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Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/ Friedrich Engels - Werke. (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 20. Berlin/DDR. 1962. »Dialektik der Natur«, S. 521-534.
1. Korrektur
Erstellt am 30.00.1999

Friedrich Engels - Dialektik der Natur

[Mathematik]


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|521| Die mathematischen sog. Axiome sind die wenigen Denkbestimmungen, deren die Mathematik zu ihrem Ausgang bedarf. Die Mathematik ist die Wissenschaft der Größen; sie geht vom Begriff der Größe aus. Sie definiert diese in lahmer Weise und fügt dann die andern Elementarbestimmtheiten der Größe, die in der Definition nicht enthalten, äußerlich als Axiome hinzu, wo sie dann als unbewiesen und natürlich auch mathematisch unbeweisbar erscheinen. Die Analyse der Größe würde alle diese Axiombestimmungen als notwendige Bestimmungen der Größe ergeben. Spencer hat insofern recht, als die uns so vorkommende Selbstverständlichkeit dieser Axiome angeerbt ist. Beweisbar sind sie dialektisch, soweit sie nicht reine Tautologien.

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Mathematisches. Nichts scheint auf unerschütterlicherer Basis zu ruhn als der Unterschied der 4 Spezies, der Elemente aller Mathematik. Und doch zeigt sich schon von vornherein die Multiplikation als eine abgekürzte Addition, die Division als abgekürzte Subtraktion einer bestimmten Anzahl gleicher Zahlengrößen, und die Division wird schon in einem Fall - wenn der Divisor ein Bruch - durch Multiplikation mit dem umgekehrten Bruch vollzogen. Beim algebraischen Rechnen aber wird viel weiter gegangen. Jede Subtraktion (a - b) kann als Addition (-b + a), jede Division a/b als Multiplikation a × 1/b dargestellt werden. Bei der Rechnung mit potenzierten Größen wird noch viel weiter gegangen. Alle festen Unterschiede der Rechnungsarten verschwinden, alles läßt sich in entgegengesetzter Form darstellen. Eine Potenz als Wurzel (x2 = Wurzel xhoch4), eine Wurzel als Potenz (Wurzelx = x hoch einhalb). Eins dividiert durch eine Potenz oder Wurzel als Potenz des |522| Nenners Formel. Die Miltiplikation oder Division der Potenzen einer Größe verwandelt sich in die Addition oder Subtraktion ihrer Exponenten. Jede Zahl kann als Potenz jeder andern Zahl aufgefaßt und dargestellt werden (Logarithmen, y = ax). Und diese Verwandlung aus einer Form in die gegenteilige ist keine müßige Spielerei, sie ist einer der mächtigsten Hebel der mathematischen Wissenschaft, ohne den kaum eine schwierigere Rechnung heute mehr ausgeführt wird. Man streiche aus der Mathematik nur die negativen und Bruchpotenzen, und wie weit wird man kommen?

(-, - = +, ÷ = +, etc. früher zu entwickeln.)

Der Wendepunkt in der Mathematik war Descartes' variable Größe. Damit die Bewegung und damit die Dialektik in der Mathematik, und damit auch sofort mit Notwendigkeit die Differential- und Integralrechnung, die auch sofort anfängt und durch Newton und Leibniz im ganzen und großen vollendet, nicht erfunden.

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Quantität und Qualität. Die Zahl ist die reinste quantitative Bestimmung, die wir kennen. Aber sie steckt voll qualitativer Unterschiede. 1. Hegel, Anzahl und Einheit, Multiplizieren, Dividieren, Potenzieren, Wurzelausziehn. Dadurch werden bereits, was bei Hegel nicht hervorgehoben, qualitative Unterschiede: Primzahlen und Produkte, einfache Wurzeln und Potenzen, hervorgebracht. 16 ist nicht bloß die Summierung von 16 Eins, es ist auch Quadrat von 4, Biquadrat von 2. Noch mehr. Die Primzahlen teilen den von ihnen durch Multiplikation mit andern Zahlen abgeleiteten Zahlen neue, festbestimmte Qualitäten mit: nur grade Zahlen durch 2 teilbar, ähnliche Bestimmung für 4 und 8. Bei 3 tritt die Quersumme ein, ebenso bei 9 und bei 6, wo sie mit der graden Zahl verquickt. Bei 7 ein besondres Gesetz. Darauf dann basiert Zahlenkunststücke, die den Ungelernten unbegreiflich erscheinen. Was Hegel also (»Quantität«, S. 237) über die Gedankenlosigkeit der Arithmetik sagt, unrichtig. Vgl. jedoch: »Maß«.

Sowie die Mathematik von unendlich Großem und unendlich Kleinem spricht, führt sie einen qualitativen Unterschied ein, der sogar sich als unüberbrückbarer qualitativer Gegensatz darstellt: Quantitäten, die so enorm weit voneinander verschieden sind, daß jedes rationelle Verhältnis, jede Vergleichung zwischen ihnen aufhört, daß sie quantitativ inkommensurabel werden. Die gewöhnliche Inkommensurabilität z.B. von Kreis und grader |523| Linie ist nun auch ein dialektischer qualitativer Unterschied; aber hier |d.h. im Mathematisch-Unendlichen| ist es die Quantitätsdifferenz gleichartiger Größen, die den Qualitätsunterschied bis zur Inkommensurabilität steigert.

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Zahl. Die einzelne Zahl bekommt eine Qualität schon im Zahlensystem und je nachdem dies. 9 ist nicht nur 1, neunmal addiert, sondern Basis für 90, 99, 900.000 etc. Alle Zahlengesetze hängen ab und sind bestimmt durch das angenommene System. Im dyadischen und triadischen System 2 × 2 nicht = 4, sondern = 100 oder = 11. In jedem System mit ungrader Grundzahl hört der Unterschied von graden und ungraden Zahlen auf, z.B. in der Pentas ist 5 = 10 und 10 = 20, 15 = 30. Ebenso im selben System die Querzahlen 3n von Produkten von 3 resp. 9 (6 = 11, 9 = 14). Die Grundzahl bestimmt also die Qualität nicht allein ihrer selbst, sondern auch aller andern Zahlen.

Mit dem Potenzverhältnis die Sache noch weiter: Jede Zahl ist als Potenz jeder andern Zahl aufzufassen - soviel Logarithmensysteme, als es ganze und gebrochene Zahlen gibt.

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Eins. Nichts sieht einfacher aus als die quantitative Einheit, und nichts ist mannigfaltiger als diese, sobald wir sie im Zusammenhang mit der entsprechenden Vielheit und nach ihren verschiednen Entstehungsweisen aus dieser untersuchen. Eins ist zuerst die Grundzahl des ganzen positiven und negativen Zahlensystems, durch deren sukzessive Hinzufügung zu sich selbst alle andern Zahlen entstehn. - Eins ist der Ausdruck aller positiven, negativen und gebrochnen Potenzen von Eins: 12, , 1-2 sind alle gleich Eins. - Es ist der Gehalt aller Brüche, deren Zähler und Nenner sich als gleich erweisen. - Es ist der Ausdruck jeder Zahl, die auf die Potenz Null erhoben wird, und damit die einzige Zahl, deren Logarithmus in allen Systemen derselbe, nämlich = 0 ist. Eins ist damit die Grenze, die alle möglichen Logarithmensysteme in zwei Teile scheidet: Ist die Basis größer als Eins, so sind die Logarithmen aller Zahlen über Eins positiv, alle Zahlen unter Eins negativ; ist sie kleiner als Eins, findet das Umgekehrte statt. Wenn also jede Zahl die Einheit in sich enthält, insofern sie sich aus lauter addierten Eins zusammensetzt, so enthält das Eins ebenfalls alle andern Zahlen in sich. Nicht nur der Möglichkeit nach, insofern wir jede Zahl aus lauter Eins |524| konstruieren können, sondern der Wirklichkeit nach, insofern Eins eine bestimmte Potenz jeder andern Zahl ist. Dieselben Mathematiker aber, die, ohne eine Miene zu verziehen, x0 = 1 oder einen Bruch, dessen Nenner und Zähler gleich sind, und der also ebenfalls Eins repräsentiert, in ihre Rechnung interpolieren, wo es ihnen paßt, die also die in der Einheit enthaltene Vielheit mathematisch verwenden, sie rümpfen die Nase und verzerren das Gesicht, wenn man ihnen in allgemeinem Ausdruck sagt, daß Einheit und Vielheit untrennbare, einander durchdringende Begriffe sind, und daß die Vielheit nicht minder in der Einheit enthalten ist als die Einheit in der Vielheit. Wie sehr dies aber der Fall, sehn wir, sobald wir das Gebiet der reinen Zahlen verlassen. Schon in der Messung von Linien, Flächen und Körperinhalten zeigt sich, daß wir jede beliebige Größe der entsprechenden Ordnung als Einheit annehmen können, und ebenso bei Messung von Zeit, von Gewicht, von Bewegung etc. Für die Messung von Zellen sind noch Millimeter und Milligramm zu groß, für die Messung von Sternabständen oder Lichtgeschwindigkeit wird das Kilometer schon unbequem klein wie das Kilogramm für die von planetarischen oder gar Sonnenmassen. Hier zeigt sich augenscheinlich, welche Mannigfaltigkeit und Vielheit in dem auf den ersten Blick so simplen Begriff der Einheit enthalten ist.

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Null ist darum nicht inhaltslos, weil sie die Negation jedes bestimmten Quantums ist. Im Gegenteil hat Null einen sehr bestimmten Inhalt. Als Grenze zwischen allen positiven und negativen Größen, als einzige wirklich neutrale Zahl, die weder + noch - sein kann, ist sie nicht nur eine sehr bestimmte Zahl, sondern auch an sich wichtiger als alle andern von ihr begrenzten Zahlen. Null ist in der Tat inhaltsvoller als jede andre Zahl. Rechts von jeder andern gesetzt, gibt sie ihr in unserm Zahlensystem den zehnfachen Wert. Man könnte statt Null jedes andre Zeichen hierzu verwenden, aber doch nur unter der Bedingung, daß dies Zeichen, allein genommen, Null bedeutet, = 0 ist. Es liegt also in der Natur der Null selbst, daß sie diese Verwendung findet, und daß sie allein so verwandt werden kann. Null vernichtet jede andre Zahl, mit der sie multipliziert wird; als Divisor oder Dividend mit jeder andern Zahl vereinigt, macht sie diese im ersten Fall unendlich groß, im andern unendlich klein, sie ist die einzige Zahl, die zu jeder andern in einem unendlichen Verhältnis steht. 0/0 kann jede Zahl zwischen - und + ausdrücken, und repräsentiert in jedem Fall eine wirkliche Größe. - Der wirkliche Inhalt einer Gleichung tritt erst dann klar her- |525| vor, wenn alle Glieder derselben auf Eine Seite gebracht, und die Gleichung damit auf den Wert von Null reduziert wird, wie dies bereits bei quadratischen Gleichungen geschieht und in der höheren Algebra fast allgemein Regel ist. Eine Funktion F(x, y) = 0 kann dann ebenfalls gleich z gesetzt und dieses z, obgleich es = 0 ist, wie eine gewöhnliche abhängige Variable differenziert, sein partieller Differentialquotient bestimmt werden.

Das Nichts eines jeden Quantums ist aber selbst noch quantitativ bestimmt, und nur deshalb ist es möglich, mit Null zu rechnen. Dieselben Mathematiker, die in obiger Weise ganz ungeniert mit Null rechnen, d.h. mit ihr als einer bestimmten quantitativen Vorstellung operieren, sie in quantitative Verhältnisse zu andren quantitativen Vorstellungen bringen, schlagen die Hände über dem Kopf zusammen, wenn sie bei Hegel dies verallgemeinert so lesen: Das Nichts eines Etwas ist ein bestimmtes Nichts |Siehe S. 490|.

Nun aber in der (analytischen) Geometrie. Hier ist Null ein bestimmter Punkt, von dem eben auf einer Linie nach einer Richtung positiv, nach der andern negativ abgemessen wird. Hier hat der Nullpunkt also nicht nur eine ebenso große Bedeutung wie jeder mit einer positiven oder negativen Größenangabe bezeichneter Punkt, sondern eine weit größere als sie alle: Er ist der Punkt, von dem sie alle abhängen, auf den sie sich alle beziehn, durch den sie alle bestimmt werden. Er kann sogar in vielen Fällen ganz willkürlich angenommen werden. Aber einmal angenommen, bleibt er der Mittelpunkt der ganzen Operation, bestimmt sogar oft die Richtung der Linie, auf der die andern Punkte - die Endpunkte der Abszissen - einzutragen sind. Wenn wir z.B., um zur Gleichung des Kreises zu kommen, einen beliebigen Punkt der Peripherie zum Nullpunkt wählen, so muß die Linie der Abszissen durch den Mittelpunkt des Kreises gehn. Alles dies findet ebensosehr seine Anwendung auf die Mechanik, wo ebenfalls bei Berechnung von Bewegungen der jedesmal angenommene Nullpunkt den Haupt- und Angelpunkt der gesamten Operation bildet. Der Nullpunkt des Thermometers ist die sehr bestimmte untere Grenze des Temperaturabschnitts, der in eine beliebige Zahl von Graden abgeteilt wird und damit zum Maß dient, sowohl der Temperaturabstufungen innerhalb seiner selbst wie höherer oder niederer Temperaturen. Er ist also auch hier ein sehr wesentlicher Punkt. Und selbst der absolute Nullpunkt des Thermometers repräsentiert keineswegs eine pure, abstrakte Negation, sondern einen sehr bestimmten Zustand der Materie: die Grenze, an der die letzte Spur selbständiger Bewegung der Moleküle verschwindet und die Materie nur noch |526| als Masse agiert. Wo auch immer wir auf die Null stoßen, da repräsentiert sie etwas sehr Bestimmtes, und ihre praktische Anwendung in Geometrie, Mechanik etc. beweist, daß sie - als Grenze - wichtiger ist als alle wirklichen von ihr begrenzten Größen.

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Potenzen hoch Null: von Wichtigkeit in der Logarithmenreihe: Logarithmenreihe. Alle Variablen gehen irgendwo durch Eins durch; also auch die Konstante in variabler Potenz, ax = 1, wenn x = 0. a0 = 1 heißt weiter nichts als das Eins in seinem Zusammenhang mit den andern Gliedern der Potenzenreihe von a auffassen, nur da hat es Sinn und kann zu Resultaten führen , sonst aber nicht. Hieraus folgt, daß auch die Einheit, so sehr sie mit sich identisch scheint, eine unendliche Mannigfaltigkeit in sich schließt, indem sie die 0-te Potenz jeder andern möglichen Zahl sein kann, und daß diese Mannigfaltigkeit keine bloß imaginäre ist, beweist sich jedesmal, wo das Eins als bestimmtes Eins, als eins der variablen Resultate eines Prozesses (als momentane Größe oder Form einer Variablen) im Zusammenhang mit diesem Prozesse gefaßt wird.

. - Die negativen Größen der Algebra sind reell nur, insoweit sie sich auf positive beziehen, nur innerhalb des Verhältnisses zu diesen; außer diesem Verhältnis, für sich genommen, sind sie rein imaginär. In der Trigonometrie und analytischen Geometrie nebst den darauf gebauten Zweigen der höheren Mathematik drücken sie eine bestimmte Bewegungsrichtung aus, die der positiven entgegengesetzt ist; aber man kann die Sinus und Tangenten des Kreises vom rechten oberen so gut wie rechten unteren Quadranten an zählen, und also Plus und Minus direkt umkehren. Ebenso in der analytischen Geometrie, die Abszissen können in dem Kreis von der Peripherie oder vom Zentrum, ja bei allen Kurven aus der Kurve heraus in der gewöhnlich als Minus bezeichneten [oder] in jeder beliebigen Richtung gerechnet werden und geben doch eine richtige rationelle Gleichung der Kurve. Hier besteht Plus nur als Komplement von Minus und umgekehrt. Die Abstraktion der Algebra behandelt sie [die negativen Größen] aber als wirkliche, selbständige, auch außerhalb des Verhältnisses zu einer größeren, positiven Größe.

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Mathematik. Dem gewöhnlichen Menschenverstand erscheint es als Blödsinn, eine bestimmte Größe, ein Binom z.B., in eine unendliche Reihe, |527| also in etwas Unbestimmtes aufzulösen. Aber wo wären wir ohne die unendlichen Reihen und den binomischen Lehrsatz?

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Asymptoten. Die Geometrie fängt an mit der Entdeckung, daß Grad und Krumm absolute Gegensätze sind, daß Grades in Krummem, Krummes in Gradem total unausdrückbar, inkommensurabel. Und doch geht schon die Berechnung des Kreises nicht an, als dadurch, daß man seine Peripherie in graden Linien ausdrückt. Bei den Kurven mit Asymptoten aber verschwimmt Grades in Krummes und Krummes in Grades vollständig; ebensosehr wie die Vorstellung des Parallelismus: Die Linien sind nicht parallel, nähern sich einander stets und fallen doch nie zusammen; der Kurvenarm wird immer grader, ohne es je ganz zu werden, wie in der analytischen Geometrie die grade Linie als die Kurve ersten Grades mit unendlich geringer Krümmung angesehn wird. Das -x der logarithmischen Kurve mag noch so groß werden, y kann nie = 0 werden.

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Grad und Krumm in der Differentialrechnung in letzter Instanz gleichgesetzt: In dem differentialen Dreieck, dessen Hypotenuse die Differentiale des Bogens bildet (bei der Tangentenmethode), kann diese Hypotenuse angesehn werden

»als eine kleine grade Linie, die gleichzeitig Element des Bogens und Element der Tangente ist« - sehe man nun die Kurve als aus unendlich vielen graden Linien zusammengesetzt, oder aber auch »sehe man sie als starre Kurve; da die Krümmung in jedem Punkt M unendlich klein ist, ist das letzte Verhältnis des Elements der Kurve zu dem der Tangente offensichtlich ein Verhältnis der Gleichheit« |Hervorhebung von Engels|.

Hier also, obwohl sich das Verhältnis stets dem der Gleichheit nähert, der Natur der Kurve nach aber asymptotisch, da die Berührung sich auf einen Punkt beschränkt, der keine Länge hat, wird doch schließlich angenommen, daß die Gleichheit des Graden und Krummen erreicht sei (Bossut, »Calcul diff. et intégr.«, Paris, An VI, I, p. 149). Bei polaren Kurven wird die differentiale imaginäre Abszisse sogar der wirklichen als parallel angenommen und daraufhin operiert, obwohl sich beide im Pol treffen; ja man schließt daraus auf die Ähnlichkeit zweier Dreiecke, von denen eins einen Winkel grade am Schneidungspunkt der beiden Linien hat, auf deren Parallelismus die ganze Ähnlichkeit begründet ist! (Figur 17).

|528| Als die Mathematik des Graden und des Krummen so ziemlich erschöpft, wird eine neue fast endlose Bahn eröffnet durch die Mathematik, die das Krumme als Grades auffaßt (Differentialdreieck) und das Grade als Krummes (Kurve des ersten Grades, mit unendlich kleiner Krümmung). O Metaphysik!

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Trigonometrie. Nachdem die synthetische Geometrie die Eigenschaften eines Dreiecks, an sich betrachtet, erschöpft und nichts Neues mehr zu sagen hat, eröffnet sich ein erweiterter Horizont durch ein sehr einfaches, durchaus dialektisches Verfahren. Das Dreieck wird nicht mehr an sich und für sich betrachtet, sondern im Zusammenhang mit einer andern Figur, dem Kreis. Jedes rechtwinklige Dreieck kann als Zubehör eines Kreises betrachtet werden: Ist die Hypotenuse = r, dann die Katheten sin und cos, ist eine Kathete = r, dann die andre = tg, die Hypotenuse = sec. Hierdurch bekommen Seiten und Winkel ganz andre, bestimmte Verhältnisse zueinander, die ohne diese Beziehung des Dreiecks auf den Kreis unmöglich zu entdecken und zu benutzen, und eine ganz neue, die alte weit überreichende Dreieckstheorie entwickelt sich, die überall anwendbar, weil jedes Dreieck in 2 rechtwinklige aufgelöst werden kann. Diese Entwicklung der Trigonometrie aus der synthetischen Geometrie ist ein gutes Exempel für die Dialektik, wie sie die Dinge in ihrem Zusammenhange faßt statt in ihrer Isolierung.

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Identität und Unterschied - das dialektische Verhältnis schon in der Differentialrechnung, wo dx unendlich klein, aber doch wirksam und alles macht.

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Molekül und Differential. Wiedemann (III, [S.] 636) setzt endliche Entfernung und molekulare direkt einander entgegen.

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Über die Urbilder des Mathematisch-Unendlichen in der wirklichen Welt

Zu S. 17-18 {1}: Einstimmung von Denken und Sein. -
Das Unendliche der Mathematik

|529| Die Tatsache, daß unser subjektives Denken und die objektive Welt denselben Gesetzen unterworfen sind und daher auch beide in ihren Resultaten sich schließlich nicht widersprechen können, sondern übereinstimmen müssen, beherrscht absolut unser gesamtes theoretisches Denken. Sie ist seine unbewußte und unbedingte Voraussetzung. Der Materialismus des 18. Jahrhunderts infolge seines wesentlich metaphysischen Charakters hat diese Voraussetzung nur ihrem Inhalt nach untersucht. Er beschränkte sich auf den Nachweis, daß der Inhalt alles Denkens und Wissens aus der sinnlichen Erfahrung stammen müsse, und stellte den Satz wieder her: Nihil est in intellectu, quod non fuerit in sensu |Nichts ist im Verstand, was nicht vorher in den Sinnen war|. Erst die moderne idealistische, aber gleichzeitig dialektische Philosophie und namentlich Hegel untersuchte sie auch der Form nach. Trotz der zahllosen willkürlichen Konstruktionen und Phantastereien, die uns hier entgegentreten, trotz der idealistisch auf den Kopf gestellten Form ihres Resultats, der Einheit von Denken und Sein, ist unleugbar, daß diese Philosophie die Analogie der Denkprozesse mit den Natur- und Geschichtsprozessen und umgekehrt, und die Gültigkeit gleicher Gesetze für alle diese Prozesse an einer Menge von Fällen und auf den verschiedensten Gebieten nachgewiesen hat. Andrerseits hat die moderne Naturwissenschaft den Satz vom erfahrungsmäßigen Ursprung alles Denkinhalts in einer Weise erweitert, die seine alte metaphysische Begrenzung und Formulierung über den Haufen wirft. Indem sie die Vererbung erworbener Eigenschaften anerkennt, erweitert sie das Subjekt der Erfahrung vom Individuum auf die Gattung; es ist nicht mehr notwendig das einzelne Individuum, das erfahren haben muß, seine Einzelerfahrung kann bis auf einen gewissen Grad ersetzt werden durch die Resultate der Erfahrungen einer Reihe seiner Vorfahren. Wenn bei uns z.B. die mathematischen Axiome jedem Kinde von acht Jahren als selbstverständlich, keines Erfahrungsbeweises bedürftig erscheinen, so ist das lediglich Resultat »gehäufter Vererbung«. Einem Buschmann oder Australneger würden sie schwerlich durch Beweis beizubringen sein.

|530| In der vorstehenden Schrift {2} ist die Dialektik als die Wissenschaft von den allgemeinsten Gesetzen aller Bewegung gefaßt worden. Es ist hierin eingeschlossen, daß ihre Gesetze Gültigkeit haben müssen für die Bewegung ebensosehr in der Natur und der Menschengeschichte wie für die Bewegung des Denkens. Ein solches Gesetz kann erkannt werden in zweien dieser drei Sphären, ja selbst in allen dreien, ohne daß der metaphysische Schlendrian sich darüber klar wird, daß es ein und dasselbe Gesetz ist, das er erkannt hat.

Nehmen wir ein Beispiel. Von allen theoretischen Fortschritten gilt wohl keiner als ein so hoher Triumph des menschlichen Geistes wie die Erfindung der Infinitesimalrechnung in der letzten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Wenn irgendwo, so haben wir hier eine reine und ausschließliche Tat des menschlichen Geistes. Das Mysterium, das die bei der Infinitesimalrechnung angewandten Größen - die Differentiale und Unendlichen verschiedener Grade - noch heute umgibt, ist der beste Beweis dafür, daß man sich noch immer einbildet, man habe es hier mit reinen freien »Schöpfungen und Imaginationen« {3} des Menschengeistes zu tun, wofür die objektive Welt kein Entsprechendes biete. Und doch ist das Gegenteil der Fall. Für alle diese imaginären Größen bietet die Natur die Vorbilder.

Unsre Geometrie geht aus von Raumverhältnissen, unsre Arithmetik und Algebra von Zahlengrößen, die unsren irdischen Verhältnissen entsprechen, die also den Körpergrößen entsprechen, die die Mechanik Massen nennt - Massen, wie sie auf der Erde vorkommen und von Menschen bewegt werden. Gegenüber diesen Massen erscheint die Masse der Erde unendlich groß und wird von der irdischen Mechanik auch als unendlich groß behandelt. Erdradius = , Grundsatz aller Mechanik im Fallgesetz. Aber nicht nur die Erde, sondern das ganze Sonnensystem und die in ihm vorkommenden Entfernungen erscheinen ihrerseits wieder als unendlich klein, sobald wir uns mit den nach Lichtjahren zu schätzenden Entfernungen in dem für uns teleskopisch sichtbaren Sternensystem beschäftigen. Wir haben hier also schon ein Unendliches nicht nur des ersten, sondern auch des zweiten Grades, und können es der Phantasie unsrer Leser überlassen, sich noch weitere Unendliche höherer Grade im unendlichen Raum zurechtzukonstruieren, falls sie dazu Lust verspüren.

Die irdischen Massen, die Körper, mit denen die Mechanik operiert, bestehn aber nach der heute in der Physik und Chemie herrschenden Ansicht aus Molekülen, kleinsten Teilchen, die nicht weiter geteilt werden können, |531| ohne die physikalische und chemische Identität des betreffenden Körpers aufzuheben. Nach W. Thomsons Berechnungen kann der Durchmesser des kleinsten dieser Moleküle nicht kleiner sein als ein Fünfzigmilliontel eines Millimeters. Nehmen wir aber auch an, daß das größte Molekül selbst einen Durchmesser von einem Fünfundzwanzigmilliontel Millimeter erreiche; so bleibt es immer noch eine verschwindend kleine Größe gegen die kleinste Masse, mit der die Mechanik, die Physik und selbst die Chemie operieren. Trotzdem ist es mit allen der betreffenden Masse eigentümlichen Eigenschaften begabt, es kann die Masse physikalisch und chemisch vertreten und vertritt sie wirklich in allen chemischen Gleichungen. Kurzum, es hat ganz dieselben Eigenschaften gegenüber der entsprechenden Masse wie das mathematische Differential gegenüber seiner Veränderlichen. Nur daß, was uns beim Differential, in der mathematischen Abstraktion, geheimnisvoll und unerklärlich erscheint, hier selbstverständlich und sozusagen augenscheinlich wird.

Mit diesen Differentialen, den Molekülen, operiert nun die Natur ganz in derselben Weise und ganz nach denselben Gesetzen wie die Mathematik mit ihren abstrakten Differentialen. So ist z.B. das Differential von x3 = 3x2dx, wobei 3x2dx und dx3 vernachlässigt werden. Konstruieren wir uns dies geometrisch, so haben wir einen Kubus mit der Seitenlänge x, welche Seitenlänge um die unendlich kleine Größe dx vergrößert wird. Nehmen wir an, dieser Kubus bestehe aus einem sublimierteren Element, sage Schwefel; die eine Ecke umgebenden drei Seitenflächen seien geschützt, die andern drei seien frei. Setzen wir nun diesen Schwefelkubus einer Atmosphäre von Schwefelgas aus und erniedrigen deren Temperatur hinreichend, so schlägt sich Schwefelgas auf den drei freien Seiten des Würfels nieder. Wir bleiben ganz innerhalb der der Physik und Chemie geläufigen Verfahrungsweise, wenn wir annehmen, um uns den Vorgang in seiner Reinheit vorzustellen, daß auf jeder dieser drei Seiten sich zunächst eine Schicht von der Dicke eines Moleküls niederschlägt. Die Seitenlänge x des Kubus hat sich um den Durchmesser eines Moleküls, dx, vergrößert. Der Inhalt des Kubus x3 ist gewachsen um die Differenz von x3 und x3 + 3x2dx + 3xdx2 + dx3, wobei wir dx3, ein Molekül, und 3xdx2, drei Reihen einfach linear aneinander gelagerter Moleküle von der Länge x + dx, mit demselben Recht vernachlässigen können wie die Mathematik. Das Resultat ist dasselbe: Der Massenzuwachs des Kubus ist 3x2dx.

Genau genommen, kommen bei dem Schwefelkubus dx3 und 3xdx2 nicht vor, weil nicht zwei oder drei Moleküle in demselben Raum sein können, und seine Massenzunahme ist daher genau 3x2dx + 3x dx + dx.

|532| Dies erklärt sich daher, daß in der Mathematik dx eine lineare Größe ist, dergleichen Linien ohne Dicke und Breite aber in der Natur bekanntlich nicht selbständig vorkommen, die mathematischen Abstraktionen also auch nur in der reinen Mathematik unbedingte Gültigkeit haben. Und da auch diese 3xdx2 + dx3 vernachlässigt, so macht's keinen Unterschied.

Ebenso bei der Verdunstung. Wenn in einem Glase Wasser die oberste Molekularschicht verdunstet, so ist die Höhe der Wasserschicht x um dx vermindert worden, und die fortdauernde Verflüchtigung einer Molekularschicht nach der andern ist tatsächlich eine fortgesetzte Differentiation. Und wenn der heiße Dampf durch Druck und Abkühlung in einem Gefäß wieder zu Wasser verdichtet wird, und eine Molekularschicht sich auf die andre lagert (wobei wir von den den Vorgang unrein machenden Nebenumständen absehn dürfen), bis das Gefäß voll ist, so hat hier buchstäblich eine Integration stattgefunden, die sich von der mathematischen nur dadurch unterscheidet, daß die eine vom menschlichen Kopf bewußt vollzogen wird und die andre unbewußt von der Natur.

Aber nicht nur beim Übergang aus dem flüssigen in den Gaszustand und umgekehrt finden Vorgänge statt, die denen der Infinitesimalrechnung vollkommen analog sind. Wenn Massenbewegung - durch Stoß - als solche aufgehoben und in Wärme, Molekularbewegung umgewandelt worden, was ist anders geschehn, als daß die Massenbewegung differenziert worden? Und wenn die Molekularbewegungen des Dampfs im Zylinder der Dampfmaschine sich dahin summieren, daß sie den Kolben um ein Bestimmtes heben, daß sie in Massenbewegung umschlagen, sind sie nicht integriert worden? Die Chemie löst die Moleküle auf in Atome, Größen von geringerer Masse und Raumausdehnung, aber Größen derselben Ordnung, so daß beide in bestimmten, endlichen Verhältnissen zueinander stehn. Die sämtlichen chemischen Gleichungen, die die Molekularzusammensetzung der Körper ausdrücken, sind also der Form nach Differentialgleichungen. Aber sie sind in Wirklichkeit bereits integriert durch die Atomgewichte, die in ihnen figurieren. Die Chemie rechnet eben mit Differentialen, deren gegenseitiges Größenverhältnis bekannt ist.

Nun aber gelten die Atome keineswegs für einfach oder überhaupt für die kleinsten bekannten Stoffteilchen. Abgesehn von der Chemie selbst, die mehr und mehr sich der Ansicht zuneigt, daß die Atome zusammengesetzt sind, behauptet die Mehrzahl der Physiker, daß der Weltäther, der Licht- und Wärmestrahlung vermittelt, ebenfalls aus diskreten Teilchen bestehe, die aber so klein sind, daß sie sich zu den chemischen Atomen und physikalischen Molekülen verhalten wie diese zu den mechanischen Massen, also |533| wie d2x zu dx. Hier haben wir also in der jetzt landläufigen Vorstellung von der Konstitution der Materie ebenfalls das Differential des zweiten Grades, und es liegt durchaus kein Grund vor, warum nicht jeder, dem dies Vergnügen macht, sich vorstellen sollte, daß auch noch Analoga von d3x, d4x usw. in der Natur vorhanden sein sollten.

Welcher Ansicht man also auch über die Konstitution der Materie sein möge, soviel ist sicher, daß sie in eine Reihe von großen, gut abgegrenzten Gruppen relativer Massenhaftigkeit gegliedert ist, so daß die Glieder jeder einzelnen Gruppe zueinander in bestimmten, endlichen Massenverhältnissen stehn, gegenüber denen der nächsten Gruppen aber im Verhältnis der unendlichen Größe oder Kleinheit im Sinne der Mathematik stehn. Das sichtbare Sternensystem, das Sonnensystem, die irdischen Massen, die Moleküle und Atome, endlich die Ätherteilchen bilden jedes eine solche Gruppe. Es ändert nichts daran, daß wir zwischen einzelnen Gruppen Mittelglieder finden. So zwischen den Massen des Sonnensystems und den irdischen die Asteroiden, von denen einige keinen größeren Durchmesser haben als etwa das Fürstentum Reuß jüngere Linie, die Meteore usw. So zwischen irdischen Massen und Molekülen in der organischen Welt die Zelle. Diese Mittelglieder beweisen nur, daß es in der Natur keinen Sprung gibt, eben weil die Natur sich aus lauter Sprüngen zusammensetzt.

Sowie die Mathematik mit wirklichen Größen rechnet, wendet sie diese Anschauungsweise auch ohne weiteres an. Der irdischen Mechanik gilt bereits die Erdmasse als unendlich groß, wie in der Astronomie die irdischen Massen und die ihnen entsprechenden Meteore als unendlich klein, ebenso verschwinden ihr die Entfernungen und Massen der Planeten des Sonnensystems, sobald sie über die nächsten Fixsterne hinaus die Konstitution unsres Sternensystems untersucht. Sobald aber die Mathematiker sich in ihre uneinnehmbare Festung der Abstraktion, die sog. reine Mathematik zurückziehn, werden alle jene Analogien vergessen, das Unendliche wird etwas total Mysteriöses, und die Art und Weise, wie damit in der Analysis operiert wird, erscheint als etwas rein Unbegreifliches, aller Erfahrung und allem Verstand Widersprechendes. Die Torheiten und Absurditäten, mit denen die Mathematiker diese ihre Verfahrungsweise, die sonderbarerweise immer zu richtigen Resultaten führt, mehr entschuldigt als erklärt haben, übertreffen die ärgsten scheinbaren und wirklichen Phantastereien z.B. der Hegelschen Naturphilosophie, vor denen Mathematiker und Naturforscher nicht Horror genug aussprechen können. Was sie Hegel vorwerfen, daß er Abstraktionen auf die Spitze treibe, tun sie selbst in weit größerem Maßstab. Sie vergessen, daß die ganze sog. reine Mathematik |534| sich mit Abstraktionen beschäftigt, daß alle ihre Größen, strenggenommen, imaginäre Größen sind, und daß alle Abstraktionen, auf die Spitze getrieben, umschlagen in Widersinn oder in ihr Gegenteil. Das mathematische Unendliche ist aus der Wirklichkeit entlehnt, wenn auch unbewußt und kann daher auch nur aus der Wirklichkeit und nicht aus sich selbst, aus der mathematischen Abstraktion erklärt werden. Und wenn wir die Wirklichkeit darauf untersuchen, so finden wir, wie wir sahen, auch die wirklichen Verhältnisse vor, von denen das mathematische Unendlichkeitsverhältnis entlehnt ist, und sogar die natürlichen Analoga der mathematischen Art, dies Verhältnis wirken zu lassen. Und damit ist die Sache erklärt.

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(Schlechte Reproduktion bei Haeckel von Denken und Sein-Identität. Aber auch der Widerspruch von kontinuierlicher und diskreter Materie; siehe Hegel.)

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Die Differentialrechnung macht es der Naturwissenschaft erst möglich, Prozesse, nicht nur Zustände mathematisch darzustellen: Bewegung.

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Anwendung der Mathematik: in der Mechanik der festen Körper absolut, der Gase annähernd, der Flüssigkeiten schon schwieriger - in der Physik mehr tentativ und relativ - in der Chemie einfache Gleichungen ersten Grades simpelster Natur - in der Biologie = 0.


{1} Siehe »Anti-Dühring«, S. 32 /33. <=

{2} Siehe »Anti-Dühring«, S. 131/132. <=

{3} Siehe »Anti-Dühring«, S.35. <=


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