Der Fall von Metz | Inhalt | Des Kaisers Verteidigung

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 17, 5. Auflage 1973, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 158-160.

Erstellt am 13.12.1998.
1. Korrektur.

Friedrich Engels

Über den Krieg - XXVI


["The Pall Mall Gazette" Nr. 1787 vom 4. November 1870]

|158| Es besteht kein Grund mehr, daran zu zweifeln, daß die Armee, die sich in Metz ergab, tatsächlich 173.000 Mann zählte, davon 140.000 Waffenfähige, während etwas mehr als 30.000 krank und verwundet waren. Die "Daily News" meldet uns in einem Telegramm aus Berlin die angeblich genauen Einzelheiten über diese Truppen: 67 Infanterieregimenter, 13 Bataillone Chasseurs-à-pied, 18 vierte und Depotbataillone; 36 Kavallerieregimenter, nämlich: 10 Regimenter Kürassiere, 1 Regiment Guides, 11 Regimenter Dragoner, 2 Regimenter Ulanen, 3 Regimenter Husaren, 6 Regimenter Chasseurs-à-cheval und 3 Regimenter Chasseurs d'Afrique, außerdem 6 Depotschwadronen. Es ist anzunehmen, daß diese Darstellung aus dem preußischen Generalstab in Berlin stammt und entweder einen Auszug enthält aus dem, was er aus früheren und indirekten Quellen über die Zusammensetzung der französischen Truppen in Metz erfahren hat, oder auch aus den französischen Listen, die den Siegern bei der Übergabe ausgehändigt wurden. Das letztere erscheint uns am wahrscheinlichsten. Wir wissen, daß sich in Metz an Infanterie befanden: die Garde (8 Regimenter = 30 Bataillone und 1 Bataillon Jäger), das II. Korps (Frossard, 3 Divisionen), das III. (Decaen, zuletzt Bazaine, 4 Divisionen), das IV. (Ladmirault, 3 Divisionen), das VI. (Canrobert, 3 Divisionen) und 1 Division des V. Korps (de Failly). Das sind zusammen 14 Liniendivisionen, die jede 1 Bataillon Jäger und 4 Regimenter oder 12 Bataillone der Linie enthalten, mit Ausnahme von zwei Divisionen Canroberts, die keine Jäger hatten. Das ergäbe 12 Jägerbataillone und 168 Linienbataillone oder, mit der Garde, die Gesamtzahl von 13 Jägerbataillonen und 198 Infanteriebataillonen und, mit den 18 Depotbataillonen, alles in allem 229 Bataillone. Das ist etwas mehr als die in der "Daily News" genannte Gesamtsumme von 221 Batail- |159| lonen. Andererseits ergeben sich nach dieser Liste nur 64 Infanterieregimenter, während unser Zeitungskollege von der "Daily News" 67 anführt. Wir müssen deshalb annehmen, daß die fehlenden drei Regimenter die Garnison von Metz bildeten und deshalb in der Aufstellung der "Rheinarmee" fehlen. Die Differenz in der Zahl der Bataillone ist leicht erklärlich. Die Verluste vieler Regimenter während der Kämpfe im August und der Ausfälle im September und Oktober, ebenso die Verluste durch Krankheit müssen so groß gewesen sein, daß aus drei Bataillonen zwei, vielleicht sogar nur eins gebildet wurden.

Daß eine solche Streitmacht, so groß wie Napoleons I. Armee bei Leipzig, überhaupt zur Übergabe gezwungen werden konnte, ist eine in der Kriegsgeschichte noch nie dagewesene Tatsache, und sogar jetzt, nachdem sie geschehen ist, fast unglaublich. Aber sie wird noch unbegreiflicher, wenn wir die Stärke dieser Armee mit der der Sieger vergleichen. Am 18. August wurde Bazaine von den Höhen von Gravelotte unter die Geschütze der Forts von Metz zurückgeworfen; wenige Tage später war die Festung vollständig eingeschlossen. Aber von der Armee, die bei Gravelotte gekämpft hatte, wurden 3 Armeekorps oder 75 Bataillone unter dem Kronprinzen von Sachsen spätestens am 24. August abgetrennt, denn drei Tage später schlug ihre Kavallerie Mac-Mahons Chasseurs-à-cheval bei Buzancy. Es blieben vor Metz 7 Armeekorps oder 175 Bataillone und 12 Landwehrbataillone, insgesamt 187 Bataillone, um eine Armee von wenigstens 221 Bataillonen einzuschließen! Zu dieser Zeit muß Bazaine 160.000 Mann, wenn nicht mehr, zur Verfügung gehabt haben. Gewiß hatten die Preußen alles unternommen, um durch frische Kräfte aus ihren Reservetruppen die Verluste der letzten Schlachten auszugleichen; aber es kann unmöglich angenommen werden, daß sie ihre Bataillone wieder auf die volle Stärke von 1.000 Mann gebracht haben. Sogar wenn man annähme, daß dies der Fall gewesen wäre - mit Ausnahme der Landwehr, deren Bataillone nur 500 oder 600 Mann zählen -, so hätten die Preußen nicht mehr als 182.000 Mann oder, mit Kavallerie und Artillerie, etwa 240.000 Mann gehabt, also nur um die Hälfte mehr als die in Metz eingeschlossene Armee. Und diese 240000 Mann waren über eine Front von 27 Meilen verteilt und überdies durch einen Fluß ohne Furten in zwei Teile zerschnitten. Unter diesen Umständen hätte Bazaine, wenn er wirklich mit dem Gros seiner Truppen den Einschließungsring zu durchbrechen versucht hätte, dies ohne jeden Zweifel erreichen können, andernfalls müßten wir annehmen, daß die Franzosen nach Gravelotte nicht mehr die Soldaten gewesen seien, die sie vorher waren; und dafür gibt es keinen Grund.

|160| Daß Bazaine nach der Proklamation der Republik aus politischen Motiven von jedem Durchbruchsversuch Abstand nahm, erscheint dem Schreiber dieser Artikel ganz sicher. Es ist ebenso sicher, daß jeder Tag des Zögerns seine Aussicht auf Erfolg verminderte. Doch die Preußen scheinen jetzt selbst der Meinung zu sein, daß ihnen in derselben Lage das Kunststück gelungen wäre. Was aber unerklärlich bleibt, ist Bazaines Untätigkeit oder zumindest Unentschlossenheit während der letzten August und der ersten Septembertage. Am 31. August versuchte er einen Angriff nach Nordosten und setzte ihn während der Nacht und am folgenden Morgen fort; aber schon drei preußische Divisionen genügten, ihn unter die Geschütze der Forts zurückzutreiben. Der Versuch muß äußerst schwach gewesen sein, wenn man bedenkt, mit welch starken Kräften er ihn hätte ausführen können. Ein General, der sechzehn Divisionen ausgezeichneter Infanterie unter sich hat, wird von drei feindlichen Divisionen zurückgetrieben! Das ist zu arg.

Was die politischen Motive anbetrifft, die Bazaines Untätigkeit nach der Revolution vom 4. September verursacht haben sollen, und die politischen Intrigen, in die er sich unter Duldung des Feindes während der letzten Periode der Belagerung verwickelte, so standen sie in engem Zusammenhang mit dem Zweiten Kaiserreich, das dadurch in der einen oder anderen Form wiederhergestellt werden sollte. Wenn der kommandierende General der einzigen regulären Armee, die Frankreich noch besaß, an die Wiedereinsetzung der gestürzten Dynastie mit Unterstützung des eingedrungenen Feindes denken konnte, so zeigt sich, bis zu welchem Grade dieses Zweite Kaiserreich jedes Verständnis für den Charakter der Franzosen verloren hatte.

Bazaines vergangene militärische Karriere war nicht die glänzendste. Sein mexikanischer Feldzug zeigte nur, daß er mehr um Belohnung als um Ruhm oder um das Ansehen seines Vaterlandes besorgt war. Seine Ernennung zum Oberkommandierenden der Rheinarmee verdankte er recht zufälligen Umständen; er wurde es, nicht weil er der passendste, sondern weil er der am wenigsten unpassende unter den in Frage kommenden Kandidaten war; die entscheidenden Beweggründe waren alles andere als rein militärischer Art. Er wird unsterblich werden als der Mann, der die würdeloseste Tat in der Kriegsgeschichte Frankreichs beging, als der Mann, der 160.000 Franzosen hinderte, die einschließende Armee zu durchbrechen, obwohl diese absolut schwächer war, und der sie als Kriegsgefangene auslieferte, als nichts mehr zu essen da war.