MLWerke | | | 1842 | | | Marx/Engels |
Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/ Friedrich Engels - Werke. (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 1. Berlin/DDR. 1976. S. 28-77.
1,5. Korrektur
Erstellt am 30.08.1999
Erster Artikel
[»Rheinische Zeitung« Nr. 125 vom 5. Mai 1842]
[»Rheinische Zeitung« Nr. 128 vom 8. Mai 1842]
[»Rheinische Zeitung« Nr. 130 vom 10. Mai 1842]
[»Rheinische Zeitung« Nr. 132 vom 12. Mai 1842]
[»Rheinische Zeitung« Nr. 135 vom 15. Mai 1842]
[»Rheinische Zeitung« Nr. 139 vom 19. Mai 1842]
[»Rheinische Zeitung« Nr. 125 vom 5. Mai 1842]
|28| Zum Erstaunen des ganzen schreibenden und lesenden Deutschlands publizierte die »Preußische Staats-Zeitung« an einem schönen Berliner Frühlingsmorgen ihre Selbstbekenntnisse. Allerdings wählte sie eine vornehme, diplomatische, nicht eben kurzweilige Form der Beichte. Sie gab sich den Schein, ihren Schwestern den Spiegel der Erkenntnis vorhalten zu wollen; sie sprach mystischerweise nur von anderen preußischen Zeitungen, während sie eigentlich von der preußischen Zeitung par excellence, von sich selbst redete.
Diese Tatsache läßt mancherlei Erklärung zu. Cäsar sprach von sich als einer dritten Person. Warum sollte die »Preußische Staats-Zeitung« nicht von dritten Personen als sich selbst sprechen? Kinder, die von sich selbst sprechen, pflegen sich nicht »Ich«, sondern, »Georg« etc. zu nennen. Warum sollte die »Preußische Staats-Zeitung« für ihr »Ich« die »Vossische«, »Spenersche« oder irgendeinen anderen Heiligennamen nicht gebrauchen dürfen?
Die neue Zensurinstruktion war erschienen. Unsere Zeitungen glaubten das Aussehen und die Konventionsbildung der Freiheit adoptieren zu müssen. Auch die »Preußische Staats-Zeitung« war gezwungen, zu erwachen und irgendeinen liberalen - wenigstens selbständigen - Einfall zu haben.
Die erste notwendige Bedingung der Freiheit ist aber Selbsterkenntnis, und Selbsterkenntnis ist eine Unmöglichkeit ohne Selbstbekenntnis.
|29| Man halte daher fest, daß die »Preußische Staats-Zeitung« Selbstbekenntnisse geschrieben hat; man vergesse nie, daß wir hier das erste Erwachen des halboffiziellen Preßkindes zum Selbstbewußtsein erblicken, und alle Rätsel werden sich lösen. Man wird sich überzeugen, daß die »Preußische Staats-Zeitung« »manches große Wort gelassen ausspricht«, und nur unschlüssig bleiben, ob man mehr die Gelassenheit der Größe oder die Größe der Gelassenheit bewundern soll.
Kaum war die Zensurinstruktion erschienen, kaum hatte sich die »Staats-Zeitung« von diesem Schlage erholt, als sie in die Frage ausbricht: »Was hat euch preußischen Zeitungen die größere Zensurfreiheit genützt?«
Offenbar will sie sagen: Was haben mir die vielen Jahre strikter Zensurobservanz genützt? Was ist aus mir, trotz sorgfältigster und allseitigster Beaufsichtigung und Bevormundung, geworden? Und was soll nun gar jetzt aus mir werden? Das Gehen habe ich nicht gelernt, und ein schaulustiges Publikum erwartet Entrechats von der Lendenlahmen! So wirds euch auch sein, meine Schwestern! Laßt uns dem preußischen Volke unsere Schwächen bekennen, doch laßt uns diplomatisch in unserem Bekenntnis sein. Wir sagen ihm nicht geradezu, daß wir uninteressant sind. Wir sagen ihm, daß, wenn die preußischen Zeitungen uninteressant für das preußische Volk, der preußische Staat uninteressant für die Zeitungen ist.
Die kühne Frage der »Staats-Zeitung«, die noch kühnere Antwort sind bloße Präludien ihres Erwachens, traumartige Andeutungen des Textes, den sie durchführen wird. Sie erwacht zum Bewußtsein, sie spricht ihren Geist aus. Lauscht dem Epimenides!
Es ist bekannt, daß die erste theoretische Tätigkeit des Verstandes, der noch halb zwischen Sinnlichkeit und Denken schwankt, das Zählen ist. Das Zählen ist der erste freie theoretische Verstandesakt des Kindes. Laßt uns zählen ruft die »Preußische Staats-Zeitung« ihren Schwestern zu. Die Statistik ist die erste politische Wissenschaft! Ich kenne den Kopf eines Menschen, wenn ich weiß, wieviel Haare er produziert.
Was du willst, daß dir geschehe, das tue anderen. Und wie könnte man uns selbst und gar mich, die »Preußische Staats-Zeitung«, besser würdigen als statistisch! Nicht nur, daß ich so oft erscheine wie irgendeine französische oder englische Zeitung, so wird die Statistik nachweisen, daß ich weniger gelesen werde als irgendeine Zeitung der zivilisierten Welt. Zieht die Beamten ab, die sich halb mißliebig für mich interessieren müssen, rechnet die öffentlichen Lokale ab, denen ein halboffizielles Organ nicht fehlen darf, wer liest mich, ich frage, wer? Berechnet, was ich koste; berechnet, was ich einnehme, und ihr werdet gestehen, daß es kein einträgliches Amt ist, große |30| Worte gelassen auszusprechen. Seht ihr, wie schlagend die Statistik ist, wie das Zählen weitläufigere geistige Operationen überflüssig macht! Also zählt! Zahlentabellen instruieren das Publikum, ohne seinen Affekt zu erregen.
Und die »Staats-Zeitung« stellt sich mit ihrer statistischen Wichtigkeit nicht nur dem Chinesen, nicht nur dem Weltstatisten Pythagoras zur Seite! sie zeigt, daß sie von dem großen Naturphilosophen jüngster Zeit |Lorenz Oken| affiziert ist, der die Unterschiede der Tiere etc. einst in Zahlenreihen darstellen wollte.
So ist die »Preußische Staats-Zeitung« nicht ohne moderne philosophische Grundlagen, wenn sie auch ganz positiv scheint.
Die »Staats-Zeitung« ist allseitig. Sie bleibt nicht bei der Zahl, der Zeitgroße stehen. Sie treibt ihre Anerkennung des quantitativen Prinzips weiter, sie spricht auch die Berechtigung der Raumgröße aus. Der Raum ist das erste, dessen Größe dem Kinde imponiert. Es ist die erste Größe der Welt, die das Kind erfährt. Es hält daher einen großgewachsenen Mann für einen großen Mann, und die kindliche »Staats-Zeitung« erzählt uns, daß dicke Bücher unverhältnismäßig besser sind wie dünne, und nun gar einzelne Blätter, Zeitungen, die täglich nur einen Druckbogen liefern.
Ihr Deutschen könnt euch nun einmal nur umständlich aussprechen! Schreibt recht weitläufige Bücher über Staatseinrichtung, recht grundgelehrte Bücher, die niemand liest als der Herr Verfasser und der Herr Rezensent, aber bedenkt, daß eure Zeitungen keine Bücher sind. Bedenkt, wieviel Bogen auf ein gründliches Werk von drei Bänden gehen! Sucht also den Geist des Tages und der Zeit nicht in den Zeitungen, die euch statistische Tabellen liefern wollen, sondern sucht ihn in den Büchern, deren Raumgröße schon für ihre Gründlichkeit bürgt.
Bedenkt, ihr guten Kinder, daß es sich hier um »gelehrte« Dinge handelt, geht in die Schule der dicken Bücher, und ihr werdet uns Zeitungen schon liebgewinnen wegen unseres luftigen Formats, wegen unserer weltmännischen Leichtigkeit, die wahrhaft erquickend sind, nach den dicken Büchern.
Allerdings! Allerdings! Unsere Zeit hat nicht mehr jenen realen Sinn für Größe, den wir am Mittelalter bewundern. Seht unsere winzigen pietistischen Traktätlein, seht unsere philosophischen Systeme in kleinem Oktav, und nun wendet euren Blick auf die 20 Riesenfolianten des Duns Scotus. Ihr braucht die Bücher nicht zu lesen; schon ihr abenteuerlicher Anblick rührt euer Herz, schlägt eure Sinne, wie etwa ein gotisches Gebäude. Diese naturwüchsiger Riesenwerke wirken materiell auf den Geist; er fühlt sich erdrückt unter der |31| Masse, und das Gefühl der Gedrücktheit ist der Anfang der Ehrfurcht. Ihr habt die Bücher nicht, sie haben euch. Ihr seid ein Akzidens zu ihnen, und so, meint die »Preußische Staats-Zeitung«, solle das Volk ein Akzidens zu seiner politischen Literatur sein.
So ist die »Staats-Zeitung« nicht ohne historische, der gediegenen Zeit des Mittelalters angehörige Grundlagen, wenn sie auch ganz modern redet.
Ist aber das theoretische Denken des Kindes quantitativ: so ist sein Urteil wie sein praktisches Denken zunächst praktisch-sinnlich. Die sinnliche Beschaffenheit ist das erste Band, das es mit der Welt verknüpft. Die praktischen Sinne, vorzugsweise Nase und Mund, sind die ersten Organe, mit denen es die Welt beurteilt. Die kindliche »Preußische Staats-Zeitung« beurteilt daher den Wert der Zeitungen, so ihren eigenen Wert, mit der Nase. Wenn ein griechischer Denker die trockenen Seelen für die besten hält, so hält die »Staats-Zeitung« die »wohlriechenden« Zeitungen für die »guten« Zeitungen. Sie weiß nicht genug den »literarischen Parfüm« der Allgemeinen Augsburger und des »Journal des Débats« anzupreisen. Lobenswerte, seltene Naivität! Großer, allergrößter Pompejus!
Nachdem die »Staats-Zeitung« uns so durch einzelne, dankenswerte Äußerungen tiefe Blicke in ihren Seelenzustand erlaubt hat, faßt sie schließlich ihre Staatsansicht in eine große Reflexion zusammen, deren Pointe die große Entdeckung ist:
»daß in Preußen die Staatsverwaltung und der ganze Organismus des Staates getrennt seien vom politischen Geiste, daher weder für Volk noch für Zeitungen politisches Interesse haben könnten«.
Nach der Ansicht der »Preußischen Staats-Zeitung« hätte also die Staatsverwaltung in Preußen nicht den politischen Geist, oder der politische Geist hätte die Staatsverwaltung nicht. Undelikate »Staats-Zeitung«, zu behaupten, was der ärgste Gegner nicht schlimmer wenden könnte, zu behaupten, daß das wirkliche Staatsleben ohne politischen Geist sei, und daß der politische Geist nicht im wirklichen Staate lebe!
Doch wir dürfen den kindlich-sinnlichen Standpunkt der »Preußischen Staats-Zeitung« nicht vergessen. Sie erzählt uns, daß man bei Eisenbahnen bloß an Eisen und Bahnen, bei Handelsverträgen bloß an Zucker und Kaffee, bei Lederfabriken bloß an Leder zu denken habe. Allerdings, das Kind bleibt bei der sinnlichen Wahrnehmung stehen, es sieht bloß das Einzelne, und die unsichtbaren Nervenfäden, die dieses Besondere mit dem Allgemeinen verknüpfen, die, wie überall, so im Staate, die materiellen Teile zu beseelten Gliedern des geistigen Ganzen machen, sind für das Kind nicht vorhanden. Das Kind glaubt, die Sonne drehe sich um die Erde; das Allgemeine drehe |32|sich um das Einzelne. Das Kind glaubt daher nicht an den Geist, aber es glaubt an Gespenster.
So hält die »Preußische Staats-Zeitung« den politischen Geist für ein französisches Gespenst; und sie denkt das Gespenst zu beschwören, wenn sie ihm Leder, Zucker, Bajonette und Zahlen an den Kopf wirft.
Doch, wird unser Leser einfallen, wir wollten über die »rheinischen Landtagsverhandlungen« debattieren, und statt dessen führt man uns den »unschuldigen Engel«, das greisenhafte Preßkind die »Preußische Staats-Zeitung« vor und repetiert die altklugen Wiegenlieder, mit denen sie sich und ihre Schwestern in gedeihlichen Winterschlaf wieder und wieder einzulullen sucht.
Aber sagt nicht Schiller:
»Und was kein Verstand der Verständigen sieht,
Das übet in Einfalt ein kindlich Gemüt.«
Die »Preußische Staats-Zeitung« hat uns »in aller Einfalt« daran erinnert, daß wir in Preußen so gut wie in England Landstände besitzen, deren Verhandlungen die Tagespresse ja debattieren dürfe, wenn sie könne; denn die »Staats-Zeitung« in großem klassischen Selbstbewußtsein vermeint, es fehle den preußischen Zeitungen nicht an dem Dürfen, sondern am Können. Das letztere gestehen wir ihr vorzugsweise als Privilegium zu, indem wir uns zugleich, ohne weitere Explikation über ihre Potenz, die Freiheit nehmen, den Einfall, den sie in aller Einfalt hatte, zu verwirklichen.
Die Veröffentlichung der landständischen Verhandlungen wird erst eine Wahrheit, wenn dieselben als »öffentliche Tatsachen« behandelt, d.h. Gegenstand der Presse werden. Der letzte rheinische Landtag liegt uns am nächsten.
Wir beginnen mit seinen »Debatten über Preßfreiheit« und müssen vorläufig bemerken, daß, während in dieser Frage unsere eigene positive Ansicht zuweilen als Mitspieler auftritt, wir in den späteren Artikeln mehr als historische Zuschauer den Gang der Verhandlungen begleiten und darstellen werden.
Die Natur der Verhandlungen selbst bedingt diesen Unterschied der Darstellung. In allen übrigen Debatten finden wir nämlich die verschiedenen Meinungen der Landstände auf gleichem Niveau. In der Preßfrage dagegen haben die Gegner der freien Presse manches voraus. Abgesehen von den Stichworten und Gemeinplätzen, die in der Atmosphäre liegen, finden wir bei diesen Gegnern einen pathologischen Affekt, eine leidenschaftliche Eingenommenheit die ihnen eine wirkliche, nicht imaginäre Stellung zur Presse gibt, deren Verteidiger auf diesem Landtag im ganzen kein wirkliches Verhältnis |33|* zu ihrem Schützling haben. Sie haben die Freiheit der Presse nie als Bedürfnis kennengelernt. Sie ist ihnen eine Sache des Kopfes, an der das Herz keinen Teil hat. Sie ist ihnen eine »exotische« Pflanze, mit der sie durch bloße »Liebhaberei« in Konnex stehen. Es geschieht daher, daß ein zu allgemeines vages Räsonnement den besonderen »guten« Gründen der Gegner entgegengestellt wird, und der bornierteste Einfall hält sich für bedeutend, solange ihm seine Existenz nicht genommen ist.
Goethe sagt einmal, dem Maler glückten nur solche weibliche Schönheiten, deren Typus er wenigstens in irgendeinem lebendigen Individuum geliebt habe. Auch die Preßfreiheit ist eine Schönheit - wenn auch gerade keine weibliche - die man geliebt haben muß, um sie verteidigen zu können. Was ich wahrhaft liebe, dessen Existenz empfinde ich als eine notwendige, als eine, deren ich bedürftig bin, ohne die mein Wesen nicht erfülltes, nicht befriedigtes, nicht vollständiges Dasein haben kann. Jene Verteidiger der Preßfreiheit scheinen vollständig da zu sein, ohne daß die Preßfreiheit da wäre.
Pfad: »../me/me01/«
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