Über den Krieg - XXV | Inhalt | Über den Krieg XXVI
Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 17, 5. Auflage 1973, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 154-157.
Erstellt am 13.12.1998.
1. Korrektur.
["The Pall Mall Gazette" Nr. 1782 vom 29. Oktober 1870]
|154| Der gegenwärtige Krieg ist ein Krieg der Kapitulationen, von denen offenbar eine jede ihre Vorgängerin an Größe übertreffen soll. Zuerst die 84.000 Mann, die in Sedan die Waffen streckten, ein Ereignis, das in keinem früheren Kriege, nicht einmal in den Kriegen Österreichs, auch nur annähernd seinesgleichen findet. Jetzt die Übergabe von 170.000 Mann zusammen mit der Festung Metz, die Sedan um soviel übertrifft, wie Sedan alle früheren Kapitulationen übertraf. Wird Metz noch von Paris übertroffen werden? Wenn der Krieg weitergeht, kann es daran kaum einen Zweifel geben.
Die drei Grundfehler, die Napoleon vom 2. August zum 2. September, von Saarbrücken nach Sedan gebracht und Frankreich sozusagen seiner sämtlichen Armeen beraubt haben, waren: erstens die Erwartung des feindlichen Angriffs in einer Stellung, die es den siegreichen Deutschen erlaubte, sich zwischen die verstreuten Korps der französischen Armee einzuschieben und sie so in zwei getrennte Heereskörper zu teilen, von denen sich keiner mit dem anderen wieder vereinigen oder auch nur im Einverständnis mit ihm handeln konnte; zweitens das Zögern von Bazaines Armee in Metz, wodurch sie dort hoffnungslos eingeschlossen wurde; drittens der Marsch zur Unterstützung Bazaines mit Kräften und auf einem Wege, die den Feind direkt dazu aufforderten, die ganze Entsatzarmee gefangenzunehmen. Die Folgen des ersten Fehlers waren während des ganzen Feldzugs sichtbar; die des dritten fanden in Sedan ihr Ende; die des zweiten haben wir gerade in Metz miterlebt. Die ganze "Rheinarmee", der Napoleon einen schwierigen Feldzug in einer Gegend voller Festungen versprochen hatte, befindet sich jetzt in diesen Festungen oder auf dem Wege dahin als Kriegsgefangene; |155| und Frankreich ist nicht nur scheinbar, sondern wirklich fast aller seiner regulären Truppen beraubt.
Die enormen Verluste an Mannschaften und an Material, das zusammen mit Metz übergeben wurde, sind an sich schon ein ziemlich harter Schlag. Aber nicht der härteste. Das schlimmste für Frankreich ist, daß es mit diesen Truppen und diesem Material jener militärischen Organisation beraubt ist, die es nötiger als alles andere braucht. Menschen gibt es genug; sogar an ausgebildeten Männern zwischen 25 und 35 Jahren müssen wenigstens 300.000 vorhanden sein. Material kann aus Lagern und Fabriken im Inland und durch Kauf im Ausland ersetzt werden. Unter den gegebenen Umständen sind alle guten Hinterlader nützlich, und es hat nichts zu sagen, nach welchem Modell sie konstruiert sind oder ob die Munition des einen für die anderen Modelle paßt. Da alles irgend Brauchbare willkommen ist, könnten durch richtige Ausnutzung. des Telegraphen und der Dampfschiffe jetzt mehr Waffen und Patronen als nötig der Regierung zur Verfügung stehen. Sogar Feldartillerie dürfte inzwischen geliefert worden sein. Am nötigsten ist jedoch jene feste Organisation, die aus all diesen bewaffneten Leuten eine Armee formieren kann. Diese Organisation ist in den Offizieren und Unteroffizieren der regulären Armee verkörpert und steht mit deren Gefangennahme endgültig nicht mehr zur Verfügung, Die Zahl der französischen Offiziere, die durch Verluste auf dem Schlachtfeld und durch die Kapitulationen aus dem aktiven Dienst ausgeschieden sind, dürfte gegenwärtig nicht weniger als 10.000 bis 12.000 betragen, während die der Unteroffiziere fast dreimal so hoch sein dürfte. Nachdem diese organisierenden Kräfte plötzlich der nationalen Verteidigung entzogen worden sind, wird es äußerst schwierig, aus Massen von Männern Kompanien und Bataillone von Soldaten zu machen. Wer je Massenaufgebote beim Exerzieren oder unter Feuer gesehen hat - seien es die badischen Freischaren |Freischaren: in der "P.M.G." deutsch|, die Bull-Run-Yankees, französisch Mobilgarden oder britische Freiwillige, wird sofort wahrgenommen haben, daß die Hauptursache der Hilflosigkeit und Unbeständigkeit dieser Truppen darin liegt, daß die Offiziere ihren Dienst nicht kennen. Und wer sollte sie in diesem gegebenen Fall in Frankreich ihren Dienst lehren? Die wenigen halbbesoldeten oder invaliden alten Offiziere sind nicht zahlreich genug, das zu tun; sie können nicht überall sein; der Unterricht muß nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch sein, nicht nur in Worten, sondern auch mit Tat und Beispiel erfolgen. Ein paar junge Offiziere oder frisch aufgerückte Sergeanten in einem Bataillon |156| werden sich sehr rasch durch stete Beobachtung dessen, was die alten Offiziere tun, in ihren Dienst hineinfinden; aber was ist zu tun, wenn fast alle Offiziere neu sind und es nicht einmal viele alte Sergeanten gibt, die man zum Offizier befördern könnte? Diese selben Leute, die sich jetzt fast in jedem Gefecht als ungeeignet erweisen, in Massen im offenen Feld vorzugehen, würden bald zu kämpfen gelernt haben, wenn es möglich gewesen wäre, sie in Bazaines alte Bataillone einzureihen, ja, wenn sie nur das Glück gehabt hätten, von Bazaines Offizieren und Sergeanten befehligt zu werden. Daß Frankreich für diesen Feldzug fast die letzte Spur seiner militärischen Organisation endgültig verloren hat, ist der empfindlichste Verlust bei der Kapitulation von Metz.
Eine bestimmte Meinung über die Führung der Verteidigung können wir uns erst bilden, sobald wir gehört haben, was die Verteidiger zu ihrer Rechtfertigung zu sagen haben. Aber wenn sich tatsächlich 170.000 waffenfähige Männer ergeben haben, so muß man vermuten, daß die Verteidigung nicht auf der Höhe war. Seit Ende August war die Belagerungsarmee niemals doppelt so stark wie die eingeschlossene. Sie muß zwischen 200.000 und 230.000 Mann variiert haben, die allein in der vorderen Linie auf einen Umkreis von wenigstens 27 Meilen verteilt waren. Das bedeutet, daß der von den Hauptkräften eingenommene Umkreis wenigstens 36 bis 40 Meilen betragen haben muß. Dieser Umkreis war außerdem durch die Mosel in zwei Teile geschnitten, die nur über Brücken in einiger Entfernung hinter der vorderen Linie passierbar war. Wenn eine Arme von 170.000 Mann es nicht fertigbringen konnte, an einer einzigen Stelle dieses Umkreises mit überlegenen Kräften aufzutreten und durchzubrechen, bevor der Gegner genügende Verstärkungen erhalten hatte, so müssen wir daraus schließen, daß entweder die Aufstellung der einschließenden Truppen über alles Lob erhaben war oder daß die Durchbruchsversuche nicht so ausgeführt wurden, wie sie hätten ausgeführt werden müssen. Wir werden wahrscheinlich erfahren, daß hier, wie überall in diesem Kriege, politische Beweggründe die militärische Aktion gelähmt haben.
Wenn es jetzt nicht zum Friedensschluß kommt, werden sich die Folgen dieser neuen Katastrophe in Frankreich bald auswirken. Wir vermuten, daß die beiden Landwehrdivisionen als Garnison in Metz belassen werden. Das II. Korps ist bereits auf dem Wege nach Paris, was nicht unbedingt heißt, daß es an der Einschließung der Hauptstadt teilnehmen soll. Aber wenn wir annehmen, dies sei beabsichtigt, verbleiben sechs Korps oder wenigstens 130.000 bis 140.000 Mann, die Moltke senden kann, wohin er will. Die Verbindungen der Armee mit Deutschland werden ohne nennenswerte |157| Beteiligung der Truppen des Prinzen Friedrich Karl aufrechterhalten; zu diesem Zweck braucht er, wenn überhaupt, nur wenige Truppen abzukommandieren. Die übrigen stehen für den Vormarsch nach West- und Südfrankreich zur Verfügung. Es wird nicht notwendig sein, sie alle zusammenzuhalten. Sie werden wahrscheinlich in zwei oder drei Heereskörper geteilt werden, die mit von der Tanns Korps zusammen mindestens 150.000 Mann ausmachen werden; und man wird sie in die bisher von den Deutschen noch nicht besetzten Teile Frankreichs schicken. Ein Korps wird höchstwahrscheinlich die reichen Provinzen Normandie und Maine bis zur Loire besetzen, mit Le Mans als Zentrum, wo sich fünf Eisenbahnlinien treffen. Ein zweites Korps wird in der Richtung auf Bordeaux vorstoßen, nachdem es die Loire-Linie von Tours bis Nevers gesäubert und die Arsenale und Waffenfabriken von Bourges besetzt oder zerstört hat; dieses Korps dürfte von Metz aus über Chaumont und Auxerre marschieren, durch Landstriche, die noch nicht durch Requisitionen ausgepumpt worden sind. Ein drittes Korps dürfte geradewegs nach Süden gehen, um die Verbindung mit General Werder aufzunehmen. Da im Innern Frankreichs fast keine Festungen sind, die diese Bezeichnung verdienen, wird es keinen Widerstand geben, ausgenommen den kaum ins Gewicht fallenden der neuen Aushebungen und den mehr passiven, aber um so hartnäckigeren Widerstand der Bevölkerung. Ob Moltke mit diesen Armeen, die alle gleichzeitig freigesetzt worden sind, die Belagerung weiterer Festungen oder die Bezwingung eines befestigten Hafens wie Cherbourg versuchen wird, bleibt abzuwarten; er hat es jetzt nicht mehr nötig, weitere Festungen einzunehmen, ausgenommen Pfalzburg und Belfort, die die Haupteisenbahnlinien sperren, und selbstverständlich Paris.