diese, teils von ihm, teils von Marx verfaßten Artikel gefällt hat: »Reine Geschäftsarbeit, weiter nichts, können ruhig begraben bleiben.« Allmählich schlief diese immerhin nebensächliche Tätigkeit auch wieder ein, bis über den Buchstaben C hinaus scheint die regelmäßige Mitarbeit der beiden Freunde an dem Lexikon nicht gediehen zu sein.

Von vornherein wurde sie dadurch arg behindert, daß Engels im |261| Sommer 1857 von einem Drüsenleiden befallen wurde, das ihn zwang, längere Zeit an die See zu gehen. Auch bei Marx sah es trübe aus. Sein Leberleiden meldete sich in einem neuen Anfall so heftig, daß er nur mit äußerster Anstrengung das Notwendigste arbeiten konnte. Im Juli wurde seine Frau von einem nicht lebensfähigen Kinde entbunden, unter Umständen, die einen furchtbaren Eindruck auf seine Phantasie und ihm die Rückerinnerung qualvoll machten. »Es muß Dir hart kommen, ehe Du so schreibst«, antwortete der erschreckte Engels, doch verschob Marx alles auf mündliche Auskunft, schreiben könne er über diese Dinge nicht.

Alles persönliche Ungemach war aber sofort vergessen, als die Krisis im Herbst nach England und dann auch auf den Kontinent hinüberschlug. »So sehr ich selbst in financial distress [Mehring übersetzt: Finanznot], habe ich seit 1849 nicht so cosy gefühlt als bei diesem outbreak [Mehring übersetzt: Ausbruch]«, schrieb Marx am 13. November an Engels. Und dieser hatte am nächsten Tage nur die Besorgnis, daß die Entwicklung sich überstürzen könne. »Es wäre zu wünschen, daß erst diese ›Besserung‹ zur chronischen Krisis einträte, ehe ein zweiter und entscheidender Hauptschlag fällt. Der chronische Druck ist eine Zeitlang nötig, um die Bevölkerung warm zu machen. Das Proletariat schlägt dann besser, in beßrer connaissence de cause [Mehring übersetzt: Kenntnis der Dinge] und mit mehr Einklang; grade wie eine Kavallerieattacke viel besser ausfällt, wenn die Pferde erst eine 500 Schritt traben mußten, um an den Feind zur Carrieredistanz zu kommen. Ich möchte nicht, daß es zu früh etwas gäbe, ehe ganz Europa vollständig ergriffen ist, der Kampf nachher würde härter, langweiliger und mehr hin- und herwogend. Mai oder Juni wäre fast noch zu früh. Die Massen müssen durch die lange Prosperität verdammt lethargisch geworden sein. ... Mir geht es übrigens wie Dir. Seitdem der Schwindelzusammenbrach in New York, hatte ich keine Ruhe mehr in Jersey, und ich fühle mich enorm fidel in diesem general downbreak [Mehring übersetzt: allgemeinen Zusammenbruch]. Der bürgerliche Dreck der letzten sieben Jahre hatte sich doch einigermaßen an mich gehängt, jetzt wird er abgewaschen, ich werde wieder ein andrer Kerl. Die Krisis wird mir körperlich ebenso wohl tun wie ein Seebad, das merk' ich jetzt schon. 1848 sagten wir: jetzt kommt unsere Zeit, und sie kam in einem certain sense [Mehring übersetzt: gewissen Sinn], diesmal aber kommt sie vollständig, jetzt geht es um den Kopf.«

Um den Kopf ging es nun doch nicht. Die Krisis hatte in ihrer Art revolutionäre Wirkungen, aber sie waren anderer Art, als Marx und Engels annahmen. Nicht als ob sie sich utopischen Hoffnungen ins Blaue |262| hinein hingegeben hätten; sie studierten vielmehr mit äußerster Sorgfalt Tag und Tag den Verlauf der Krisis, und Marx schrieb am 18. Dezember: »Ich arbeite ganz kolossal, meist bis vier Uhr morgens. Die Arbeit ist nämlich eine doppelte: 1. Ausarbeitung der Grundzüge der Ökonomie. (Es ist durchaus nötig, für das Publikum au fond [Mehring übersetzt: auf den Grund] der Sache zu gehn und für mich, individually, to get rid of this night mare [Mehring übersetzt: persönlich, diesen Alp los zu werden].) 2. Die jetzige Krisis. Darüber - außer den Artikeln an die ›Tribune‹ - führe ich bloß Buch, was aber bedeutend Zeit wegnimmt. Ich denke, daß wir about [Mehring übersetzt: gegen] Frühling zusammen ein Pamphlet über die Geschichte machen, als Wiederankündigung beim deutschen Publico - daß wir wieder und noch da sind, always the same [Mehring übersetzt: immer dieselben].« Aus diesem Pamphlet ist nichts geworden, da die Krisis die Massen nicht aufwühlte, aber eben dadurch gewann Marx die Muße, den theoretischen Teil seines Planes auszuführen.

Zehn Tage früher hatte Frau Marx an den sterbenden Konrad Schramm in Jersey geschrieben: »Obgleich wir die amerikanische Krise an unserem Beutel sehr verspüren, indem Karl statt zweimal wöchentlich nur mehr einmal an die ›Tribune‹ schreibt, die allen europäischen Korrespondenten außer Bayard Tailor und Karl den Abschied gegeben, so können Sie sich doch wohl denken, wie obenauf der Mohr ist. Seine ganze frühere Arbeitsfähigkeit und Arbeitsleichtigkeit ist wiedergekehrt wie auch die Frische und Heiterkeit des Geistes, die seit Jahren gebrochen war, seit dem großen Leiden, dem Verlust unseres Herzenskindes, um das mein Herz ewig trauern wird. Karl arbeitet am Tage, um fürs tägliche Brot zu sorgen, nachts, um seine Ökonomie zur Vollendung zu bringen. Jetzt, wo diese Arbeit eine Notwendigkeit geworden, wird sich doch auch wohl ein elender Buchhändler finden.« Und er fand sich, dank den Bemühungen Lassalles.

Er hatte im April 1857 an Marx geschrieben, in der alten freundschaftlichen Weise, verwundert zwar, daß Marx den Briefwechsel so lange hatte einschlafen lassen, aber ohne zu ahnen, weshalb. Obgleich Engels dazu riet, hat Marx diesen Brief nicht beantwortet. Im Dezember desselben Jahres schrieb Lassalle dann wieder, aus einem äußeren Anlaß: sein Vetter Max Friedländer hatte ihn ersucht, Marx zur Mitarbeit an der »Wiener Presse« zu veranlassen, zu deren Redakteuren Friedländer gehörte. Nun antwortete Marx, indem er das Anerbieten Friedländers ablehnte, da er zwar »antifranzösisch«, aber nicht minder »antienglisch« sei und am allerwenigsten für Palmerston schreiben |263|* könne. Auf Lassalles Klage aber, so fremd ihm sonst Sentimentalität sei, es habe ihn geschmerzt, auf den Aprilbrief kein Wort der Erwiderung erhalten zu haben, antwortete Marx »kurz und kühl«, er habe aus Gründen, die schriftlich schwer mitzuteilen seien, nicht geantwortet. Sonst fügte er nur wenige Worte hinzu, darunter allerdings die Mitteilung, daß er ein ökonomisches Werk erscheinen zu lassen gedenke.

Im Januar 1858 traf ein Exemplar von Lassalles »Heraklit« in London ein, dessen Absendung der Verfasser in dem Dezemberbriefe angekündigt hatte, zugleich mit einigen Bemerkungen über die begeisterte Aufnahme, die sein Werk in der gelehrten Welt Berlins gefunden hatte. Schon die Portokosten von zwei Schilling »sicherten ihm einen schlechten Empfang«. Aber auch den Inhalt beurteilte Marx ziemlich abfällig. Die »enorme Schaustellung« von Gelehrsamkeit imponierte ihm nicht; er meinte, es sei wohlfeil, Zitate zu häufen, wenn man Geld und Zeit habe, und sich nach Belieben aus der Bonner Universitätsbibliothek Bücher ins Haus schicken lassen könne; in diesem philosophischen Flitterstaate bewege sich Lassalle ganz mit der Grazie eines Kerls, der zum ersten Male einen eleganten Anzug trage. Das hieß, über Lassalles wirkliche Gelehrsamkeit allzu unbillig urteilen, doch läßt sich sehr wohl erklären, daß Marx sich durch das Buch aus demselben Grunde unsympathisch berührt fühlte, aus dem nach seiner Meinung die professoralen Größen darüber erfreut sein mußten, nämlich solch altertümliches Wesen in einem jungen Menschen zu finden, der für einen großen Revolutionär gelte. Bekanntlich war der größte Teil des Werks mehr als zehn Jahre vor seinem Erscheinen niedergeschrieben worden.

Aus der »kurzen und kühlen« Antwort auf seinen klagenden Brief hatte Lassalle noch immer nicht gemerkt, daß irgend etwas nicht im Lote sei. Er mißverstand - offenbar gutgläubig und nicht etwa absichtlich wie Marx argwöhnte - die Notwendigkeit einer mündlichen Erörterung in dem harmlosen Sinne, daß Marx ihm einiges erzählen wolle, wozu Privatgelegenheit erforderlich sei. Er antwortete im Februar 1858 in aller Unbefangenheit, schilderte drastisch den Schwindel, worin sich die Berliner Bourgeoisie wegen der Vermählung des preußischen Kronprinzen mit einer englischen Prinzessin berauschte, und erbot sich übrigens, einen Verleger für das nationalökonomische Werk zu schaffen. Hierauf ging Marx ein, und nun hatte Lassalle den Kontrakt mit seinem eigenen Verleger, Franz Duncker, schon Ende März fertig, und zwar unter günstigeren Bedingungen noch, als Marx beansprucht hatte. Dieser wollte selbst, daß die Sache in Lieferungen erscheine, und war bereit, für die ersten Lieferungen auf jedes Honorar zu verzichten. |264| Lassalle sicherte ihm jedoch von vornherein drei Friedrichsdor - das gewöhnliche Professorenhonorar betrug nur zwei - für den Druckbogen. Der Verleger behielt sich nur vor, falls der Absatz sich nicht verlohne, bei der dritten Lieferung abzubrechen.

Es dauerte aber noch reichlich dreiviertel Jahre, bis Marx mit dem Manuskripte der ersten Lieferung fertig wurde. Neue Anfälle seiner Leber und häusliche Sorgen hinderten den Abschluß. Um Weihnachten 1858 sah es im Hause »düsterer und trostloser denn je« aus. Am 21. Januar 1859 war das »unglückliche Manuskript« fertig, aber nun war »kein Farthing« da, um es frei zu machen und zu versichern. »Ich glaube nicht, daß unter solchem Geldmangel je über das ›Geld‹ geschrieben worden ist. Die meisten Autoren über dies subjekt waren in tiefem Frieden mit dem subjekt of their researches [Mehring übersetzt: Gegenstand ihrer Forschungen].« So schrieb Marx an Engels, als er diesen um die Zusendung des nötigen Portos bat.

5. »Zur Kritik der politischen Ökonomie«

Der Plan eines großen nationalökonomischen Werkes, das der kapitalistischen Produktionsweise bis auf den Grund gehen sollte, war ziemlich fünfzehn Jahre alt, als Marx ihn praktisch auszuführen begann. Er hatte ihn schon in vormärzlicher Zeit erwogen, und die Schrift gegen Proudhon war eine erste Abschlagszahlung gewesen. Nach seiner Beteiligung an den Kämpfen der Revolutionsjahre hatte Marx ihn sofort wieder aufgenommen und schon am 2. April 1851 an Engels gemeldet: »Ich bin so weit, daß ich in fünf Wochen mit der ganzen ökonomischen Plackerei fertig bin. Und danach werde ich zu Haus die Ökonomie ausarbeiten und im Museum mich auf eine andre Wissenschaft werfen. Das beginnt mich zu langweiligen. Im Grunde hat diese Wissenschaft seit Adam Smith und David Ricardo keine Fortschritte mehr gemacht, so viel auch in einzelnen Untersuchungen, oft supradelikaten, geschehn ist.« Engels antwortete erfreut: »Ich bin froh, daß Du mit der Ökonomie endlich fertig bist. Das Ding zog sich wirklich zu sehr in die Länge«, aber als erfahrener Mann fügte er hinzu: »Solange Du noch ein für wichtig gehaltnes Buch ungelesen vor Dir hast, solange kommst Du doch nicht zum Schreiben.« Er neigte allemal zu der Ansicht, daß bei allen anderen Störungen »die Hauptverzögerung« immer in den »eigenen Skrupeln« des Freundes läge.

|265| Diese »Skrupel« waren nun freilich nicht - und so meinte es im Grunde auch Engels nicht - von der Oberfläche geschöpft. Wodurch Marx im Jahre 1851 bestimmt wurde, nicht abzuschließen, sondern von vorn anzufangen, hat er selbst - in der Vorrede des ersten Heftes - mit den Worten angegeben: »Das ungeheure Material für Geschichte der politischen Ökonomie, das im British Museum aufgehäuft ist, der günstige Standpunkt, den London für die Beobachtung der bürgerlichen Gesellschaft gewährt, endlich das neue Entwicklungsstadium, worin letztere mit der Entdeckung des kalifornischen und australischen Goldes einzutreten schien ...«[3] Wenn er hinzufügte, daß seine nunmehr achtjährige Tätigkeit für die »New-York Daily Tribune« eine außerordentliche Zersplitterung seiner Studien nötig gemacht habe, so wäre zu ergänzen, daß diese Tätigkeit ihn bis zu einem gewissen Grade in den politischen Kampf zurückführte, der ihm immer obenan stand. War es doch auch gerade die Aussicht auf das Wiedererwachen einer revolutionären Arbeiterbewegung, die ihn auf den Schreibsessel drückte, um nun endlich schriftlich niederzulegen, was er all die Jahre nicht aufgehört hatte, wieder und wieder zu erwägen.

Davon gibt beredtes Zeugnis sein Briefwechsel mit Engels, worin die Erörterung ökonomischer Fragen nicht abreißt und sich vielmehr zu Abhandlungen auswächst, die man ebenfalls »supradelikat« nennen darf. Wie sich dabei der Gedankenaustausch zwischen beiden Freunden gestaltet, zeigen ein paar ihrer gelegentlichen Äußerungen. Engels schrieb einmal von seiner »bekannten Trägheit en fait de théorie«, die sich bei dem inneren Knurren seines besseren Ich beruhige, ohne der Sache auf den Grund zu gehen, während Marx ein andermal den Stoßseufzer nicht unterdrücken konnte: »Wenn die Leute nur wüßten, wie wenig ich von all dem Zeug weiß«, als ihn ein Fabrikant mit der »amüsanten« Wendung begrüßte, er müsse selbst einmal Fabrikant gewesen sein.

Zieht man in beiden Fällen, wie billig, die humoristische Übertreibung ab, so bleibt das Ergebnis, daß Engels den inneren Mechanismus der kapitalistischen Gesellschaft genauer kannte, Marx aber mit schärferer Denkkraft ihren Bewegungsgesetzen nachzuspüren wußte. Als er dem Freunde den Plan des ersten Heftes entwickelte, antwortete Engels: »Es ist wirklich ein sehr abstrakter Abriß, wie bei der Kürze nicht anders zu vermeiden, und ich muß die dialektischen Übergänge oft mit Mühe suchen, da alles abstrakte Denken mir sehr fremd geworden ist.« Dagegen hatte Marx einige Mühe, sich in den Auskünften zurechtzufinden, die ihm von Engels auf seine Fragen über die Art, wie Fabrikanten und |266| Kaufleute den Teil des Einkommens berechnen, den sie selbst verzehren, oder über Abnutzung der Maschinerie oder die Umschlagsberechnung des vorgeschossenen zirkulierenden Kapitals erteilt wurden. Er klagte wohl, daß in der politischen Ökonomie das praktisch Interessante und das theoretisch Notwendige weit auseinandergingen.

Daß Marx erst in den Jahren 1857 und 1858 mit dem Ausarbeiten seines Werkes begonnen hat, geht auch daraus hervor, daß sich ihm der Plan unter der Hand änderte. Noch im April 1858 wollte er im ersten Heft »das Kapital im Allgemeinen« behandeln, aber obgleich das Heft auf das Doppelte oder gar Dreifache des geplanten Umfangs anwuchs, so enthielt es noch nichts über das Kapital, sondern nur zwei Kapitel über Ware und Geld. Marx sah darin den Vorteil, daß die Kritik sich nicht auf bloße Tendenzschimpferei beschränken können werde, wobei er nur übersah, daß ihr die wirksame Waffe des Totschweigens um so näher gelegt wurde.

In der Vorrede gab er eine Übersicht über seinen wissenschaftlichen Entwicklungsgang, und die berühmten Sätze, in denen er den historischen Materialismus zusammenfaßt, dürfen auch hier nicht fehlen. »Meine Untersuchung (Mehring fügt ein: der Hegelschen Rechtsphilosophie) mündete in dem Ergebnis, daß Rechtsverhältnisse wie Staatsformen weder aus sich selbst zu begreifen sind noch aus der sogenannten allgemeinen Entwicklung des menschlichen Geistes, sondern vielmehr in den materiellen Lebensverhältnissen wurzeln, deren Gesamtheit Hegel, nach dem Vorgang der Engländer und Franzosen des 18. Jahrhunderts, unter dem Namen ›bürgerliche Gesellschaft‹ zusammenfaßt, daß aber die Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft in der politischen Ökonomie zu suchen sei. ... Das allgemeine Resultat, das sich mir ergab und, einmal gewonnen, meinen Studien zum Leitfaden diente, kann kurz so formuliert werden: In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt, und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt. Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen |267| Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein. Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um. In der Betrachtung solcher Umwälzungen muß man stets unterscheiden zwischen der materiellen naturwissenschaftlich treu zu konstatierenden Umwälzung in den ökonomischen Produktionsbedingungen und den juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen oder philosophischen, kurz, ideologischen Formen, worin sich die Menschen dieses Konflikts bewußt werden und ihn ausfechten. So wenig man das, was ein Individuum ist, nach dem beurteilt, was es sich selbst dünkt, ebensowenig kann man eine solche Umwälzungsepoche aus ihrem Bewußtsein beurteilen, sondern muß vielmehr dies Bewußtsein aus den Widersprüchen des materiellen Lebens, aus dem vorhandenen Konflikt zwischen gesellschaftlichen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen erklären. Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind. Daher stellt sich die Menschheit immer nur Aufgaben, die sie lösen kann, denn genauer betrachtet wird sich stets finden, daß die Aufgabe selbst nur entspringt, wo die materiellen Bedingungen ihrer Lösung schon vorhanden oder wenigstens im Prozeß ihres Werdens begriffen sind. In großen Umrissen können asiatische, antike, feudale und modern bürgerliche Produktionsweisen als progressive Epochen der ökonomischen Gesellschaftsformation bezeichnet werden. Die bürgerlichen Produktionsverhältnisse sind die letzte antagonistische Form des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, antagonistisch nicht im Sinn von individuellem Antagonismus, sondern eines aus den gesellschaftlichen Lebensbedingungen der Individuen hervorwachsenden Antagonismus, aber die im Schoß der bürgerlichen Gesellschaft sich entwickelnden Produktivkräfte schaffen zugleich die materiellen Bedingungen zur Lösung dieses Antagonismus. Mit dieser Gesellschaftsformation schließt daher die Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft ab.«[4]

In dem Hefte selbst, das er »Zur Kritik der politischen Ökonomie« betitelte, tat Marx den entscheidenden Schritt über die bürgerliche |268| Ökonomie hinaus, wie sie namentlich durch Adam Smith und David Ricardo entwickelt worden war. Sie gipfelte in der Bestimmung des Warenwerts durch die Arbeitszeit, aber indem sie die bürgerliche Produktion als die ewige Naturform gesellschaftlicher Produktion betrachtete, nahm sie das Wertschaffen als eine natürliche Eigenschaft der menschlichen Arbeit an, wie sie in der individuellen, konkreten Arbeit des einzelnen Menschen gegeben ist, und geriet dadurch in eine Reihe von Widersprüchen, die sie nicht zu lösen vermochte. Dagegen sah Marx in der bürgerlichen Produktion nicht die ewige Naturform, sondern nur eine bestimmte historische Form gesellschaftlicher Produktion, der eine ganze Reihe anderer Formen vorangegangen war. Von diesem Standpunkt aus unterwarf Marx die wertbildende Eigenschaft der Arbeit einer gründlichen Prüfung; er untersuchte, welche Arbeit und warum und wie sie Wert bildet, weshalb Wert nichts ist als festgeronnene Arbeit dieser Art.

So gelangte er an den »Springpunkt«, um den sich das Verständnis der politischen Ökonomie dreht: den zwieschlächtigen Charakter, den die Arbeit in der bürgerlichen Gesellschaft hat. Die individuelle, konkrete Arbeit schafft Gebrauchs-, die unterschiedslose, gesellschaftliche Arbeit schafft Tauschwerte. Soweit die Arbeit Gebrauchswerte hervorbringt, ist sie allen Gesellschaftsformen eigentümlich; als zweckmäßige Tätigkeit zur Aneignung des Natürlichen in der einen oder der anderen Form ist die Arbeit Naturbedingung der menschlichen Existenz, eine von allen sozialen Formen unabhängige Bedingung des Stoffwechsels zwischen Mensch und Natur. Diese Arbeit bedarf des Stoffes zu ihrer Voraussetzung und ist somit nicht die einzige Quelle des von ihr Hervorgebrachten, nämlich des stofflichen Reichtums. Mag das Verhältnis zwischen Arbeit und Naturstoff in den verschiedenen Gebrauchswerten sehr verschieden sein, so enthält der Gebrauchswert stets ein natürliches Substrat.

Anders der Tauschwert. Er enthält keinen Naturstoff, sondern die Arbeit ist seine einzige Quelle und damit auch die einzige Quelle des Reichtums, der aus Tauschwerten besteht. Als Tauschwert ist ein Gebrauchswert gerade so viel wert als der andere, vorausgesetzt, daß er in richtiger Proportion vorhanden ist. »Der Tauschwert eines Palastes kann in bestimmter Anzahl von Stiefelwichsbüchsen ausgedrückt werden. Londoner Stiefelwichsfabrikanten haben umgekehrt den Tauschwert ihrer multiplizierten Büchsen in Palästen ausgedrückt.«[5] Indem sich Waren austauschen, ganz gleichgültig gegen ihre natürliche Existenzweise und ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse, die sie befriedigen sollen, |269| stellen sie trotz ihres buntscheckigen Scheins dieselbe Einheit dar: sie sind Resultate gleichförmiger, unterschiedsloser Arbeit, »der es ebenso gleichgültig, ob sie in Gold, Eisen, Weizen, Seide erscheint, wie es dem Sauerstoff ist, ob er vorkommt im Rost des Eisens, der Atmosphäre, dem Saft der Traube oder dem Blut des Menschen«[6]. Entspringt die Verschiedenheit der Gebrauchswerte aus der Verschiedenheit der die Gebrauchswerte produzierenden Arbeit, so ist tauschwertsetzende Arbeit gleichgültig gegen den besonderen Stoff der Gebrauchswerte und auch gleichgültig gegen die besondere Form der Arbeit selbst. Sie ist gleiche, unterschiedslose, abstrakt allgemeine Arbeit, die sich nicht mehr in der Art, sondern nur noch im Maß unterscheidet, durch die verschiedenen Mengen,die sie in Tauschwerten von verschiedener Größe vergegenständlicht. Die verschiedenen Mengen von abstrakt allgemeiner Arbeit haben ihr einziges Maß an der Zeit, die ihren Maßstab an den natürlichen Zeitmaßen, Stunde, Tag, Woche usw. erhält. Arbeitszeit ist das lebendige Dasein der Arbeit, gleichgültig gegen ihre Form, ihren Inhalt, ihre Individualität. Als Tauschwerte sind alle Waren nur bestimmte Maße festgeronnener Arbeitszeit. Die in den Gebrauchswerten vergegenständlichte Arbeitszeit ist ebenso die Substanz, die sie zu Tauschwerten macht und daher zu Waren, wie sie ihre bestimmte Wertgröße mißt.

Ihr zwieschlächtiger Charakter ist eine gesellschaftliche Form der Arbeit, die der Warenproduktion eigentümlich ist. In dem naturwüchsigen Kommunismus, der sich an der Schwelle der Geschichte aller Kulturvölker findet, war die einzelne Arbeit unmittelbar dem gesellschaftlichen Organismus eingereiht. In den Naturaldiensten und Naturallieferungen des Mittelalters bildete die Besonderheit, nicht die Allgemeinheit der Arbeit, ihr gesellschaftliches Band. In der ländlich-patriarchalischen Familie, wo für den Selbstbedarf der Familie die Frauen spannen und die Männer webten, waren Garn und Leinwand gesellschaftliche Produkte, Spinnen und Weben gesellschaftliche Arbeiten innerhalb der Grenzen der Familie. Der Familienzusammenhang mit seiner naturwüchsigen Teilung der Arbeit drückte dem Produkt der Arbeit seinen eigentümlichen Stempel auf: Garn und Leinwand tauschten sich nicht gegeneinander aus als gleich gültige und gleich geltende Ausdrücke derselben allgemeinen Arbeitszeit. Erst in der Warenproduktion wird die einzelne Arbeit dadurch gesellschaftliche Arbeit, daß sie die Form ihres unmittelbaren Gegensatzes, die Form der abstrakten Allgemeinheit annimmt.

Nun ist die Ware unmittelbare Einheit von Gebrauchs- und Tauschwert, und zugleich ist sie Ware nur in Beziehung auf die anderen |270| Waren. Die wirkliche Beziehung der Waren aufeinander ist der Austauschprozeß. In diesem Prozeß, den die voneinander unabhängigen Individuen eingehen, muß sich die Ware darstellen zugleich als Gebrauchs- und als Tauschwert, als besondere Arbeit, die besondere Bedürfnisse befriedigt und als allgemeine Arbeit, die austauschbar ist gegen gleiche Mengen allgemeiner Arbeit. Der Austauschprozeß der Waren muß den Widerspruch entwickeln und lösen, daß die individuelle Arbeit, die in einer besonderen Ware vergegenständlicht ist, unmittelbar den Charakter der Allgemeinheit haben soll.

Als Tauschwert wird jede einzelne Ware zum Maße der Werte aller anderen Waren. Umgekehrt aber wird jede einzelne Ware, in der alle andern Waren ihren Wert messen, adäquates Dasein des Tauschwerts, wird somit der Tauschwert eine besondere ausschließliche Ware, die durch Verwandlung aller anderen Waren in sie unmittelbar die allgemeine Arbeitszeit des Geldes vergegenständlicht. So ist in der einen Ware der Widerspruch gelöst, den die Ware als solche einschließt, als besonderer Gebrauchswert allgemeines Äquivalent und daher Gebrauchswert für jeden, allgemeiner Gebrauchswert zu sein. Und diese eine Ware ist - Geld.

Im Geld kristallisiert sich der Tauschwert der Waren als eine besondere Ware. Der Geldkristall ist ein notwendiges Produkt des Austauschprozesses, worin verschiedenartige Arbeitsprodukte einander tatsächlich gleichgesetzt und daher tatsächlich in Waren verwandelt werden. Er hat sich instinktartig auf historischem Wege entwickelt. Der unmittelbare Tauschhandel, die naturwüchsige Form des Austauschprozesses, stellt vielmehr die beginnende Umwandlung der Gebrauchswerte in Waren als der Waren in Geld dar. Je mehr sich der Tauschwert entwickelt und je mehr die Gebrauchswerte zu Waren werden, je mehr also der Tauschwert eine freie Gestalt gewinnt und nicht mehr unmittelbar an den Gebrauchswert gebunden ist, um so mehr drängt er zur Geldbildung. Zunächst spielen eine Ware oder auch mehrere Waren von allgemeinstem Gebrauchswert, Vieh, Getreide, Sklaven, die Rolle des Geldes. Sehr verschiedene, mehr oder weniger unpassende Waren haben abwechselnd die Funktion des Geldes verrichtet. Wenn diese Funktion schließlich an die edlen Metalle übergegangen ist, so aus dem Grunde, weil die edlen Metalle die notwendigen physischen Eigenschaften der besonderen Ware besitzen, worin sich das Geldsein aller Waren kristallisieren soll, soweit sie aus der Natur des Tauschwerts unmittelbar hervorgehen: Dauerbarkeit ihres Gebrauchswerts, beliebige Teilbarkeit, Gleichförmigkeit der Teile und Unterschiedslosigkeit aller Exemplare dieser Ware.

|271| Unter den edlen Metallen ist es wieder das Gold, das mehr und mehr zur ausschließlichen Geldware wird. Es dient als Maß der Werte und als Maßstab der Preise, es dient als Zirkulationsmittel der Waren. Durch den Salto mortale der Ware in Gold bewährt sich die in ihr aufgehäufte besondere Arbeit als abstrakt allgemeine, als gesellschaftliche Arbeit; gelingt ihr diese Transsubstantiation nicht, so hat sie ihr Dasein nicht nur als Ware, sondern auch als Produkt verfehlt, denn Ware ist sie nur, weil sie für ihren Besitzer keinen Gebrauchswert hat.

So wies Marx nach, wie und warum, kraft der ihr innewohnenden Werteigenschaft, die Ware und der Warenaustausch den Gegensatz von Ware und Geld erzeugen muß; in dem Gelde, das sich als ein Naturding mit bestimmten Eigenschaften darstellt, erkannte er ein gesellschaftliches Produktionsverhältnis und leitete die verworrenen Erklärungen des Geldes durch die modernen Ökonomen daher ab, daß bald als gesellschaftliches Verhältnis erscheine, was sie eben plump als Ding festzuhalten meinten, und dann wieder als Ding sie necke, was sie kaum als gesellschaftliches Verhältnis fixiert hätten.

Die Fülle des Lichtes, die von dieser kritischen Untersuchung ausging, blendete zunächst mehr, als daß sie erleuchtete, selbst die Freunde des Verfassers. Liebknecht meinte, er sei noch von keiner Schrift so enttäuscht worden wie von dieser, und Miquel fand »wenig wirklich Neues« darin. Lassalle machte sehr schöne Bemerkungen über die künstlerische Darstellung des Heftes, die er neidlos über die Form des »Heraklit« stellte, aber wenn Marx aus diesen »Phrasen« den Verdacht schöpfte, daß Lassalle »vieles Ökonomische« nicht verstanden habe, so war er diesmal auf der richtigen Fährte. Lassalle zeigte alsbald, daß er gerade den »Springpunkt« nicht erkannt hatte, die Unterscheidung zwischen der Arbeit, die in Gebrauchs- und der Arbeit, die in Tauschwerten resultiert.

Wenn das am grünen Holze geschah, wie mußte es nun gar am dürren Holze ausschauen? Engels meinte zwar 1885, Marx habe die erste erschöpfende Theorie des Geldes aufgestellt, und sie sei stillschweigend allgemein angenommen, aber sieben Jahre später erschien im »Handwörterbuch der Staatswissenschaften«, dem Musterwerk bürgerlicher Ökonomie, ein Aufsatz über das Geld, der auf fünfzig Spalten das alte Kauderwelsch breittrat und, ohne Marx auch nur zu erwähnen, das Geldrätsel für ungelöst erklärte.

Wie sollte das Geld auch nicht unerforschlich sein für eine Welt, deren Gott es geworden ist?


[1] Karl Marx: Lord Palmerston, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 9, S. 353-418. <=

[2] Karl Marx/Friedrich Engels: Revue, Mai bis Oktober 1850, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 7, S. 440. <=

[3] Karl Marx: Zur Kritik der politischen Ökonomie, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 13, S. 10. <=

[4] Karl Marx: Zur Kritik der politischen Ökonomie, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 13, S. 8/9. <=

[5] Karl Marx: Zur Kritik der politischen Ökonomie, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 13, S. 16. <=

[6] Karl Marx: Zur Kritik der politischen Ökonomie, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 13, S. 17. <=


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