Über den Krieg - XXVI | Inhalt | Der Kampf in Frankreich

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 17, 5. Auflage 1973, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 161-166.

Erstellt am 13.12.1998.
1. Korrektur.

Friedrich Engels

Des Kaisers Verteidigung


["The Pall Mall Gazette" Nr. 1788 vom 5. November 1870]

|161| Wie andere große Männer im Unglück, so scheint auch Louis-Napoleon einzusehen, daß er der Welt eine Erklärung für die Ursachen schuldig ist, die ihn, sehr gegen seinen Willen, von Saarbrücken nach Sedan geführt haben. Und so sind wir jetzt in den Besitz eines Dokuments gelangt, das versichert, diese Erklärung zu geben. Da kein Beweis vorhanden ist, weder der Form noch dem Inhalt nach, der irgendeinen Verdacht gegen die Echtheit des Dokuments aufkommen ließe, sondern eher das Gegenteil zutrifft, nehmen wir es für den Augenblick als echt. Schon aus Höflichkeit sind wir dazu beinahe verpflichtet; denn wenn es je ein Dokument gab, das im allgemeinen und im einzelnen die Ansichten bestätigt, die die "Pall Mall Gazette" über den Krieg vertreten hat, so ist es diese kaiserliche Selbstrechtfertigung.

Louis-Napoleon teilt uns mit, er sei über die große zahlenmäßige Überlegenheit der Deutschen genau unterrichtet gewesen, habe aber gehofft, ihr durch einen raschen Einfall nach Süddeutschland entgegenzuwirken, dieses zur Neutralität zu zwingen und sich selbst durch einen ersten Erfolg das Bündnis Österreichs und Italiens zu sichern. Zu diesem Zweck sollten 150.000 Mann in Metz, 100.000 Mann in Straßburg und 50.000 Mann in Châlons zusammengezogen werden. Mit den ersten beiden rasch zusammengezogenen Truppenkörpern sollte der Rhein bei Karlsruhe überschritten werden, während die 50.000 Mann von Châlons auf Metz marschieren sollten, um feindlichen Bewegungen in den Flanken oder im Rücken der vorrückenden Truppen zu begegnen. Aber dieser Plan schwand sofort dahin, als der Kaiser nach Metz kam. Hier fand er nur 100.000 Mann, in Straßburg waren nur 40.000, während Canroberts Reserven nirgendwo und überall waren, nur nicht in Châlons, wo sie sein sollten. Ferner waren die |162| Truppen mit den ersten Erfordernissen für einen Feldzug nicht versehen, sie hatten weder Tornister noch Zelte, weder Feldkessel noch Kochgeschirre. Überdies war über den Aufenthalt des Feindes nichts bekannt. Alles in allem verwandelte sich die kühne, schneidige Offensive von Anfang an in eine sehr bescheidene Defensive.

Das alles wird für die Leser der "Pall Mall Gazette" kaum etwas Neues sein. Unsere Artikel "Über den Krieg" zeichneten den obigen Angriffssplan als den vernünftigsten auf, den die Franzosen befolgen konnten, und spürten den Gründen nach, aus denen er aufgegeben werden mußte. |Siehe: "Über den Krieg - II" und "Über den Krieg - IV"| Aber eine Tatsache, die unmittelbare Ursache für seine ersten Niederlagen, erwähnt der Kaiser nicht: Warum ließ er seine verschiedenen Korps in der fehlerhaften Angriffsposition dicht an der Grenze stehen, wenn er es schon längst aufgegeben hatte, anzugreifen? Was seine Zahlen anbetrifft, so werden wir sie weiter unten kritisieren.

Die Ursachen für den Zusammenbruch der französischen Militärverwaltung sieht der Kaiser in

"den Mängeln unserer Militärorganisation, wie sie in den letzten fünfzig Jahren bestanden hat".

Zweifellos aber war es nicht das erste Mal, daß diese Organisation einer Prüfung unterzogen wurde. Während des Krimkriegs hatte sie recht gut funktioniert. Sie brachte glänzende Ergebnisse zu Beginn des italienischen Krieges und wurde damals sowohl in England wie in Deutschland für das Muster einer Armeeorganisation gehalten. Ohne Zweifel haben sich schon damals viele Mängel gezeigt. Aber der Unterschied zwischen damals und heute ist der: Damals funktionierte sie - heute nicht. Und der Kaiser gibt keine Erklärung für diesen Unterschied, den er doch gerade hätte erklären müssen - aber damit hätte er den wundesten Punkt des Zweiten Kaiserreichs berührt, nämlich die Korruption und Schiebungen aller Art, die den Mechanismus dieser Organisation gehemmt hatten.

Als die zurückgehende Armee Metz erreicht hatte,

"war ihre effektive Stärke durch die Ankunft des Marschalls Canrobert mit zwei Divisionen und der Reserve auf 140.000 Mann gebracht worden".

Diese Aufstellung, verglichen mit den Zahlen der Truppen, die gerade jetzt in Metz die Waffen niedergelegt haben, zwingt uns, die Zahlenangaben des Kaisers ein wenig genauer anzusehen. Die Armee von Straßburg sollte sich aus den Korps von Mac-Mahon, de Failly und Douay zusammensetzen, insgesamt zehn Divisionen, und sollte 100.000 Mann umfassen; aber jetzt |163| heißt es, sie habe 40.000 Mann nicht überschritten. Sofern wir Douays drei Divisionen gänzlich außer acht lassen, obgleich eine von ihnen bei Wörth oder kurz danach Mac-Mahon zu Hilfe kam, so würde das weniger als 6.000 Mann je Division (13 Bataillone) oder bloß 430 Mann je Bataillon ergeben, selbst wenn wir keinen einzigen Mann für Kavallerie und Artillerie rechen. Nun, bei allem Zutrauen, das wir dem Zweiten Kaiserreich in puncto Korruption und Verschwendung entgegenzubringen geneigt sind, können wir uns doch nicht zu dem Glauben aufschwingen, daß 90 Bataillone in der Armee gewesen seien, deren Effektivstärke - zwanzig Tage, nachdem die Reserven und Beurlaubten aufgerufen worden waren - durchschnittlich 430 statt 900 Mann betragen habe. Die Armee von Metz bestand aus der Garde und zehn Liniendivisionen, also 161 Bataillonen; und wenn wir die 100.000 Mann nehmen, die nach dem Pamphlet nur aus Infanterie bestanden, ohne jede Rücksicht auf Kavallerie und Artillerie, so ergäbe das auch nicht mehr als 620 Mann je Bataillon, was ohne Zweifel unter der Wirklichkeit liegt. Noch merkwürdiger ist, daß diese Armee nach dem Rückzug auf Metz durch die Ankunft der zwei Divisionen von Canrobert und der Reserven auf 140.000 Mann anwuchs. Die Zuzüge bestanden also aus 40.000 Mann. Da aber die "Reserven", die nach Spichern in Metz ankamen, nur aus Kavallerie und Artillerie bestehen konnten - war doch die Garde schon lange vorher dort eingetroffen -, so können sie nicht höher als mit 20.000 Mann angesetzt werden; dann bleiben die anderen 20.000 Mann für Canroberts zwei Divisionen, was bei 25 Bataillonen 800 Mann je Bataillon ergäbe. Das würde bedeuten, daß Canroberts Bataillone, die die unfertigsten von allen waren, nach dieser Rechnung weit stärker gewesen wären als jene, die lange vorher versammelt und bereitgestellt waren. Wenn die Armee von Metz vor den Schlachten des 14., 16. und 18. August nur 140.000 Mann zählte, wie kommt es, daß nach den Verlusten dieser drei Tage - gewiß nicht weniger als 50.000 Mann -, nach den Verlusten der späteren Ausfälle und nach den Todesfällen durch Krankheit Bazaine noch 173 000 Gefangene an die Preußen übergeben konnte? Wir sind auf diese Zahlen nur eingegangen, um zu zeigen, daß sie einander und allen bekannten Tatsachen des Feldzugs widersprechen. Wir müssen sie sämtlich als durchaus unkorrekt ablehnen.

Außer der Armeeorganisation gab es noch andere Umstände, die den Siegesflug des kaiserlichen Adlers hemmten: erstens "das schlechte Wetter", dann "das Gewicht des Gepäcks" und schließlich "die absolute Ungewißheit, in der wir stets über Aufenthaltsort und Stärke der feindlichen Armeen blieben ".

|164| In der Tat drei sehr verdrießliche Umstände! Aber das schlechte Wetter war für beide Parteien da und bei all seinen frommen Hinweisen auf die göttliche Vorsehung hat König Wilhelm nicht ein einziges Mal die Tatsache erwähnt, daß auf die deutschen Stellungen die Sonne schien, während es auf die französischen regnete. Auch waren die Deutschen nicht unbelastet mit Gepäck. Was die Ungewißheit über den Aufenthalt des Feindes an betrifft, so existiert ein Brief Napoleons I. an seinen Bruder Joseph, der sich in Spanien über dieselbe Schwierigkeit beklagt hatte. Der Brief enthält alles andere als Komplimente für Generale, die solche Klagen führen. In ihm heißt es, sie seien selber schuld, wenn sie über den Aufenthalt des Feindes nichts wissen; sie bewiesen damit, daß sie ihre Sache nicht verstehen. Man zweifelt bisweilen, wenn man diese Entschuldigungen für schlechte Feldherrnkunst liest, ob dies Pamphlet wirklich für Erwachsene geschrieben sei.

Der Bericht, den Louis-Napoleon über seine eigene Rolle gibt, wird seinen Freunden nicht sehr gefallen. Nach den Schlachten bei Wörth und Spichern "entschloß er sich sofort, die Armee nach dem Lager von Châlons zurückzuführen". Aber dieser Plan, obgleich zunächst vom Ministerrat gutgeheißen, wurde zwei Tage später als geeignet betrachtet, "einen kläglichen Eindruck auf die öffentliche Meinung zu machen", und nach Empfang eines entsprechenden Briefs von Herrn E. Ollivier (!) gab der Kaiser den Plan auf. Er führte die Armee auf das linke Moselufer, und dann " "keine allgemeine Schlacht, sondern nur Teilkämpfe erwartend" - verließ er sie und fuhr nach Châlons. Kaum war er fort, da entbrannten die Schlachten vom 16. und 18. August, und Bazaine und seine Armee wurden in Metz eingeschlossen. In der Zwischenzeit beriefen die Kaiserin und das Ministerium, ihre Machtbefugnisse überschreitend und hinter dem Rücken des Kaisers, die Kammer ein. Mit dem Zusammentritt dieser außerordentlich mächtigen Körperschaft, des Corps législatif der Arkadier, war das Schicksal des Kaiserreichs besiegelt. Die Opposition - sie bestand bekanntlich aus 25 Abgeordneten - wurde allmächtig und "lähmte den Patriotismus der Mehrheit und die Aktivität der Regierung", die, wie wir uns alle erinnern, nicht die Regierung des glattzüngigen Ollivier, sondern die des groben Palikao war.

"Von dieser Zeit an schienen die Minister zu fürchten, den Namen des Kaisers auszusprechen; und er, der die Armee verlassen und das Kommando nur aufgegeben hatte, um die Zügel der Regierung wieder aufzunehmen, entdeckte bald, daß es für ihn unmöglich sein werde, seine Rolle zu Ende zu spielen."

In der Tat sah er sich zu der Einsicht genötigt, daß er eigentlich abgesetzt, daß er unmöglich geworden war. Die meisten Leute mit einiger |165| Selbstachtung würden unter diesen Umständen abgedankt haben. Aber nein, seine Unentschlossenheit, um den gelindesten Ausdruck zu gebrauchen, dauert an, und er folgt Mac-Mahons Armee nur als Ballast, zu schwach, etwas zu tun, aber stark genug, zu verhindern, daß etwas getan werde. Die Regierung in Paris besteht darauf, daß Mac-Mahon eine Bewegung zum Entsatz Bazaines mache. Mac-Mahon weigert sich, weil das bedeuten würde, seine Armee ins Verderben zu stürzen. Palikao besteht darauf.

"Der Kaiser machte keine Opposition. Es konnte nicht seine Absicht sein, sich dem Rat der Regierung und der Kaiserin-Regentin entgegenzustellen, die unter den größten Schwierigkeiten soviel Klugheit und Energie gezeigt hatte."

Wir bewundern die Sanftmut des Mannes, der zwanzig Jahre lang behauptet hatte, daß die Unterwerfung unter seinen persönlichen Willen die einzige Rettung für Frankreich sei, und der jetzt, als "ein Feldzugsplan von Paris aus diktiert wurde, der den elementarsten Prinzipien der Kriegskunst widersprach", keine Opposition machte, weil es niemals seine Absicht sein konnte, sich dem Rat der Kaiserin-Regentin entgegenzustellen, die usw. usw.!

Die Beschreibung des Zustandes, in dem sich die Armee befand, als jener verhängnisvolle Marsch unternommen wurde, ist in allen Einzelheiten eine genaue Bestätigung unserer damaligen Meinung darüber. |Siehe: "Über den Krieg - XI" und "Über den Krieg - XV"| Sie enthält nur den einen mildernden Umstand: De Faillys Korps brachte es wenigstens während seines Rückzugs durch Eilmärsche zuwege, ohne Gefecht "fast sein ganzes Gepäck" zu verlieren. Aber das Korps scheint diesen Vorteil nicht gewürdigt zu haben.

Die Armee war am 21. August nach Reims gegangen. Am 23. rückte sie auf dem direkten Weg nach Verdun und Metz bis an die Suippes bei Bétheniville vor. Aber Verpflegungsschwierigkeiten zwangen Mac-Mahon, ohne Zögern zu einer Eisenbahnlinie zurückzukehren; infolgedessen wurde am 14. eine Bewegung nach links gemacht und Rethel erreicht. Der ganze 25. wurde damit verbracht, Proviant an die Truppen auszugeben. Am 26. ging das Hauptquartier nach Tourteron, zwölf Meilen weiter östlich; am 27. nach Chesne-le-Populeux, sechs Meilen weiter. Hier fand Mac-Mahon heraus, daß acht deutsche Armeekorps dicht um ihn herum stünden, und gab Befehl, sich wieder nach Westen zurückzuziehen; aber in der Nacht liefen ausdrückliche Befehle aus Paris ein, er solle nach Metz marschieren.

|166| "Unzweifelhaft hätte der Kaiser diese Befehle widerrufen können, aber er war entschlossen, die Entscheidung der Regentschaft nicht zu durchkreuzen."

Diese tugendhafte Resignation zwang Mac-Mahon, zu gehorchen, und so erreichte er am 28. Stonne, sechs Meilen weiter östlich. Aber "diese Befehle und Gegenbefehle verursachten Verzögerungen in den Bewegungen". In der Zwischenzeit

"hatte die preußische Armee Eilmärsche unternommen, während wir, belastet mit Gepäck" (wieder!), "mit ermüdeten Truppen für einen Marsch von fünfundzwanzig Meilen sechs Tage gebraucht hatten".

Dann kamen die Schlachten vom 30. und 31. August und 1. September und die Katastrophe, die sehr ausführlich, aber ohne jede neue Einzelheit erzählt wird. Und dann kommt die Moral, die daraus zu ziehen sei:

"Gewiß war der Kampf ungleich; aber er würde länger gedauert haben und für unsere Waffen minder verzweifelt gewesen sein, wenn nicht die militärischen Operationen unaufhörlich politischen Erwägungen untergeordnet worden wären."

Der Sturz des Zweiten Kaiserreichs und all dessen, was mit ihm verbunden ist, ruft bei niemand Mitleid hervor - das ist sein Schicksal. Ihm scheint jenes Mitleid völlig versagt zu bleiben, das fast allen, die großes Unglück haben, zuteil wird. Sogar "honneur au courage malheureux" |"Ehre dem Mut im Unglück"| - ein Ausdruck, den man heute in Frankreich nicht ohne eine gewisse Ironie aussprechen kann - scheint dem Zweiten Kaiserreich versagt zu sein.

Wir zweifeln, daß Napoleon unter diesen Umständen viel Nutzen von einem Dokument haben wird, nach dem in jedem einzelnen Fall seine überragende strategische Einsicht durch törichte, von politischen Motiven diktierte Befehle der Pariser Regierung beiseite geschoben wurde, während seine Macht, diese törichten Befehle zu annullieren, von seinem unbegrenzten Respekt vor der Regentschaft der Kaiserin zunichte gemacht wurde. Das Beste, was von diesem ungewöhnlich jämmerlichen Pamphlet gesagt werden kann, ist, daß es zugibt, wie unvermeidlich die Dinge im Kriege schiefgehen müssen, "wenn die militärischen Operationen unaufhörlich politischen Erwägungen untergeordnet werden".