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Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/ Friedrich Engels - Werke. (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 20. Berlin/DDR.
1962. »Dialektik der Natur«,
S. 481-508.
1. Korrektur
Erstellt am 30.00.1999
|481| Die Dialektik, die sog. objektive, herrscht in der ganzen Natur, und die sog. subjektive Dialektik, das dialektische Denken, ist nur Reflex der in der Natur sich überall geltend machenden Bewegung in Gegensätzen, die durch ihren fortwährenden Widerstreit und ihr schließliches Aufgehen ineinander, resp. in höhere Formen, eben das Leben der Natur bedingen. Attraktion und Repulsion. Beim Magnetismus fängt die Polarität an, sie zeigt sich an ein und demselben Körper; bei der Elektrizität verteilt sie sich auf 2 oder mehr, die in gegenseitige Spannung geraten. Alle chemischen Prozesse reduzieren sich auf Vorgänge der chemischen Attraktion und Repulsion. Endlich im organischen Leben ist die Bildung des Zellenkerns ebenfalls als eine Polarisierung des lebendigen Eiweißstoffs zu betrachten, und von der einfachen Zelle an weist die Entwicklungstheorie nach, wie jeder Fortschritt bis zur kompliziertesten Pflanze einerseits, bis zum Menschen andrerseits, durch den fortwährenden Widerstreit von Vererbung und Anpassung bewirkt wird. Es zeigt sich dabei, wie wenig Kategorien wie »positiv« und »negativ« auf solche Entwicklungsformen anwendbar sind. Man kann die Vererbung als die positive, erhaltende Seite, die Anpassung als die negative, das Ererbte fortwährend zerstörende Seite, aber ebensogut die Anpassung als die schöpferische, aktive, positive, die Vererbung als die widerstrebende, passive, negative Tätigkeit auffassen. Wie aber in der Geschichte der Fortschritt als Negation des Bestehenden auftritt, so wird auch hier - aus rein praktischen Gründen - die Anpassung besser als negative Tätigkeit gefaßt. In der Geschichte tritt die Bewegung in Gegensätzen erst recht hervor in allen kritischen Epochen der leitenden Völker. In solchen Momenten hat ein Volk nur die Wahl zwischen zwei Hörnern eines Dilemmas: entweder - oder!, und zwar ist die Frage immer ganz anders gestellt, als das politisierende Philisterium aller Zeiten sie gestellt wünscht. Selbst der liberale deutsche Philister von 1848 fand sich 1849 plötzlich und unerwartet |482| und wider Willen vor die Frage gestellt: Rückkehr zur alten Reaktion in verschärfter Form, oder Fortgang der Revolution bis zur Republik, vielleicht gar der einen und unteilbaren mit sozialistischem Hintergrund. Er besann sich nicht lange und half die Manteuffelsche Reaktion als Blüte des deutschen Liberalismus schaffen. Ebenso 1851 der französische Bourgeois vor dem von ihm sicher nicht erwarteten Dilemma: Karikatur des Kaisertums, Prätorianertum und Ausbeutung Frankreichs durch eine Lumpenbande, oder sozialdemokratische Republik - und er duckte sich vor der Lumpenbande, um unter ihrem Schutz die Arbeiter fortausbeuten zu können.
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Hard and fast lines |Starre und feste Linien| mit der Entwicklungstheorie unverträglich - sogar die Grenzlinie zwischen Wirbeltieren und Wirbellosen schon nicht mehr fest, ebensowenig die zwischen Fischen und Amphibien, und die zwischen Vögeln und Reptilien verschwindet täglich mehr und mehr. Zwischen Compsognathus und Archaeopteryx fehlen nur noch wenige Mittelglieder, und gezahnte Vogelschnäbel tauchen in beiden Hemisphären auf. Das Entweder dies - oder das! wird mehr und mehr ungenügend. Bei den niedern Tieren der Begriff des Individuums gar nicht scharf festzustellen. Nicht nur, ob dies Tier ein Individuum oder eine Kolonie ist, sondern auch, wo in der Entwicklung Ein Individuum aufhört und das andre anfängt (Ammen). - Für eine solche Stufe der Naturanschauung, wo alle Unterschiede in Mittelstufen zusammenfließen, alle Gegensätze durch Zwischenglieder ineinander übergeführt werden, reicht die alte metaphysische Denkmethode nicht mehr aus. Die Dialektik, die ebenso keine hard and fast lines, kein unbedingtes allgültiges Entweder-Oder! kennt, die die fixen metaphysischen Unterschiede ineinander überführt und neben dem Entweder-Oder! ebenfalls das Sowohl dies - wie jenes! an richtiger Stelle kennt und die Gegensätze vermittelt, ist die einzige ihr in höchster Instanz angemeßne Denkmethode. Für den Alltagsgebrauch, den wissenschaftlichen Kleinhandel, behalten die metaphysischen Kategorien ja ihre Gültigkeit.
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Umschlag von Quantität in Qualität = »mechanische« Weltanschauung, quantitative Veränderung ändert Qualität. Das haben die Herren nie gerochen!
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|483| Die Gegensätzlichkeit der verständigen Denkbestimmungen: die Polarisation. Wie Elektrizität, Magnetismus etc. sich polarisieren, im Gegensatz bewegen, so die Gedanken. Wie dort keine Einseitigkeit festzuhalten, woran kein Naturforscher denkt, so auch hier nicht.
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Die wahre Natur der »Wesens«bestimmungen von Hegel selbst ausgesprochen (»Enzykl[opädie]«, I, § 111, Zusatz): »Im Wesen ist alles relativ«. |Hervorhebung von Engels| (Z.B. positiv und negativ, die nur in ihrer Beziehung, nicht jedes für sich Sinn haben.)
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Teil und Ganzes z.B. sind schon Kategorien, die in der organischen Natur unzureichend werden. - Abstoßen des Samens - der Embryo und das geborne Tier sind nicht als »Teil« aufzufassen, der vom »Ganzen« getrennt wird, das gäbe schiefe Behandlung. Erst Teil im Kadaver (»Enz[yklopädie]« I, [S.] 268).
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Einfach und zusammengesetzt: Kategorien, die ebenfalls schon in der organischen Natur ihren Sinn verlieren, unanwendbar sind. Weder die mechanische Zusammensetzung aus Knochen, Blut, Knorpel, Muskeln, Geweben etc., noch die chemische aus den Elementen, drücken ein Tier aus. Hegel »Enz[yklopädie]«, I, [S.] 256. Der Organismus ist weder einfach noch zusammengesetzt, er mag noch so kompliziert sein.
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Identität - abstrakte, a = a; und negativ, a nicht gleich und ungleich a gleichzeitig - ebenfalls in der organischen Natur unanwendbar. Die Pflanze, das Tier, jede Zelle in jedem Augenblick seines Lebens identisch mit sich und doch sich von sich selbst unterscheidend, durch Aufnahme und Ausscheidung von Stoffen, Atmung, durch Zellenbildung und Zellenabsterben, durch den vorgehenden Zirkulationsprozeß, kurz, durch eine Summe unaufhörlicher molekularer Veränderungen, die das Leben ausmachen und deren summierte Resultate in den Lebensphasen - Embryonalleben, Jugend, Geschlechtsreife, Gattungsprozeß, Alter, Tod - augenscheinlich hervortreten. Je weiter die Physiologie sich entwickelt, desto wichtiger werden für sie diese unaufhörlichen, unendlich kleinen Veränderungen, desto |484| wichtiger für sie also ebenso die Betrachtung des Unterschieds innerhalb der Identität, und der alte abstrakt formelle Identitätsstandpunkt, daß ein organisches Wesen als ein mit sich einfach Identisches, Konstantes zu behandeln, veraltet {1}. Trotzdem dauert die auf ihn gegründete Denkweise mit ihren Kategorien fort. Aber schon in der unorganischen Natur die Identität als solche in Wirklichkeit nicht existierend. Jeder Körper ist fortwährend mechanischen, physikalischen, chemischen Einwirkungen ausgesetzt, die stets an ihm ändern, seine Identität modifizieren. Nur in der Mathematik - einer abstrakten Wissenschaft, die sich mit Gedankendingen beschäftigt, gleichviel ob Abklatschen der Realität - ist die abstrakte Identität und ihr Gegensatz gegen den Unterschied am Platz und wird auch da fortwährend aufgehoben. Hegel »Enzykl[opädie]«, I, [S-] 235. Die Tatsache, daß die Identität den Unterschied in sich enthält, ausgesprochen in jedem Satz, wo das Prädikat vom Subjekt notwendig verschieden: Die Lilie ist eine Pflanze, die Rose ist rot, wo entweder im Subjekt oder im Prädikat etwas, das vom Prädikat oder Subjekt nicht gedeckt wird. Hegel, [S.] 23. - Daß die Identität mit sich von vornherein den Unterschied von allem andern zur Ergänzung nötig hat, ist selbstredend.
Die fortwährende Veränderung, d.h. Aufhebung der abstrakten Identität mit sich, auch im sog. Unorganischen. Die Geologie ist ihre Geschichte. Auf der Oberfläche mechanische Veränderungen (Auswaschung, Frost), chemische (Verwitterung), im Innern mechanische (Druck), Wärme (vulkanische), chemische (Wasser, Säuren, Bindemittel), im Großen Hebungen, Erdbeben etc. Der Schiefer von heute grundverschieden von dem Schlick, aus dem er gebildet, die Kreide von den losen mikroskopischen Schalen, die sie zusammensetzen, noch mehr der Kalkstein, der ja nach einigen ganz organischen Ursprungs sein soll, der Sandstein vom losen Meersand, der wieder aus zerriebenem Granit etc. herrührt, von Kohle nicht zu sprechen.
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Der Satz der Identität im altmetaphysischen Sinn der Fundamentalsatz der alten Anschauung: a = a. Jedes Ding ist sich selbst gleich. Alles war permanent, Sonnensystem, Sterne, Organismen. Dieser Satz ist von der Naturforschung in jedem einzelnen Fall Stück für Stück widerlegt, theoretisch hält er aber noch vor und wird von den Anhängern des Alten immer noch dem Neuen entgegengehalten: Ein Ding kann nicht gleichzeitig es |485| selbst und ein anderes sein. Und doch ist die Tatsache, daß die wahre konkrete Identität den Unterschied, die Veränderung in sich schließt, von der Naturforschung neuerdings im Detail nachgewiesen (siehe oben). - Die abstrakte Identität, wie alle metaphysischen Kategorien, reicht aus für den Hausgebrauch, wo kleine Verhältnisse oder kurze Zeiträume in Betracht kommen; die Grenzen, innerhalb deren sie brauchbar, sind fast für jeden Fall verschieden und durch die Natur des Gegenstands bedingt - in einem Planetensystem, wobei für die ordinäre astronomische Rechnung die Ellipse als Grundform angenommen werden kann, ohne praktisch Fehler zu machen, viel weiter als bei einem Insekt, das seine Metamorphose in einigen Wochen vollendet. (Andre Beispiele zu geben, z.B. Artenveränderung, die nach einer Reihe von Jahrtausenden zählen.) Aber für die zusammenfassende Naturwissenschaft, selbst in jeder einzelnen Branche, ist die abstrakte Identität total unzureichend, und obwohl im ganzen und großen jetzt praktisch beseitigt, beherrscht sie theoretisch noch immer die Köpfe, und die meisten Naturforscher stellen sich vor, Identität und Unterschied seien unversöhnliche Gegensätze, statt einseitige Pole, die nur in ihrer Wechselwirkung, in der Einfassung des Unterschieds in die Identität, Wahrheit haben.
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Identität und Unterschied - Notwendigkeit und Zufälligkeit - Ursache und Wirkung - die beiden Hauptgegensätze, die, getrennt behandelt, ineinander umschlagen.
Und dann müssen die »Gründe« helfen.
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Positiv und negativ. Kann auch umgekehrt benannt werden: in Elektrizität etc.; Nord und Süd dito. Man kehre dies um, ändre die übrige Terminologie entsprechend, und alles bleibt richtig. Wir nennen dann West - Ost und Ost - West. Die Sonne geht im Westen auf, die Planeten revolvieren von Ost nach West usw., die Namen allein sind geändert. Ja, in der Physik nennen wir den eigentlichen Südpol des Magneten, den vom Nordpol des Erdmagnetismus angezognen, den Nordpol, und es macht gar nichts aus.
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Daß Positiv und Negativ gleichgesetzt werden - einerlei, welche Seite positiv und welche negativ -, [findet statt] nicht nur in der analy- |486| tischen Geometrie, noch mehr in der Physik (siehe Clausius, p. 87 und ff.)
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Polarität. Magnet, durchschnitten, polarisiert die neutrale Mitte, doch so, daß die alten Pole bleiben. Dagegen ein Wurm, durchschnitten, behält am positiven Pol den aufnehmenden Mund und bildet am andern Ende einen neuen negativen Pol mit ausscheidendem After; aber der alte negative Pol (After) wird jetzt positiv, wird Mund, und ein neuer After oder negativer Pol am Wundende gebildet. Voilà Umschlagen des Positiven ins Negative.
Polarisation. Noch für J. Grimm stand der Satz fest, [daß] ein deutscher Dialekt entweder hochdeutsch oder niederdeutsch sein müsse. Dabei ging ihm der fränkische Dialekt total verloren. Weil das Schriftfränkische der spätern karolingischen Zeit hochdeutsch war (indem die hochdeutsche Lautverschiebung den fränkischen Südosten ergriffen), ging das Fränkische, nach seiner Vorstellung, hier im Althochdeutschen, dort im Französischen unter. Dabei blieb absolut unerklärlich, woher denn das Niederländische in die altsalischen Gebiete kam. Erst seit Grimms Tod ist das Fränkische wieder aufgefunden worden: das Salische in seiner Verjüngung als Niederländisch, das Ripuarische in den mittel- und niederrheinischen Dialekten, die teilweise in verschiedene Stufen hochdeutsch verschoben sind, teilweise niederdeutsch geblieben, so daß das Fränkische ein Dialekt ist, der sowohl hochdeutsch wie niederdeutsch ist.
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Zufälligkeit und Notwendigkeit
Ein andrer Gegensatz, in dem die Metaphysik befangen ist, ist der von Zufälligkeit und Notwendigkeit. Was kann sich schärfer widersprechen als diese beiden Denkbestimmungen? Wie ist es möglich, daß beide identisch seien, daß das Zufällige notwendig und das Notwendige ebenfalls zufällig sei? Der gemeine Menschenverstand und mit ihm die große Menge der Naturforscher behandelt Notwendigkeit und Zufälligkeit als Bestimmungen, die einander ein für allemal ausschließen. Ein Ding, ein Verhältnis, ein Vorgang ist entweder zufällig oder notwendig, aber nicht beides. Beide bestehn |487| also nebeneinander in der Natur; diese enthält allerlei Gegenstände und Vorgänge, von denen die einen zufällig, die andern notwendig sind und wobei es nur darauf ankommt, die beiden Sorten nicht miteinander zu verwechseln. Man nimmt so z.B. die entscheidenden Artmerkmale als notwendig an und bezeichnet sonstige Verschiedenheiten der Individuen derselben Art als zufällig, und dies gilt von Kristallen wie von Pflanzen und Tieren. Dabei wird dann wieder die niedere Gruppe zufällig gegen die höhere, so daß man es für zufällig erklärt, wieviel verschiedne Spezies des Genus felis |Katze| oder equus |Pferd| oder wieviel Genera und Ordnungen in einer Klasse, und wieviel Individuen von jeder dieser Spezies existieren, oder wieviel verschiedne Arten von Tieren in einem bestimmten Gebiet vorkommen, oder wie überhaupt Fauna, Flora. Und dann erklärt man das Notwendige für das einzig wissenschaftlich Interessierende und das Zufällige für das der Wissenschaft Gleichgültige. Das heißt: Was man unter Gesetze bringen kann, was man also kennt, ist interessant, das, was man nicht unter Gesetze bringen kann, was man also nicht kennt, ist gleichgültig, kann vernachlässigt werden. Damit hört alle Wissenschaft auf, denn sie soll grade das erforschen, was wir nicht kennen. Das heißt: Was man unter allgemeine Gesetze bringen kann, gilt für notwendig, und was nicht, für zufällig. Jedermann sieht, daß dies dieselbe Art Wissenschaft ist, die das, was sie erklären kann, für natürlich ausgibt, und das ihr Unerklärliche auf übernatürliche Ursachen schiebt; ob ich die Ursache des Unerklärlichen Zufall nenne oder Gott, bleibt für die Sache selbst vollständig gleichgültig. Beide sind nur ein Ausdruck für: Ich weiß es nicht, und gehören daher nicht in die Wissenschaft. Diese hört auf, wo der notwendige Zusammenhang versagt.
Demgegenüber tritt der Determinismus, der aus dem französischen Materialismus in die Naturwissenschaft übergegangen und der mit der Zufälligkeit fertig zu werden sucht, indem er sie überhaupt ableugnet. Nach dieser Auffassung herrscht in der Natur nur die einfache direkte Notwendigkeit. Daß diese Erbsenschote fünf Erbsen enthält und nicht vier oder sechs, daß der Schwanz dieses Hundes fünf Zoll lang ist und nicht eine Linie länger oder kürzer, daß diese Kleeblüte dies Jahr durch eine Biene befruchtet wurde und jene nicht, und zwar durch diese bestimmte Biene und zu dieser bestimmten Zeit, daß dieser bestimmte verwehte Löwenzahnsamen aufgegangen ist und jener nicht, daß mich vorige Nacht ein Floh um vier Uhr morgens gebissen hat und nicht um drei oder fünf, und zwar auf die |488| rechte Schulter, nicht aber auf die linke Wade, alles das sind Tatsachen, die durch eine unverrückbare Verkettung von Ursache und Wirkung, durch eine unerschütterliche Notwendigkeit hervorgebracht sind, so zwar, daß bereits der Gasball, aus dem das Sonnensystem hervorging, derart angelegt war, daß diese Ereignisse sich so und nicht anders zutragen mußten. Mit dieser Art Notwendigkeit kommen wir auch nicht aus der theologischen Naturauffassung heraus. Ob wir das den ewigen Ratschluß Gottes mit Augustin und Calvin, oder mit den Türken das Kismet, oder aber die Notwendigkeit nennen, bleibt sich ziemlich gleich für die Wissenschaft. Von einer Verfolgung der Ursachenkette ist in keinem dieser Fälle die Rede, wir sind also so klug im einen Falle wie im andern, die sog. Notwendigkeit bleibt eine leere Redensart, und damit - bleibt auch der Zufall, was er war. Solange wir nicht nachweisen können, worauf die Zahl der Erbsen in der Schote beruht, bleibt sie eben zufällig, und mit der Behauptung, daß der Fall bereits in der ursprünglichen Konstitution des Sonnensystems vorgesehn sei, sind wir keinen Schritt weiter. Noch mehr. Die Wissenschaft, welche sich daransetzen sollte, den casus dieser einzelnen Erbsenschote in seiner Kausalverkettung rückwärts zu verfolgen, wäre keine Wissenschaft mehr, sondern pure Spielerei; denn dieselbe Erbsenschote allein hat noch unzählige andre, individuelle, als zufällig erscheinende Eigenschaften, Nuance der Farbe, Dicke und Härte der Schale, Größe der Erbsen, von den durch das Mikroskop zu enthüllenden individuellen Besonderheiten gar nicht zu reden. Die Eine Erbsenschote gäbe also schon mehr Kausalzusammenhänge zu verfolgen, als alle Botaniker der Welt lösen könnten.
Die Zufälligkeit ist also hier nicht aus der Notwendigkeit erklärt, die Notwendigkeit ist vielmehr heruntergebracht auf die Erzeugung von bloß Zufälligem. Wenn das Faktum, daß eine bestimmte Erbsenschote sechs Erbsen enthält und nicht fünf oder sieben, auf derselben Ordnung steht, wie das Bewegungsgesetz des Sonnensystems oder das Gesetz der Verwandlung der Energie, dann ist in der Tat nicht die Zufälligkeit in die Notwendigkeit erhoben, sondern die Notwendigkeit degradiert zur Zufälligkeit. Noch mehr. Die Mannigfaltigkeit der auf einem bestimmten Terrain nebeneinander bestehenden organischen und anorganischen Arten und Individuen mag noch so sehr als auf unverbrüchlicher Notwendigkeit begründet behauptet werden, für die einzelnen Arten und Individuen bleibt sie, was sie war, zufällig. Es ist für das einzelne Tier zufällig, wo es geboren ist, welches Medium es zum Leben vorfindet, welche und wie viele Feinde es bedrohen. Es ist für die Mutterpflanze zufällig, wohin der Wind ihren Samen verweht, für die Tochterpflanze, wo das Samenkorn Keimboden findet, dem |489| sie entstammt, und die Versicherung, daß auch hier alles auf unverbrüchlicher Notwendigkeit beruhe, ist ein pauvrer |ärmlicher| Trost. Die Zusammenwürfelung der Naturgegenstände auf einem bestimmten Gebiet, noch mehr, auf der ganzen Erde, bleibt bei aller Urdetermination von Ewigkeit her doch, was sie war - zufällig.
Gegenüber beiden Auffassungen tritt Hegel mit den bisher ganz unerhörten Sätzen, daß das Zufällige einen Grund hat, weil es zufällig ist, und ebensosehr auch keinen Grund hat, weil es zufällig ist; daß das Zufällige notwendig ist, daß die Notwendigkeit sich selbst als Zufälligkeit bestimmt, und daß andrerseits diese Zufälligkeit vielmehr die absolute Notwendigkeit ist (»Logik«, II, Buch III, 2: »Die Wirklichkeit«). Die Naturwissenschaft hat diese Sätze einfach als paradoxe Spielereien, als sich selbst widersprechenden Unsinn links liegenlassen und ist theoretisch verharrt einerseits in der Gedankenlosigkeit der Wolffschen Metaphysik, nach der etwas entweder zufällig ist oder notwendig, aber nicht beides zugleich; oder andrerseits im kaum weniger gedankenlosen mechanischen Determinismus, der den Zufall im allgemeinen in der Phrase wegleugnet, um ihn in der Praxis in jedem besondern Fall anzuerkennen.
Während die Naturforschung fortfuhr, so zu denken, was tat sie in der Person Darwins?
Darwin, in seinem epochemachenden Werk, geht aus von der breitesten vorgefundnen Grundlage der Zufälligkeit. Es sind grade die unendlichen zufälligen Verschiedenheiten der Individuen innerhalb der einzelnen Arten, Verschiedenheiten, die sich bis zur Durchbrechung des Artcharakters steigern und deren selbst nächste Ursachen nur in den wenigsten Fällen nachweisbar sind, die ihn zwingen, die bisherige Grundlage aller Gesetzmäßigkeit in der Biologie, den Artbegriff in seiner bisherigen metaphysischen Starrheit und Unveränderlichkeit, in Frage zu stellen. Aber ohne den Artbegriff war die ganze Wissenschaft nichts. Alle ihre Zweige hatten den Artbegriff als Grundlage nötig: Die Anatomie des Menschen und die vergleichende - die Embryologie, die Zoologie, Paläontologie, Botanik etc., was waren sie ohne den Artbegriff ? Alle ihre Resultate waren nicht nur in Frage gestellt, sondern direkt aufgehoben. Die Zufälligkeit wirft die Notwendigkeit, wie sie bisher aufgefaßt, über den Haufen.{2} Die bisherige Vorstellung von der Notwendigkeit versagt. Sie beizubehalten heißt, die sich |490| selbst und der Wirklichkeit widersprechende Willkürbestimmung des Menschen der Natur als Gesetz aufzudiktieren, heißt damit alle innere Notwendigkeit in der lebenden Natur leugnen, heißt das chaotische Reich des Zufalls allgemein als einziges Gesetz der lebenden Natur proklamieren.
»Gilt nichts mehr der Tausves-Jontof!l« - schrien die Biologen aller Schulen ganz konsequent.
Darwin. |Siehe S. 563|
Hegel, »Logik«, Band I
»Das dem Etwas entgegengesetzte Nichts, das Nichts von irgend Etwas ist ein bestimmtes Nichts« |Hervorhebung von Engels| (S. 74).{3}
»In Rücksicht des wechselbestimmenden Zusammenhangs des« (Welt-) »Ganzen konnte die Metaphysik die - im Grunde tautologische |Hervorhebung von Engels| - Behauptung machen, daß, wenn ein Stäubchen zerstört würde, das ganze Universum zusammenstürze« (S. 78).
Negation Hauptstelle. »Einleitung«, S. 38:
»daß das sich Widersprechende sich nicht in Null, in das abstrakte Nichts, auflöst, sondern in die Negation seines bestimmten Inhalts« etc.
Negation der Negation. »Phänomenologie«, Vorrede, S. 4: Knospe, Blüte, Frucht etc.
Einheit von Natur und Geist. Den Griechen von selbst einleuchtend, daß die Natur nicht unvernünftig sein konnte, aber selbst heute noch die dümmsten Empiriker beweisen durch ihr Räsonnement (so falsch es auch sein mag), daß sie von vornherein überzeugt sind, die Natur könne nicht unvernünftig und die Vernunft nicht widernatürlich sein.
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|491| Die Entwicklung eines Begriffs oder Begriffsverhältnisses (Positiv und Negativ, Ursache und Wirkung, Substanz und Akzidenz) in der Geschichte des Denkens verhält sich zu seiner Entwicklung im Kopf des einzelnen Dialektikers wie die Entwicklung eines Organismus in der Paläontologie zu seiner Entwicklung in der Embryologie (oder vielmehr in der Geschichte und im einzelnen Keim). Daß dies so ist, zuerst von Hegel für die Begriffe entdeckt. In der geschichtlichen Entwicklung spielt die Zufälligkeit ihre Rolle, die im dialektischen Denken wie in der Entwicklung des Embryos sich in Notwendigkeit zusammenfaßt.
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Abstrakt und konkret. Das allgemeine Gesetz des Formwechsels der Bewegung ist viel konkreter als jedes einzelne »konkrete« Beispiel davon.
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Verstand und Vernunft. Diese Hegelsche Unterscheidung, in der nur das dialektische Denken vernünftig, hat einen gewissen Sinn. Alle Verstandstätigkeit: Induzieren, Deduzieren, also auch Abstrahieren (Didos Gattungsbegriffe: Vierfüßler und Zweifüßler), Analysieren unbekannter Gegenstände (schon das Zerbrechen einer Nuß ist Anfang der Analyse), Synthesieren (bei tierischen Schlauheitsstückchen) und, als Vereinigung beider, Experimentieren (bei neuen Hindernissen und in fremden Lagen) haben wir mit dem Tier gemein. Der Art nach sind diese sämtlichen Verfahrungsweisen - also alle Mittel der wissenschaftlichen Forschung, die die ordinäre Logik anerkennt - vollkommen gleich beim Menschen und den höheren Tieren. Nur dem Grade (der Entwicklung der jedesmaligen Methode) nach sind sie verschieden. Die Grundzüge der Methode sind gleich und führen zu gleichen Resultaten bei Mensch und Tier, solange beide bloß mit diesen elementaren Methoden arbeiten oder auskommen. - Dagegen das dialektische Denken - eben weil es die Untersuchung der Natur der Begriffe selbst zur Voraussetzung hat - ist nur dem Menschen möglich, und auch diesem erst auf einer verhältnismäßig hohen Entwicklungsstufe (Buddhisten und Griechen) und erreicht seine volle Entwicklung noch viel später durch die moderne Philosophie - und trotzdem schon die kolossalen Resultate bei den Griechen, die die Untersuchung weit antizipieren!
Die Chemie, in der die Analyse die vorherrschende Untersuchungsform ist, ist nichts ohne ihren Gegenpol, die Synthese.
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[Über die Klassifikation des Urteils]
|492| Die dialektische Logik, im Gegensatz zur alten, bloß formellen, begnügt sich nicht wie diese, die Formen der Bewegung des Denkens, d.h. die verschiednen Urteils- und Schlußformen, aufzuzählen und zusammenhangslos nebeneinander zu stellen. Sie leitet im Gegenteil diese Formen die eine aus der andern ab, sie subordiniert sie einander statt sie zu koordinieren, sie entwickelt die höheren Formen aus den niederen. Getreu seiner Einteilung der ganzen Logik gruppiert Hegel die Urteile als
1. Urteil des Daseins, die einfachste Form des Urteils, worin von einem einzelnen Ding eine allgemeine Eigenschaft bejahend oder verneinend ausgesagt wird (positives Urteil: Die Rose ist rot; negatives: Die Rose ist nicht blau, unendliches: Die Rose ist kein Kamel);
2. Urteil der Reflexion, worin vom Subjekt eine Verhältnisbestimmung, eine Relation ausgesagt wird (singuläres Urteil: Dieser Mensch ist sterblich; partikuläres: Einige, viele Menschen sind sterblich; universelles: Alle Menschen sind, oder der Mensch ist sterblich);
3. Urteil der Notwendigkeit, worin vom Subjekt seine substantielle Bestimmtheit ausgesagt wird (kategorisches Urteil: Die Rose ist eine Pflanze; hypothetisches Urteil: Wenn die Sonne aufgeht, so ist es Tag; disjunktives: Der Lepidosiren |Schuppenmolch| ist entweder ein Fisch oder ein Amphibium);
4. Urteil des Begriffs, worin vom Subjekt ausgesagt wird, inwieweit es seiner allgemeinen Natur oder, wie Hegel sagt, seinem Begriff entspricht (assertorisches Urteil: Dies Haus ist schlecht, problematisches: Wenn ein Haus so und so beschaffen ist, so ist es gut; apodiktisches: Das Haus, so und so beschaffen, ist gut).
1. Einzelnes Urteil, 2. und 3. besondres, 4. allgemeines.
So trocken sich dies hier auch liest, und so willkürlich auch auf den ersten Blick diese Klassifikation der Urteile hie und da erscheinen mag, so wird doch die innere Wahrheit und Notwendigkeit dieser Gruppierung jedem einleuchtend werden, der die geniale Entwicklung in Hegels »Großer Logik« (Werke, V, S. 63-15) durchstudiert. Wie sehr aber diese Gruppierung in den Denkgesetzen nicht nur, sondern auch in den Naturgesetzen begründet ist, dafür wollen wir hier ein außer diesem Zusammenhang sehr bekanntes Beispiel anführen.
Daß Reibung Wärme erzeugt, wußten schon die vorgeschichtlichen Menschen praktisch, als sie das Reibfeuer, vielleicht schon vor 100.000 Jahren, erfanden und noch früher kalte Körperteile durch Reibung erwärmten. |493| Aber von da bis zur Entdeckung, daß Reibung überhaupt eine Wärmequelle ist, sind wer weiß wieviel Jahrtausende vergangen. Genug, die Zeit kam, wo das menschliche Gehirn sich hinreichend entwickelt hatte, um das Urteil fällen zu können: Die Reibung ist eine Quelle von Wärme, ein Urteil des Daseins, und zwar ein positives.
Wieder vergingen Jahrtausende, bis 1842 Mayer, Joule und Colding diesen Spezialvorgang nach seinen Beziehungen zu inzwischen entdeckten andern Vorgängen ähnlicher Art, d.h. nach seinen nächsten allgemeinen Bedingungen untersuchten und das Urteil dahin formulierten: Alle mechanische Bewegung ist fähig, sich vermittelst der Reibung in Wärme umzusetzen. So viel Zeit und eine enorme Menge empirischer Kenntnisse waren erforderlich, bis wir in der Erkenntnis des Gegenstands von obigem positiven Urteil des Daseins zu diesem universellen Urteil der Reflexion fortrücken konnten.
Jetzt aber ging's rasch. Schon drei Jahre später konnte Mayer, wenigstens der Sache nach, das Urteil der Reflexion auf die Stufe erheben, auf der es jetzt Geltung hat: Jede Form der Bewegung ist ebenso befähigt wie genötigt, unter den für jeden Fall bestimmten Bedingungen, direkt oder indirekt, in jede andre Form der Bewegung umzuschlagen - Urteil des Begriffs, und zwar apodiktisches, höchste Form des Urteils überhaupt.
Was also bei Hegel als eine Entwicklung der Denkform des Urteils als solchen erscheint, tritt uns hier entgegen als Entwicklung unsrer auf empirischer Grundlage beruhenden theoretischen Kenntnisse von der Natur der Bewegung überhaupt. Das zeigt denn doch, daß Denkgesetze und Naturgesetze notwendig miteinander stimmen, sobald sie nur richtig erkannt sind.
Wir können das erste Urteil fassen als das der Einzelheit: Das vereinzelte Faktum, daß Reibung Wärme erzeugt, wird registriert. Das zweite Urteil als das der Besonderheit: Eine besondre Form der Bewegung, die mechanische, hat die Eigenschaft gezeigt, unter besondern Umständen (durch Reibung) in eine andre besondre Bewegungsform, die Wärme, überzugehn. Das dritte Urteil ist das der Allgemeinheit: Jede Form der Bewegung hat sich erwiesen als befähigt und genötigt, in jede andre Form der Bewegung umzuschlagen. Mit dieser Form hat das Gesetz seinen letzten Ausdruck erlangt. Wir können durch neue Entdeckungen ihm neue Belege, neuen, reicheren Inhalt geben. Aber dem Gesetz selbst, wie es da ausgesprochen, können wir nichts mehr hinzufügen. In seiner Allgemeinheit, in der Form und Inhalt beide gleich allgemein, ist es keiner Erweiterung fähig: Es ist absolutes Naturgesetz.
|494| Leider hapert's bei der Bewegungsform des Eiweißes, alias Leben, solange wir kein Eiweiß machen können.
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Oben aber auch nachgewiesen, daß zum Urteilen nicht nur Kantsche »Urteilskraft« gehört, sondern eine [...] {4}
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Einzelnheit, Besonderheit, Allgemeinheit, das sind die drei Bestimmungen, in denen sich die ganze »Lehre vom Begriff« bewegt. Darunter wird dann nicht in einer, sondern vielen Modalitäten vom Einzelnen zum Besondern und von diesem zum Allgemeinen fortgeschritten, und dies oft genug von Hegel als Fortschritt: Individuum, Art, Gattung, exemplifiziert. Und nun kommen die Induktions-Haeckel und posaunen es als eine große Tat aus - gegen Hegel -, daß vom Einzelnen zum Besondern und dann zum Allgemeinen fortgeschritten werden solle! vom Individuum zur Art und dann zur Gattung - und erlauben dann Deduktionsschlüsse, die weiterführen sollen. Die Leute haben sich so in den Gegensatz von Induktion und Deduktion festgeritten, daß sie alle logischen Schlußformen auf diese 2 reduzieren und dabei gar nicht merken, daß sie 1. unter jenen Namen ganz andre Schlußformen unbewußt anwenden, 2. den ganzen Reichtum der Schlußformen entbehren, soweit er sich nicht unter jene 2 zwängen läßt, und 3. damit die beiden Formen: Induktion und Deduktion, selbst in reinen Blödsinn verwandeln.
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Induktion und Deduktion. Haeckel, p. 75 ff., wo Goethe den Induktionsschluß macht, daß der den Zwischenkiefer normal nicht habende Mensch ihn haben muß, also durch falsche Induktion auf etwas Richtiges kommt!
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Unsinn von Haeckel: Induktion gegen Deduktion. Als ob nicht Deduk- |495| tion = Schließen, also auch die Induktion eine Deduktion. Das kommt vom Polarisieren. Haeckel, »Schöpfungsgeschichte«, S. 76/77. Der Schluß polarisiert in Induktion und Deduktion!
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Durch Induktion gefunden vor 100 Jahren, daß Krebse und Spinnen Insekten und alle niedern Tiere Würmer waren. Durch Induktion jetzt gefunden, daß dies Unsinn, und x Klassen bestehn. Worin also der Vorzug des sog. Induktionsschlusses, der ebenso falsch sein kann als der sog, Deduktionsschluß, dessen Grund doch die Klassifikation?
Induktion kann nie beweisen, daß es nicht einmal ein Säugetier geben wird ohne Milchdrüsen. Früher die Zitzen Zeichen des Säugetiers. Aber das Schnabeltier hat keine.
Der ganze Induktionsschwindel [geht aus] von den Engländern, Whewell, inductive sciences |induktive Wissenschaften|, die bloß mathematischen [Wissenschaften] umfassend, und so der Gegensatz gegen Deduktion erfunden. Davon weiß die Logik, alte und neue, nichts. Experimentell und auf Erfahrung beruhend sind alle Schlußformen, die vom Einzelnen anfangen, ja der induktive Schluß fängt sogar vom A - E - B |Allgemeine - Einzelne - Besondere| (allgemein) an.
Auch bezeichnend für die Denkkraft unsrer Naturforscher, daß Haeckel fanatisch für die Induktion auftritt grade im Moment, wo die Resultate der Induktion - die Klassifikationen - überall in Frage gestellt (Limulus eine Spinne, Aszidia ein Wirbeltier oder Chordatum, die Dipnoi |Doppelatmer| entgegen aller ursprünglichen Definition der Amphibien dennoch Fische und täglich neue Tatsachen entdeckt, die die ganze bisherige Induktionsklassifikation umwerfen. Wie schöne Bestätigung von Hegels Satz, daß der Induktionsschuß wesentlich ein problematischer! Ja, sogar die ganze Klassifikation der Organismen ist durch die Entwicklungstheorie der Induktion abgenommen und auf die »Deduktion«, die Abstammung zurückgeführt - eine Art wörtlich von einer andern durch Abstammung deduziert - und die Entwicklungstheorie durch bloße Induktion nachzuweisen unmöglich, da sie ganz antiinduktiv. Die Begriffe, womit die Induktion hantiert: Art, Gattung, Klasse, durch die Entwicklungstheorie flüssig gemacht und damit relativ geworden: mit relativen Begriffen aber nicht zu induzieren.
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|496| Den Allinduktionisten: Mit aller Induktion in der Welt wären wir nie dahin gekommen, uns über den Induktionsprozeß klarzuwerden. Das konnte nur die Analyse dieses Prozesses fertigbringen. - Induktion und Deduktion gehören so notwendig zusammen wie Synthese und Analyse {5}. Statt die eine auf Kosten der andern einseitig in den Himmel zu erheben, soll man suchen, sie jede an ihrem Platz anzuwenden, und das kann man nur dann, wenn man ihre Zusammengehörigkeit, ihr wechselseitiges Sichergänzen im Auge behält. - Nach den Induktionisten wäre die Induktion eine unfehlbare Methode. Sie ist es so wenig, daß ihre scheinbar sichersten Resultate jeden Tag durch neue Entdeckungen umgeworfen [werden]. Die Lichtkörperchen, der Wärmestoff waren Resultate der Induktion. Wo sind sie? Die Induktion lehrte uns, daß alle Wirbeltiere ein in Hirn und Rückenmark differenziertes Zentralnervensystem haben, und daß das Rückenmark in knorplige oder knochige Wirbel - woher sogar der Name genommen - eingeschlossen. Da entpuppte sich der Amphioxus als ein Wirbeltier mit undifferenziertem Zentralnervenstrang und ohne Wirbel. Die Induktion stellte fest, daß Fische diejenigen Wirbeltiere sind, welche lebenslang ausschließlich durch Kiemen atmen. Da tauchen Tiere auf, deren Fischcharakter fast allgemein anerkannt, die aber neben den Kiemen gut entwickelte Lungen haben, und es stellt sich heraus, daß jeder Fisch in der Luftblase eine potentielle Lunge führt. Erst durch kühne Anwendung der Entwicklungslehre half Haeckel den in diesen Widersprüchen sich ganz behaglich fühlenden Induktionisten heraus. - Wäre die Induktion wirklich so unfehlbar, woher dann die sich überstürzenden Klassifikationsumwälzungen in der organischen Welt? Sie sind doch das eigenste Produkt der Induktion und schlagen doch einander tot.
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Induktion und Analyse. Ein schlagendes Exempel, wie wenig die Induktion den Anspruch hat, einzige oder doch vorherrschende Form der wissenschaftlichen Entdeckung zu sein, bei der Thermodynamik: Die Dampfmaschine gab den schlagendsten Beweis, daß man Wärme einsetzen und mechanische Bewegungen erzielen kann. 100.000 Dampfmaschinen bewiesen das nicht mehr als Eine, drängten nur mehr und mehr die Physiker zur Notwendigkeit, dies zu erklären. Sadi Carnot war der erste, der sich ernstlich dranmachte. Aber nicht per Induktion. Er studierte die Dampfmaschine, |497| analysierte sie, fand, daß bei ihr der Prozeß, auf den es ankam, nicht rein erscheint, von allerhand Nebenprozessen verdeckt wird, beseitigte diese für den wesentlichen Prozeß gleichgültigen Nebenumstände und konstruierte eine ideale Dampfmaschine (oder Gasmaschine), die zwar ebensowenig herstellbar ist wie z.B. eine geometrische Linie oder Fläche, aber in ihrer Weise denselben Dienst tut wie diese mathematischen Abstraktionen: Sie stellt den Prozeß rein, unabhängig, unverfälscht dar. Und er stieß mit der Nase auf das mechanische Äquivalent der Wärme (siehe die Bedeutung seiner Funktion C |Siehe S. 335|), das er nur nicht entdecken und sehn konnte, weil er an den Wärmestoff glaubte. Hier auch der Beweis vom Schaden falscher Theorien.
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Die Empirie der Beobachtung allein kann nie die Notwendigkeit genügend beweisen. Post hoc |nach diesem|, aber nicht propter hoc |wegen diesem| (»Enz[yklopädie]«, I, S. 84). Dies ist so sehr richtig, daß aus dem steten Aufgehn der Sonne des Morgens nicht folgt, sie werde morgen wieder aufgehn, und in der Tat wissen wir jetzt, daß ein Moment kommen wird, wo die Sonne eines Morgens nicht aufgeht. Aber der Beweis der Notwendigkeit liegt in der menschlichen Tätigkeit, im Experiment, in der Arbeit: Wenn ich das post hoc machen kann, wird es identisch mit dem propter hoc.
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Kausalität. Das erste, was uns bei der Betrachtung der sich bewegenden Materie auffällt, ist der Zusammenhang der Einzelbewegungen einzelner Körper unter sich, ihr Bedingtsein durch einander. Wir finden aber nicht nur, daß auf eine gewisse Bewegung eine andre folgt, sondern wir finden auch, daß wir eine bestimmte Bewegung hervorbringen können, indem wir die Bedingungen herstellen, unter denen sie in der Natur vorgeht, ja daß wir Bewegungen hervorbringen können, die in der Natur gar nicht vorkommen (Industrie), wenigstens nicht in dieser Weise, und daß wir diesen Bewegungen eine vorher bestimmte Richtung und Ausdehnung geben können. Hierdurch, durch die Tätigkeit des Menschen, begründet sich die Vorstellung von Kausalität, die Vorstellung, daß eine Bewegung die |498| Ursache einer andern ist. Die regelmäßige Aufeinanderfolge gewisser Naturphänomene allein kann zwar die Vorstellung der Kausalität erzeugen: die Wärme und das Licht, die mit der Sonne kommen; aber hierin liegt kein Beweis, und sofern hätte der Humesche Skeptizismus recht, zu sagen, daß das regelmäßige post hoc nie ein propter hoc begründen könne. Aber die Tätigkeit des Menschen macht die Probe auf die Kausalität. Wenn wir mit [einem] Brennspiegel die Sonnenstrahlen ebenso in einen Fokus konzentrieren und wirksam machen wie die des gewöhnlichen Feuers, so beweisen wir dadurch, daß die Wärme von der Sonne kommt. Wenn wir in eine Flinte Zündung, Sprengladung und Geschoß einbringen und dann abfeuern, so rechnen wir auf den erfahrungsmäßig im voraus bekannten Effekt {6}, weil wir den ganzen Prozeß der Entzündung, Verbrennung, Explosion durch die plötzliche Verwandlung in Gas, Druck des Gases auf das Geschoß in allen seinen Einzelheiten verfolgen können. Und hier kann {7} der Skeptiker nicht einmal sagen, daß aus der bisherigen Erfahrung nicht folge, es werde das nächste Mal ebenso sein. Denn es kommt in der Tat vor, daß es zuweilen nicht ebenso ist, daß die Zündung oder das Pulver versagt, daß der Flintenlauf springt etc. Aber grade dies beweist die Kausalität, statt sie umzustoßen, weil wir für jede solche Abweichung von der Regel bei gehörigem Nachforschen die Ursache auffinden können: chemische Zersetzung der Zündung, Nässe etc. des Pulvers, Schadhaftigkeit des Laufs etc., so daß hier die Probe auf die Kausalität sozusagen doppelt gemacht ist.
Naturwissenschaft wie Philosophie haben den Einfluß der Tätigkeit des Menschen auf sein Denken bisher ganz vernachlässigt, sie kennen nur Natur einerseits, Gedanken andrerseits. Aber grade die Veränderung der Natur durch den Menschen, nicht die Natur als solche allein, ist die wesentlichste und nächste Grundlage des menschlichen Denkens, und im Verhältnis, wie der Mensch die Natur verändern lernte, in dem Verhältnis wuchs seine Intelligenz. Die naturalistische Auffassung der Geschichte, wie z.B. mehr oder weniger bei Draper und andern Naturforschern, als ob die Natur ausschließlich auf den Menschen wirke, die Naturbedingungen überall seine geschichtliche Entwicklung ausschließlich bedingten, ist daher einseitig und vergißt, daß der Mensch auch auf die Natur zurückwirkt, sie verändert, sich neue Existenzbedingungen schafft. Von der »Natur« Deutschlands zur Zeit, als die Germanen einwanderten, ist verdammt wenig übrig. Erdoberfläche, Klima, Vegetation, Fauna, die Menschen selbst haben sich |499| unendlich verändert und alles durch menschliche Tätigkeit, während die Veränderungen, die ohne menschliches Zutun in dieser Zeit in der Natur Deutschlands, unberechenbar klein sind.
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Wechselwirkung ist das erste, was uns entgegentritt, wenn wir die sich bewegende Materie im ganzen und großen, vom Standpunkt der heutigen Naturwissenschaft betrachten. Wir sehn eine Reihe von Bewegungsformen, mechanische Bewegung, Wärme, Licht, Elektrizität, Magnetismus, chemische Zusammensetzung und Zersetzung, Übergänge der Aggregatzustände, organisches Leben, die alle, wenn wir jetzt noch das organische Leben ausnehmen, ineinander übergehn, einander gegenseitig bedingen, hier Ursache, dort Wirkung sind, und wobei die Gesamtsumme der Bewegung in allen wechselnden Formen dieselbe bleibt (Spinoza: Die Substanz ist causa sui |Ursache ihrer selbst| - drückt die Wechselwirkung schlagend aus. Mechanische Bewegung schlägt um in Wärme, Elektrizität, Magnetismus, Licht etc. etc., und vice versa. So wird von der Naturwissenschaft bestätigt, was Hegel sagt (wo?), daß die Wechselwirkung die wahre causa finalis |letzte Ursache| der Dinge ist. Weiter zurück als zur Erkenntnis dieser Wechselwirkung können wir nicht, weil eben dahinter nichts zu Erkennendes liegt. Haben wir die Bewegungsformen der Materie erkannt (woran allerdings noch immer sehr viel fehlt, vu |gesehen| die kurze Zeit, seit welcher Naturwissenschaft existiert), so haben wir die Materie selbst erkannt, und damit ist die Erkenntnis fertig (Groves ganzes Mißverständnis über Kausalität beruht darauf, daß er die Kategorie der Wechselwirkung nicht fertigbringt; er hat die Sache, aber nicht den abstrakten Gedanken, und daher die Konfusion. p. 10-14 Erst von dieser universellen Wechselwirkung kommen wir zum wirklichen Kausalitätsverhältnis. Um die einzelnen Erscheinungen zu verstehn, müssen wir sie aus dem allgemeinen Zusammenhang reißen, sie isoliert betrachten, und da erscheinen die wechselnden Bewegungen, die eine als Ursache, die andre als Wirkung.
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Wer Kausalität leugnet, dem ist jedes Naturgesetz eine Hypothese und unter anderm die chemische Analyse der Weltkörper durch das prismatische Spektrum ebenfalls. Welche Seichtigkeit des Denkens, dabei stehnzubleiben!
Über Nägelis Unfähigkeit, das Unendliche zu erkennen
Nägeli, p.12/13
|500| Nägeli sagt zuerst, daß wir wirklich qualitative Unterschiede nicht erkennen können, und sagt gleich darauf, daß solche »absolute Unterschiede« in der Natur nicht vorkommen! ([S.] 12.)
Erstens hat jede Qualität unendlich viele quantitative Gradationen, z.B. Farbennuancen, Härte und Weiche, Langlebigkeit etc., und diese sind, obwohl qualitativ unterschieden, meßbar und erkennbar.
Zweitens existieren keine Qualitäten, sondern nur Dinge mit Qualitäten, und zwar unendlich vielen Qualitäten. Bei 2 verschiednen Dingen sind stets gewisse Qualitäten (die Eigenschaften der Körperlichkeit zum mindesten) gemeinsam, andre graduell verschieden, noch andre können dem Einen ganz fehlen. Halten wir diese beiden extrem verschiednen Dinge - z.B. einen Meteoriten und einen Menschen - separat zusammen, so kommt dabei wenig heraus, höchstens, daß beiden Schwere und andre allgemeine Körpereigenschaften gemeinsam. Aber zwischen beiden fügen sich eine unendliche Reihe andrer Naturdinge und Naturvorgänge ein, die uns erlauben, die Reihe vom Meteoriten bis zum Menschen zu vervollständigen und jedem seine Stelle im Naturzusammenhang anzuweisen, sie damit zu erkennen. Dies gibt Nägeli selbst zu.
Drittens könnten uns unsre verschiednen Sinne absolut qualitativ verschiedne Eindrücke geben. Die Eigenschaften, die wir vermittelst Gesicht, Gehör, Geruch, Geschmack und Tastsinn erfahren, wären hiernach absolut verschieden. Aber auch hier fallen die Unterschiede mit dem Fortschritt der Untersuchung. Geruch und Geschmack sind längst als verwandte, zusammengehörige Sinne erkannt, die zusammengehörige, wo nicht identische Eigenschaften wahrnehmen. Gesicht und Gehör nehmen beide Wellenschwingungen wahr. Tastsinn und Gesicht ergänzen sich wechselseitig so sehr, daß wir vom Ansehn eines Dings oft genug seine Tasteigenschaften vorhersagen können. Und endlich ist es immer dasselbe Ich, das alle diese verschiednen Sinneseindrücke in sich aufnimmt und verarbeitet, also in eins zusammenfaßt, und ebenso sind diese verschiednen Eindrücke geliefert durch dasselbe Ding, als dessen gemeinsame Eigenschaften sie erscheinen, das sie also erkennen helfen. Diese verschiednen, nur verschiednen Sinnen zugänglichen Eigenschaften zu erklären, in innern Zusammenhang unter sich zu bringen, ist eben Aufgabe der Wissenschaft, die sich bis jetzt |501| nicht darüber beklagt hat, daß wir statt der 5 Spezialsinne nicht einen Generalsinn haben oder daß wir die Geschmäcke und Gerüche nicht sehn oder hören können.
Wohin wir sehn, nirgendwo in der Natur gibt's solche »qualitativ oder absolut verschiedne Gebiete«, die als unbegreiflich angegeben werden. Die ganze Konfusion entspringt aus der Konfusion über Qualität und Quantität. Nach der herrschenden mechanischen Ansicht gelten Nägeli alle qualitativen Unterschiede nur soweit für erklärt, als sie auf quantitative reduziert werden können (worüber anderswo das Nötige), resp. daraus, daß ihm Qualität und Quantität als absolut verschiedene Kategorien gelten. Metaphysik.
»Wir können nur das Endliche |Hervorhebung von Engels| erkennen etc.« [p. 13.]
Dies ist soweit ganz richtig, als nur endliche Gegenstände in den Bereich unsres Erkennens fallen. Aber der Satz hat auch die Ergänzung nötig: »Wir können im Grunde nur das Unendliche erkennen.« In der Tat besteht alles wirkliche, erschöpfende Erkennen nur darin, daß wir das Einzelne im Gedanken aus der Einzelheit in die Besonderheit und aus dieser in die Allgemeinheit erheben, daß wir das Unendliche im Endlichen, das Ewige im Vergänglichen auffinden und feststellen. Die Form der Allgemeinheit ist aber Form der Insichabgeschlossenheit, damit Unendlichkeit, sie ist die Zusammenfassung der vielen Endlichen zum Unendlichen. Wir wissen, daß Chlor und Wasserstoff innerhalb gewisser Druck- und Temperaturgrenzen und unter Einwirkung des Lichts sich unter Explosion zu Chlorwasserstoffgas verbinden, und sobald wir dies wissen, wissen wir auch, daß dies überall und immer geschieht, wo obige Bedingungen vorhanden, und es kann gleichgültig sein, ob sich dies einmal oder millionenmal wiederholt und auf wieviel Weltkörpern. Die Form der Allgemeinheit in der Natur ist Gesetz, und niemand mehr als die Naturforscher führen die Ewigkeit der Naturgesetze im Mund. Wenn also Nägeli sagt, man mache das Endliche unergründlich, wenn man nicht bloß dies Endliche erforschen wolle, sondern ihm Ewiges beimische, so leugnet er entweder die Erkennbarkeit der Naturgesetze oder ihre Ewigkeit. Alle wahre Naturerkenntnis ist Erkenntnis von Ewigem, Unendlichem und daher wesentlich absolut.
Aber diese absolute Erkenntnis hat einen bedeutenden Haken. Wie die Unendlichkeit des erkennbaren Stoffs aus lauter Endlichkeiten sich zusammensetzt, so setzt sich auch die Unendlichkeit des absolut erkennenden |502| Denkens zusammen aus einer unendlichen Anzahl endlicher Menschenköpfe, die neben- und nacheinander an dieser unendlichen Erkenntnis arbeiten, praktische und theoretische Böcke schießen, von schiefen, einseitigen, falschen Voraussetzungen ausgehn, falsche, krumme, unsichre Bahnen verfolgen und oft nicht einmal das Richtige treffen, wenn sie mit der Nase drauf stoßen (Priestley). Das Erkennen des Unendlichen ist daher mit doppelten Schwierigkeiten umschanzt und kann sich, seiner Natur nach, nur vollziehn in einem unendlichen asymptotischen Progreß. Und das genügt uns vollständig, um sagen zu können: Das Unendliche ist ebenso erkennbar wie unerkennbar, und das ist alles, was wir brauchen.
Komischerweise sagt Nägeli dasselbe:
»Wir können nur das Endliche, aber wir können auch alles Endliche |Hervorhebung von Engels| erkennen, das in den Bereich unsrer sinnlichen Wahrnehmung fällt« [p. 13].
Das Endliche, das in den Bereich usw. fällt, macht eben in Summa das Unendliche aus, denn diese ist es grade, woraus Nägeli sich seine Vorstellung vom Unendlichen geholt! Ohne dies Endliche usw. hätte er ja gar keine Vorstellung vom Unendlichen!
(Über das schlechte Unendliche als solches anderswo zu reden.)
Vor dieser Unendlichkeitsuntersuchung das Folgende:
1. Das »winzige Gebiet« nach Raum und Zeit.
2. Die »wahrscheinlich mangelnde Ausbildung von Sinnesorganen«.
3. Daß wir »nur das Endliche, Vergängliche, Wechselnde, nur das gradweise Verschiedene und Relative erkennen, [weil wir nur mathematische Begriffe auf die natürlichen Dinge übertragen und die letzteren nur nach den an ihnen selber gewonnenen Maßen beurteilen können. Für alles Endlose oder Ewige, für alles Beständige, für alle absoluten Verschiedenheiten haben wir keine Vorstellungen. Wir wissen genau, was eine Stunde, ein Meter, ein Kilogramm bedeutet, aber] wir wissen nicht, was Zeit, Raum, Kraft und Stoff, Bewegung und Ruhe, Ursache und Wirkung ist.« [p. 13.]
Es ist die alte Geschichte. Erst macht man Abstraktionen von den sinnlichen Dingen, und dann will man sie sinnlich erkennen, die Zeit sehn und den Raum riechen. Der Empiriker vertieft sich so sehr in die Gewohnheit des empirischen Erfahrens, daß er sich noch auf dem Gebiet des sinnlichen Erfahrens glaubt, wenn er mit Abstraktionen hantiert. Wir wissen, was eine Stunde, ein Meter ist, aber nicht, was Zeit und Raum! Als ob die Zeit etwas |503| andres als lauter Stunden, und der Raum etwas andres als lauter Kubikmeter! Die beiden Existenzformen der Materie sind natürlich ohne die Materie nichts, leere Vorstellungen, Abstraktionen, die nur in unserm Kopf existieren. Aber wir sollen ja auch nicht wissen, was Materie und Bewegung sind! Natürlich nicht, denn die Materie als solche und die Bewegung als solche hat noch niemand gesehn oder sonst erfahren, sondern nur die verschiednen, wirklich existierenden Stoffe und Bewegungsformen. Der Stoff, die Materie ist nichts andres als die Gesamtheit der Stoffe, aus der dieser Begriff abstrahiert, die Bewegung als solche nichts als die Gesamtheit aller sinnlich wahrnehmbaren Bewegungsformen; Worte wie Materie und Bewegung sind nichts als Abkürzungen, in die wir viele verschiedne sinnlich wahrnehmbare Dinge zusammenfassen nach ihren gemeinsamen Eigenschaften. Die Materie und Bewegung kann also gar nicht anders erkannt werden als durch Untersuchung der einzelnen Stoffe und Bewegungsformen, und indem wir diese erkennen, erkennen wir pro tanto |insofern| auch die Materie und Bewegung als solche. Indem Nägeli also sagt, daß wir nicht wissen, was Zeit, Raum, Materie, Bewegung, Ursache und Wirkung ist, sagt er bloß, daß wir uns erst mit unserm Kopf Abstraktionen von der wirklichen Welt machen und dann diese selbstgemachten Abstraktionen nicht erkennen können, weil sie Gedankendinge und keine sinnlichen Dinge sind, alles Erkennen aber sinnliches Messen ist! Grade wie die Schwierigkeit bei Hegel, wir können wohl Kirschen und Pflaumen essen, aber kein Obst, weil noch niemand Obst als solches gegessen hat.
Wenn Nägeli behauptet, es gebe wahrscheinlich eine ganze Menge von Bewegungsformen in der Natur, die wir mit unsern Sinnen nicht wahrnehmen können, so ist das eine pauvre Entschuldigung, gleichbedeutend mit Aufhebung, wenigstens für unsre Erkenntnis, des Gesetzes von der Unerschaffbarkeit von Bewegung. Denn sie können sich ja in für uns wahrnehmbare Bewegung verwandeln! Da wäre z.B. die Kontaktelektrizität leicht erklärt!
Ad vocem |Anläßlich| Nägeli: Unfaßbarkeit des Unendlichen. Sobald wir sagen, Materie und Bewegung sind nicht erschafft und unzerstörbar, sagen wir, |504| daß die Weit als unendlicher Progreß, d.h. in der Form der schlechten Unendlichkeit, existiert, und haben damit an diesem Prozeß alles begriffen, was zu begreifen ist. Höchstens fragt sich noch, ob dieser Prozeß eine - in großen Kreisläufen - ewige Wiederholung desselben ist, oder ob die Kreisläufe ab- und aufsteigende Äste haben.
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Schlechte Unendlichkeit. Die wahre schon von Hegel richtig in den erfüllten Raum und Zeit gelegt, in den Naturprozeß und die Geschichte. Jetzt auch die ganze Natur in Geschichte aufgelöst, und die Geschichte nur als Entwicklungsprozeß selbstbewußter Organismen von der Geschichte der Natur verschieden. Diese unendliche Mannigfaltigkeit von Natur und Geschichte hat die Unendlichkeit des Raums und der Zeit - die schlechte - nur als aufgehobnes, zwar wesentliches, aber nicht vorwiegendes Moment in sich. Die äußerste Grenze unsrer Naturwissenschaft ist bis jetzt unser Universum, und die unendlich vielen Universen da draußen brauchen wir nicht, um die Natur zu erkennen. Ja, selbst nur Eine Sonne unter Millionen Sonnen und ihr System bildet den wesentlichen Boden unsrer astronomischen Forschung. Für irdische Mechanik, Physik, Chemie sind wir mehr oder weniger, für organische Wissenschaft ganz auf die kleine Erde beschränkt. Und doch tut dies der praktisch unendlichen Mannigfaltigkeit der Phänomene und der Naturerkenntnis keinen wesentlichen Eintrag, ebensowenig wie bei der Geschichte die gleiche, noch größere Beschränkung auf eine verhältnismäßig kurze Zeit und kleinen Teil der Erde.
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1. Der unendliche Progreß ist bei Hegel die leere Öde, weil er nur als ewige Wiederholung desselben erscheint: 1 + 1 + 1 etc.
2. Aber in Wirklichkeit ist er keine Wiederholung, sondern Entwicklung, Fortschritt oder Rückschritt, und damit wird er notwendige Bewegungsform. Abgesehn davon, daß er nicht unendlich ist: Das Ende der Lebensperiode der Erde ist schon jetzt abzusehn. Dafür ist denn auch die Erde nicht die ganze Welt. Im Hegelschen System war für die zeitliche Geschichte der Natur jede Entwicklung ausgeschlossen, sonst wäre die Natur nicht das Außersichsein des Geistes. Aber in der Menschengeschichte ist der unendliche Progreß von Hegel als die einzig wahre Daseinsform des »Geistes« anerkannt, nur daß phantastischerweise ein Ende dieser Entwicklung angenommen wird - in der Herstellung der Hegelschen Philosophie.
|505| 3. Es gibt auch unendliches Erkennen {8}: Questa infinita che le cose non hanno in progresso, la hanno in giro |Jenes Unendliche, das die Dinge im Fortschreiten nicht haben, haben sie im Kreislauf|. So ist das Gesetz von dem Formwechsel der Bewegung ein unendliches, sich in sich zusammenschließendes. Aber solche Unendlichkeiten sind wieder mit der Endlichkeit behaftet, kommen nur stückweise vor. So auch 1/r2.
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Die ewigen Naturgesetze verwandeln sich auch immer mehr in historische. Daß Wasser von 0 - 100°C flüssig ist, ist ein ewiges Naturgesetz, aber damit es Geltung haben kann, muß 1. Wasser, 2. die gegebne Temperatur und 3. Normaldruck da sein. Auf dem Mond ist kein Wasser, auf der Sonne nur seine Elemente, und für diese Weltkörper existiert das Gesetz nicht. - Die Gesetze der Meteorologie sind auch ewig, aber nur für die Erde oder für einen Körper von der Größe, Dichtigkeit, Achsenneigung und Temperatur der Erde, und vorausgesetzt, daß er eine Atmosphäre von gleicher Mischung Sauerstoff und Stickstoff und gleiche Mengen aufsteigenden und sich niederschlagenden Wasserdampfs hat. Der Mond hat keine Atmosphäre, die Sonne eine von glühenden Metalldämpfen, der erstere hat keine Meteorologie, die zweite eine ganz andre als die unsre. - Unsre ganze offizielle Physik, Chemie und Biologie ist exklusiv geozentrisch, nur für die Erde berechnet. Die Verhältnisse elektrischer und magnetischer Spannung auf der Sonne, den Fixsternen und Nebelflecken, ja auf Planeten von andrer Dichtigkeit, kennen wir noch gar nicht. Die Gesetze der chemischen Verbindungen der Elemente sind auf der Sonne durch die hohe Temperatur suspendiert resp. nur momentan an den Grenzen der Sonnenatmosphäre wirksam, und die Verbindungen lösen sich bei Annäherung an die Sonne wieder. Die Chemie der Sonne ist eben im Werden begriffen und notwendig eine ganz andre als die der Erde, sie stößt diese nicht um, aber sie steht außer ihr. Auf den Nebelflecken existieren vielleicht nicht einmal diejenigen der 65 Elemente, die möglicherweise selbst zusammengesetzt sind. Wenn wir also von allgemeinen Naturgesetzen sprechen wollen, die auf alle Körper - vom Nebelfleck bis zum Menschen - gleichmäßig passen, so bleibt uns nur die Schwere und etwa die allgemeinste Fassung der Theorie von der Umwandlung der Energie vulgo mechanische Wärmetheorie. Aber diese |506| Theorie selbst verwandelt sich mit ihrer allgemeinen konsequenten Durchführung auf alle Naturerscheinungen in eine geschichtliche Darstellung der in einem Weltsystem von seiner Entstehung bis zu seinem Untergang nacheinander vorgehenden Veränderungen, also in eine Geschichte, in der auf jeder Stufe andre Gesetze, d.h. andre Erscheinungsformen derselben universalen Bewegung herrschen, und somit als durchgehend Allgemeingültiges nichts bleibt als - die Bewegung.
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Der geozentrische Standpunkt in der Astronomie borniert und mit Recht beseitigt. Aber sowie wir weitergehn in der Forschung, tritt er mehr und mehr in sein Recht. Sonne etc. dienen der Erde (Hegel »Naturphil[osophie]«, [S.] 155). (Die ganze dicke Sonne bloß der kleinen Planeten wegen da.) Etwas anderes als geozentrische Physik, Chemie, Biologie, Meteorologie etc. für uns unmöglich, und sie verliert nichts durch die Phrase, daß dies nur für die Erde gelte und daher nur relativ sei. Nimmt man das ernsthaft und verlangt eine zentrumslose Wissenschaft, so stoppt man alle Wissenschaft. [Es genügt] uns zu wissen, daß unter gleichen Umständen überall das Gleiche erfolgen muß, 1.000 Bill[ionenl Sonnenweiten rechts oder links von uns.
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Erkennen. Die Ameisen haben andre Augen als wir, sie sehen die chemischen (?) Lichtstrahlen (»Nature«, 8. Juni 1882, Lubbock), aber wir haben es in der Erkenntnis derselben, für uns unsichtbaren Strahlen bedeutend weiter gebracht als die Ameisen, und schon daß wir nachweisen können, daß die Ameisen Dinge sehn, die für uns unsichtbar sind, und daß dieser Beweis auf lauter Wahrnehmungen beruht, die mit unsern Augen gemacht sind, zeigt, daß die spezielle Konstruktion des menschlichen Auges keine absolute Schranke des menschlichen Erkennens ist.
Zu unserm Auge kommen nicht nur noch die andern Sinne hinzu, sondern unsre Denktätigkeit. Mit dieser verhält sich's wieder grade wie mit dem Auge. Um zu wissen, was unser Denken ergründen kann, nützt es nichts, 100 Jahre nach Kant die Tragweite des Denkens aus der Kritik der Vernunft, der Untersuchung des Erkenntnis-Instruments, entdecken zu wollen; ebensowenig wie wenn Helmholtz die Mangelhaftigkeit unsres Sehens (die ja notwendig ist, ein Auge, das alle Strahlen sähe, sähe ebendeshalb gar nichts) und die auf bestimmte Grenzen das Sehen beschränkende, auch dies nicht ganz richtig reproduzierende Konstruktion unsres Auges als einen |507| Beweis dafür behandelt, daß wir durch das Auge von der Beschaffenheit des Gesehenen falsch oder unsicher unterrichtet werden. Was unser Denken ergründen kann, sehen wir vielmehr aus dem, was es bereits ergründet hat und noch täglich ergründet. Und das ist schon genug nach Quantität und Qualität. Dagegen ist die Untersuchung der Denkformen, Denkbestimmungen, sehr lohnend und notwendig, und diese hat, nach Aristoteles, nur Hegel systematisch unternommen.
Allerdings werden wir nie dahinter kommen, wie den Ameisen die chemischen Strahlen erscheinen. Wen das grämt, dem ist nun einmal nicht zu helfen.
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Die Entwicklungsform der Naturwissenschaft, soweit sie denkt, ist die Hypothese. Eine neue Tatsache wird beobachtet, die die bisherige Erklärungsweise der zu derselben Gruppe gehörenden Tatsachen unmöglich macht. Von diesem Augenblick an werden neue Erklärungsweisen Bedürfnis - zunächst gegründet auf nur beschränkte Anzahl von Tatsachen und Beobachtungen. Ferneres Beobachtungsmaterial epuriert diese Hypothesen, beseitigt die einen, korrigiert die andren, bis endlich das Gesetz rein hergestellt. Wollte man warten, bis das Material fürs Gesetz rein sei, so hieße das, die denkende Forschung bis dahin suspendieren, und das Gesetz käme schon deswegen nie zustande.
Die Anzahl und der Wechsel der sich verdrängenden Hypothesen - bei mangelnder logischer und dialektischer Vorbildung der Naturforscher - bringt dann leicht die Vorstellung hervor, daß wir das Wesen der Dinge nicht erkennen können (Haller und Goethe). Dies ist der Naturwissenschaft nicht eigentümlich, da alle menschliche Erkenntnis in einer vielfach verschlungnen Kurve sich entwickelt, und die Theorien auch in den geschichtlichen Disziplinen inklusive Philosophie sich ebenso verdrängen, woraus aber zum Beispiel niemand schließt, daß die formelle Logik Unsinn ist. - Letzte Form dieser Anschauung - das »Ding an sich«. Dieser Ausspruch, daß wir das Ding an sich nicht erkennen können (Hegel, »Enzyk[lopädie]«, § 44), tritt 1. aus der Wissenschaft hinaus in die Phantasie. Er fügt 2. unser wissenschaftlichen Kenntnis kein Wort hinzu, denn wenn wir uns nicht mit den Dingen beschäftigen können, so existieren sie für uns nicht. Und 3. ist er reine Phrase und wird nie angewandt. Abstrakt genommen klingt er ganz verständig. Aber man wende ihn an. Was denken von dem Zoologen, der sagte: »Ein Hund scheint 4 Beine zu haben, wir wissen aber nicht, ob er in Wirklichkeit 4 Millionen Beine hat oder gar keine«?
|508| Vom Mathematiker, der erst ein Dreieck als 3 Seiten habend definiert und dann erklärt, er wisse nicht, ob es nicht 25 habe? 2 × 2 scheine 4 zu sein? Aber die Naturforscher hüten sich wohl, die Phrase vom Ding an sich in der Naturwissenschaft anzuwenden, bloß im Hinausgehn in die Philosophie erlauben sie sich das. Dies bester Beweis, wie wenig sie ihnen ernst, und wie wenig sie selbst wert ist. Wäre sie ihnen ernst, à quoi bon |wozu| überhaupt etwas untersuchen?
Historisch gefaßt hätte die Sache einen gewissen Sinn: Wir können nur unter den Bedingungen unsrer Epoche erkennen und soweit diese reichen.
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Ding an sich: Hegel »Logik«, II, p. 10, auch später ein ganzer Abschnitt darüber:
»Es ist, erlaubte sich der Skeptizismus nicht zu sagen; der neuere Idealismus« (i.e. Kant und Fichte) »erlaubte sich nicht, die Erkenntnisse als ein Wissen vom Ding an sich anzusehn {9} ... Zugleich ließ aber der Skeptizismus mannigfaltige Bestimmungen seines Scheins zu, oder vielmehr sein Schein hatte den ganzen mannigfaltigen Reichtum der Weit zum Inhalte. Ebenso begreift die Erscheinung des Idealismus« (i.e. what Idealism calls |was der Idealismus nennt| Erscheinung) den ganzen Umfang dieser mannigfaltigen Bestimmtheiten in sich ... Diesem Inhalt mag also wohl kein Sein, kein Ding, oder Ding an sich zugrunde liegen; er für sich bleibt, wie er ist; er ist nur aus dem Sein in den Schein übersetzt worden.« |Alle Hervorhebungen von Engels|
Hegel ist also hier ein viel entschiednerer Materialist als die modernen Naturforscher.
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Kostbare Selbstkritik des Kantschen Dings an sich, [die zeigt,] daß Kant auch am denkenden Ich scheitert und darin ebenfalls ein unerkennbares Ding an sich ausfindet (Hegel, V, [S.] 256 f.)
{1} Am Rande des Manuskripts findet sich hier der von Engels unterstrichene Vermerk: »Abgesehn obendrein von der Artenentwicklung« <=
{2} Am Rande des Manuskripts steht etwas über dieser Stelle folgender Satz in Klammern: »Das inzwischen angehäufte Material von Zufälligkeiten hat die alte Vorstellung der Notwendigkeit erdrückt und durchbrochen.« <=
{3} Engels verwandte dieses Zitat in der Notiz über die Null (siehe S. 524-526). <=
{4} Die kurze, nicht vollendete Notiz steht am Ende der 4. Seite jenes Bogens, der auf der 2., 3. und am Anfang der 4. Seite das oben wiedergegebene größere Fragment über die Klassifikation des Urteils enthält. In dem nicht geschriebenen Ende dieser Notiz wollte Engels wahrscheinlich dem Kantschen Apriorismus die These von der empirischen Grundlage aller unserer Kenntnisse gegenüberstellen (vgl. S. 493). <=
{5} Am Rande des Manuskripts findet sich der Vermerk: »Die Chemie, in der Analyse die vorherrschende Untersuchungsform ist, ist nichts ohne ihren Gegenpol, die Synthese.«. <=
{6} Im Manuskript: » ... dann abfeuern, und auf den erfahrungsmäßig im voraus bekannten Effekt rechnen ...«. <=
{7} Im Manuskript statt »Und hier kann«: » ... so kann hier«. <=
{8} Im Manuskript findet sich hier der nachträgliche Zusatz von Engels: »(Quantität, S. 259. Astronomie)« <=
{9} Am Rande des Manuskripts findet sich hier noch der Vermerk: »Vgl. Enz[yklopädie]. I, p. 252«. <=
Pfad: »../me/me20«
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