Über den Krieg - III | Inhalt | Die preußischen Siege
Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 17, 5. Auflage 1973, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 22-26.
Erstellt am 13.12.1998.
1. Korrektur.
["The Pall Mall Gazette" Nr. 1710 vom 6. August 1870]
|22| Am 28. Juli traf der Kaiser in Metz ein und übernahm am folgenden Morgen das Kommando der Rheinarmee. Nach napoleonischen Traditionen hätte dieser Tag den Beginn aktiver Operationen bedeuten müssen. Aber eine Woche ist seitdem vergangen, und wir haben noch nicht gehört, daß die Rheinarmee - als Ganzes - sich bewegt hätte. Am 30. war die unbedeutende preußische Macht in Saarbrücken imstande, eine französische Rekognoszierung zurückzutreiben. Am 2. August nahm die zweite Division (General Bataille) des II. Armeekorps (General Frossard) die Anhöhen südlich von Saarbrücken und trieb den Feind durch ein Bombardement zur Stadt hinaus, versuchte aber nicht, den Fluß zu überschreiten und die Höhen, die auf dem nördlichen Ufer die Stadt beherrschen, zu erstürmen. So wurde durch diesen Angriff die Saarlinie nicht durchbrochen. Seitdem sind keine weiteren Nachrichten von einem französischen Vorstoß eingegangen; und so ist der durch die Kämpfe vom 2. August gewonnene Vorteil gleich Null.
Nun ist es aber kaum zweifelhaft, daß der Kaiser, als er Paris verließ und nach Metz ging, beabsichtigte, sofort über die Grenze vorzurücken. Hätte er dies getan, so wäre er imstande gewesen, die feindlichen Aufmarschvorbereitungen recht ernstlich in Unordnung zu bringen. Am 29. und 30. Juli waren die deutschen Armeen noch immer von einer Konzentration überaus weit entfernt. Die Süddeutschen strebten immer noch von verschiedenen Orten aus mit der Bahn und zu Fuß zu den Rheinbrücken. Die preußische Reservekavallerie zog in endlosen Kolonnen durch Koblenz und Ehrenbreitstein und marschierte südwärts. Das VII. Armeekorps befand sich zwischen Aachen und Trier, weit entfernt von allen Eisenbahnlinien. Das X. Korps verließ Hannover und die Garde Berlin mit der Bahn. Ein entschlossener Vormarsch in diesem Moment hätte wahrscheinlich die Franzosen bis zu den Außenforts von Mainz gebracht und ihnen beträcht- |23| liche Vorteile über die weichenden deutschen Kolonnen gesichert, hätte ihnen vielleicht sogar ermöglicht, eine Brücke über den Rhein zu schlagen und sie durch einen Brückenkopf auf dem rechten Ufer zu sichern. Auf alle Fälle wäre der Krieg in Feindesland getragen worden und die moralische Wirkung auf die französischen Truppen wäre ausgezeichnet gewesen.
Warum hat keine derartige Vorwärtsbewegung stattgefunden? Aus dem sehr einfachen Grunde: Wenn schon die französischen Soldaten bereit waren, so waren es die Intendanturen nicht. Wir brauchen keinem der Gerüchte, die von deutscher Seite kommen, zu glauben; wir haben das Zeugnis des Hauptmanns Jeannerod, eines ehemaligen französischen Offiziers, der Korrespondent des "Temps" bei der Armee ist. Er stellt ausdrücklich fest, daß die Verteilung des Feldzugsproviants erst am 1. August begann, daß die Truppen nicht genügend Feldflaschen, Kochgeschirr und andere Lagerutensillen hatten, das Fleisch verdorben und das Brot oft muffig war. Man wird wahrscheinlich sagen, die Armee des Zweiten Kaiserreichs ist bis jetzt von dem Zweiten Kaiserreich selbst geschlagen worden. Von einem Regime, das seine Stützen durch alle althergebrachten Mittel der Geschäftemacherei korrumpieren muß, kann nicht erwartet werden, daß es damit vor der Armeeverwaltung haltmacht. Dieser Krieg war nach dem Geständnis von Herrn Rouher seit langer Zeit vorbereitet; der Anschaffung von Vorräten, besonders von Ausrüstungsgegenständen, war augenscheinlich bei der Vorbereitung die wenigste Aufmerksamkeit geschenkt worden. Und gerade in dieser Beziehung kommen solche Unregelmäßigkeiten vor, daß sie in der kritischsten Periode des Feldzugs eine Verzögerung von einer Woche verursachen.
Diese eine Woche Verzögerung veränderte die Lage der Deutschen bedeutend. Sie gab ihnen Zelt, ihre Truppen an die Front zu bringen und sie in den vorgesehenen Stellungen zu sammeln. Unsere Leser kennen unsere Vermutung, daß gegenwärtig alle deutschen Kräfte auf dem linken Rheinufer konzentriert sind und der französischen Armee mehr oder weniger unmittelbar gegenüberstehen. Alle offiziellen und privaten Berichte, die wir seit Dienstag, als wir der "Times" die Möglichkeit gaben, alle Meinungen, die sie zu dieser Frage gehabt hat, bei uns zu entlehnen, bestätigen unsere Ansicht; und heute morgen schwört sie, es seien ihre eigenen. Die drei Armeen unter Steinmetz, dem Prinzen Friedrich Karl und dem Kronprinzen repräsentieren eine Gesamtzahl von dreizehn Armeekorps oder wenigstens 430.000 bis 450.000 Mann. Die Gesamtkräfte, die ihnen gegenüberstehen, können bei sehr günstiger Schätzung 330.000 bis 350.000 ausgebildete Soldaten nicht wesentlich über- |24| steigen. Sollten sie stärker sein, so muß dieser Überschuß aus unausgebildeten und erst unlängst formierten Bataillonen bestehen. Aber die deutschen Kräfte repräsentieren bei weitem noch nicht die Gesamtmacht Deutschlands. Allein an Feldtruppen sind drei Armeekorps (das I., VI. und XI.) in die obige Schätzung nicht einbezogen worden. Wo sie sind, wissen wir nicht. Wir wissen, daß sie ihre Garnisonen verlassen haben, und wir haben Regimenter des XI. Korps auf dem linken Rheinufer und in der bayrischen Pfalz festgestellt. Wir wissen ebenfalls sicher, daß gegenwärtig in Hannover, Bremen und Umgegend keine Truppen außer der Landwehr vorhanden sind. Dies könnte uns zu dem Schluß führen, daß zumindest der größere Teil dieser drei Korps ebenfalls an die Front befördert worden ist; in diesem Fall würde die zahlenmäßige Überlegenheit der Deutschen etwa um 40.000 bis 60.000 Mann vergrößert worden sein. Es würde uns nicht überraschen, wenn sogar eine Anzahl von Landwehrdivisionen an die Front in die Saargegend geschickt worden wäre. Es stehen jetzt 210.000 Mann der Landwehr vollkommen bereit, und 180.000 Mann der vierten Linienbataillone u.a. sind fast ausmarschbereit. Einige davon könnten für den ersten entscheidenden Schlag zur Verfügung stehen. Es wäre falsch zu vermuten, daß diese Truppen lediglich auf dem Papier stehen. Die Mobilmachung von 1866 hat bewiesen, daß die Sache funktioniert, und die gegenwärtige Mobilmachung hat erneut bewiesen, daß mehr ausgebildete Leute marschbereit sind, als gebraucht werden. Die Zahlen erscheinen unglaubhaft, aber mit ihnen ist die militärische Stärke Deutschlands nicht einmal erschöpft.
So steht der Kaiser am Ende dieser Woche einer zahlenmäßig überlegenen Macht gegenüber. Wenn er in der letzten Woche zwar willens, aber unfähig war vorzurücken, so dürfte er jetzt zum Vormarsch sowohl unfähig als auch nicht willens sein. Daß er die Stärke seines Gegners ahnt, wird durch den Bericht aus Paris angedeutet, daß 250.000 Preußen zwischen Saarlouis und Neunkirchen zusammengezogen sind. Was zwischen Neunkirchen und Kaiserslautern ist, darüber schweigt der Pariser Bericht. Es ist darum möglich, daß die Inaktivität der französischen Armee bis zum Donnerstag teilweise durch einen Wechsel im Feldzugsplan begründet war; vielleicht beabsichtigen die Franzosen, statt anzugreifen, in der Defensive zu bleiben und die Überlegenheit der bedeutend größeren Schlagkraft auszunutzen, welche Hinterlader und gezogene Kanonen einer Armee geben, die den Angriff in verschanzter Position erwartet. Wenn dies aber beschlossen worden ist, so wird der Beginn des Feldzugs für die Franzosen sehr enttäuschend sein. Halb Lothringen und das Elsaß ohne regelrechte Schlacht zu opfern - und wir bezweifeln, daß eine gute Stellung für eine so große |25| Armee näher an der Grenze als bei Metz zu finden sein wird -, ist für den Kaiser ein bedenkliches Unternehmen.
Gegen eine solche Bewegung der Franzosen würden die Deutschen den bereits erläuterten Plan entwickeln. Sie würden versuchen, ihren Gegner in eine große Schlacht zu verwickeln, ehe er Metz erreicht haben kann. Die Deutschen würden in der Gegend zwischen Saarlouis und Metz vorstoßen. Sie würden auf alle Fälle versuchen, die französischen verschanzten Stellungen zu überflügeln und deren Verbindungen mit dem Hinterland zu unterbrechen.
Eine Armee von 300.000 Mann braucht beträchtliche Proviantmengen und kann sich nicht gestatten, daß ihre Versorgungslinien auch nur für wenige Tage unterbrochen werden. So könnte sie gezwungen sein, aus den Stellungen herauszukommen und im offenen Felde zu kämpfen; damit würde der Vorteil der festen Stellung verloren sein. Was auch immer geschehen mag, wir dürfen sicher sein, daß bald etwas geschehen muß. Dreiviertel Millionen Männer können nicht lange auf einem Raum von fünfzig Quadratmeilen konzentriert bleiben. Die Unmöglichkeit der Verpflegung solcher Menschenmassen wird die eine oder andere Seite zwingen, sich in Marsch zu setzen.
Um zum Abschluß zu kommen: Wir wiederholen, daß wir von der Annahme ausgehen, daß beide, Franzosen wie Deutsche, jeden verfügbaren Mann an die Front gebracht haben, um ihn an der ersten großen Schlacht teilnehmen zu lassen. In diesem Fall ist es immer noch unsere Meinung, daß die Deutschen eine zahlenmäßige Überlegenheit haben, die hinreichen muß, ihnen den Sieg zu sichern - sofern nicht große Fehler auf ihrer Seite begangen werden. Wir werden in dieser Annahme durch alle offiziellen und privaten Berichte bestärkt. Aber natürlich ist dies alles nicht absolut sicher. Wir haben unsere Schlüsse aus Anzeichen zu ziehen, welche trügerisch sein können. Wir wissen nicht, welche Dispositionen gerade getroffen werden, während wir dies schreiben; und es ist unmöglich vorauszusehen, welche Schnitzer oder genialen Schläge von den Feldherren auf beiden Seiten noch gemacht werden können.
Unsere letzte Bemerkung heute betrifft die Erstürmung der Linien von Weißenburg im Elsaß durch die Deutschen. Die Truppen, die auf deutscher Seite kämpften, gehörten dem preußischen V. und XI. und dem bayrischen II. Armeekorps an. Wir haben auf diese Weise eine unmittelbare Bestätigung dafür, daß nicht nur das XI. Korps, sondern die gesamten Hauptkräfte des Kronprinzen sich in der Pfalz befinden. Das Regiment, das im Bericht als "des Königs Gardegrenadiere" erwähnt wird, ist das 7. oder 2. westpreußische Grenadierregiment, das wie das 58. Regiment zum |26| V. Armeekorps gehört. Es ist ein preußisches Prinzip, stets erst die Gesamtmacht eines Armeekorps einzusetzen, bevor Truppen eines anderen Korps hinzugezogen werden. Nun, hier sind Truppen von drei Armeekorps - Preußen und Bayern - mit einer Aufgabe beschäftigt worden, die höchstens ein Korps erfordert hätte. Das sieht so aus, als ob die Anwesenheit von drei Korps, die das Elsaß bedrohen, dazu dienen sollte, Eindruck auf die Franzosen zu machen. Ein Angriff das Rheintal aufwärts würde überdies bei Straßburg zum Stehen gebracht werden. Und ein Flankenmarsch durch die Vogesen würde die Pässe durch Bitsch, Pfalzburg und Lützelstein blockiert finden, kleine Festungen, die ausreichen, die Heerstraßen zu versperren. Wir vermuten, daß, während drei oder vier Brigaden dieser deutschen Armeekorps Weißenburg attackierten, das Gros dieser Korps über Landau und Pirmasens nach Zweibrücken marschierte. Wären jene Brigaden erfolgreich, so würden ein paar von Mac-Mahons Divisionen in der entgegengesetzten Richtung - zum Rhein - marschieren. Dort wären sie vollkommen harmlos, weil jeder Einfall in die pfälzische Ebene bei Landau und Germersheim aufgehalten würde.
Das Gefecht bei Weißenburg wurde augenscheinlich mit einer solchen numerischen Überlegenheit geführt, die den Erfolg fast von vornherein sicherte. Seine moralische Wirkung als erstes ernsthaftes Gefecht des Krieges muß notwendigerweise groß sein, zumal die Erstürmung einer befestigten Stellung stets als eine schwierige Sache angesehen wird. Daß die
Deutschen die Franzosen trotz gezogener Geschütze, Mitrailleusen und Chassepots mit der Spitze des Bajonetts aus den befestigten Stellungen herausgetrieben haben, wird auf beide Armeen Eindruck machen. Es ist zweifellos das erste Beispiel, wo das Bajonett gegen Hinterlader erfolgreich gewesen ist, und deswegen wird diese Aktion denkwürdig bleiben.
Aus demselben Grunds wird sie Napoleons Pläne in Unordnung bringen. Diese Nachricht kann der französischen Armee nicht - auch nicht mit der größten Abschwächung - bekanntgegeben werden, es sei denn zusammen mit Erfolgsmeldungen von anderen Schauplätzen. Und sie kann nicht länger als höchstens zwölf Stunden geheimgehalten werden. Wir dürfen deshalb erwarten, daß der Kaiser seine Kolonnen in Bewegung setzen wird, um nach Erfolgen Ausschau zu halten; und es wäre erstaunlich, wenn wir nicht bald Berichte von französischen Siegen haben sollten. Aber zur selben Zeit werden sich wahrscheinlich die Deutschen in Marsch setzen, und die Spitzen der feindlichen Kolonnen werden an mehr als einer Stelle in Fühlung kommen. Der heutige oder spätestens der morgige Tag dürfte das erste bedeutendere Treffen bringen.