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Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/ Friedrich Engels - Werke. (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 20. Berlin/DDR. 1962. »Dialektik der Natur«, S. 509-520.
1. Korrektur
Erstellt am 30.00.1999

Friedrich Engels - Dialektik der Natur

[Bewegungsformen der Materie.
Klassifizierung der Wissenschaften]


|509| Causa finalis |letzte Ursache| - die Materie und ihre inhärente Bewegung. Diese Materie keine Abstraktion. Schon in der Sonne die einzelnen Stoffe dissoziiert und in ihrer Wirkung unterschiedslos. Aber im Gasball des Nebelflecks alle Stoffe, obwohl separat vorhanden, in reine Materie als solche verschwimmend, nur als Materie, nicht mit ihren spezifischen Eigenschaften wirkend.

(Sonst schon bei Hegel der Gegensatz von causa efficiens |wirkende Ursache| und causa finalis in der Wechselwirkung aufgehoben.)

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Urmaterie.

»Die Auffassung der Materie als ursprünglich vorhanden und an sich formlos ist sehr alt und begegnet uns schon bei den Griechen, zunächst in der mythischen Gestalt des Chaos, welches als die formlose Grundlage der existierenden Welt vorgestellt wird.« (Hegel, »Enz[yklopädie]«, I, [S.] 258.)

Dies Chaos finden wir wieder bei Laplace, und annähernd im Nebelfleck, der auch nur noch einen Anfang von Form hat. Nachher kommt die Differenzierung.

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Die Schwere als allgemeinste Bestimmung der Materialität landläufig angenommen. D.h. die Attraktion ist notwendige Eigenschaft der Materie, aber nicht die Repulsion. Aber Attraktion und Repulsion so untrennbar wie Positiv und Negativ, und daher aus der Dialektik selbst schon vorherzusagen, daß die wahre Theorie der Materie der Repulsion eine ebenso wichtige Stelle anweisen muß wie der Attraktion, daß eine auf bloße Attraktion gegründete Theorie der Materie falsch, ungenügend, halb ist. In der Tat treten Erscheinungen genug auf, die dies voraus anzeigen. Der Äther ist schon des Lichts wegen nicht zu entbehren. Ist der Äther materiell? Wenn |510| er überhaupt ist, muß er materiell sein, unter den Begriff der Materie fallen. Aber er hat keine Schwere. Die Kometenschweife sind zugegeben als materiell. Sie zeigen eine gewaltige Repulsion. Die Wärme im Gas erzeugt Repulsion usw.

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Attraktion und Gravitation. Die ganze Gravitationslehre beruht darauf, zu sagen, die Attraktion ist das Wesen der Materie. Dies notwendig falsch. Wo Attraktion, muß sie durch Repulsion ergänzt werden. Ganz richtig daher schon Hegel, das Wesen der Materie sei Attraktion und Repulsion. Und in der Tat drängt sich die Notwendigkeit mehr und mehr auf, daß die Zerstreuung der Materie eine Grenze hat, wo Attraktion in Repulsion umschlägt, und umgekehrt die Verdichtung der repulsierten Materie eine Grenze, wo sie Attraktion wird. |Siehe die Notiz »Kohäsion«, S. 546|

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Umschlag der Attraktion in Repulsion und umgekehrt bei Hegel mystisch, aber der Sache nach hat er darin die spätere naturwissenschaftliche Entdeckung antizipiert. Schon im Gas Repulsion der Moleküle, noch mehr [in] feiner zerteilter Materie, zum Beispiel im Kometenschweif, wo sie sogar mit ungeheurer Kraft wirkt. Selbst darin Hegel genial, daß er die Attraktion als Zweites aus der Repulsion als Vorhergehendem ableitet: Ein Sonnensystem wird nur gebildet durch allmähliches Vorwiegen der Attraktion über ursprünglich vorherrschende Repulsion. - Ausdehnung durch Wärme = Repulsion. Kinetische Gastheorie.

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Teilbarkeit der Materie. Die Frage für die Wissenschaft praktisch gleichgültig. Wir wissen, daß in der Chemie eine bestimmte Grenze der Teilbarkeit besteht, jenseits der die Körper nicht mehr chemisch wirken können - Atom, und daß mehrere Atome stets in Verbindung sind - Molekül. Dito in der Physik werden wir zur Annahme gewisser - für die physikalische Betrachtung - kleinster Teilchen genötigt, deren Lagerung Form und Kohäsion der Körper bedingt, deren Schwingungen sich in der Wärme etc. kundgeben. Ob aber das physikalische und das chemische Molekül identisch oder verschieden, davon wissen wir bis jetzt nichts. - Hegel hilft sich sehr leicht über diese Frage der Teilbarkeit, indem er sagt, die Materie ist beides, |511| teilbar und kontinuierlich, und zugleich keins von beiden, was keine Antwort ist, aber jetzt fast erwiesen (siehe Bogen 5, 3 unten: Clausius) |Siehe die Notiz »Kinetische Theorie«, S. 546|

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Teilbarkeit. Säugetiere unteilbar, dem Reptil wächst noch ein Fuß nach. Die Ätherwellen teilbar und meßbar ins unendlich Kleine. - Jeder Körper teilbar, praktisch, innerhalb gewisser Grenzen, bei der Chemie z.B.

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»Ihr« (der Bewegung) »Wesen ist, die unmittelbare Einheit des Raums und der Zeit zu sein, ...zur Bewegung gehört Raum und Zeit; die Geschwindigkeit, das Quantum von Bewegung ist Raum in Verhältnis zu bestimmter Zeit, die verflossen ist.« ([Hegel,] »Naturphil[osophie«, S.] 65.) » ... Raum und Zeit sind mit Materie erfüllt ... Wie es keine Bewegung ohne Materie gibt, so auch keine Materie ohne Bewegung.« ([S.] 67.)

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Die Unzerstörbarkeit der Bewegung im Satz des Descartes, daß sich im Universum stets dasselbe Quantum Bewegung erhalte. Die Naturforscher drücken dies als »Unzerstörbarkeit der Kraft« unvollkommen aus. Der bloß quantitative Ausdruck des Descartes ebenfalls unzureichend: Die Bewegung als solche, als wesentliche Betätigung, Existenzform der Materie, unzerstörbar wie diese selbst, darin ist das Quantitative eingeschlossen. Auch hier also der Philosoph nach 200 Jahren vom Naturforscher bestätigt.

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Unzerstörbarkeit der Bewegung. Hübsche Stelle bei Grove - p. 20 ff.

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Bewegung und Gleichgewicht. Das Gleichgewicht untrennbar von der Bewegung {1}. In der Bewegung der Weltkörper ist Bewegung im Gleichgewicht und Gleichgewicht in der Bewegung (relativ). Aber alle speziell relative Bewegung, d.h. hier alle Einzelbewegung einzelner Körper auf einem sich bewegenden Weltkörper, ist Streben nach Herstellung der relativen Ruhe, des Gleichgewichts. Die Möglichkeit der relativen Ruhe der Körper, die Möglichkeit temporärer Gleichgewichtszustände ist wesentliche Bedingung |512| der Differenzierung der Materie und damit des Lebens. Auf der Sonne kein Gleichgewicht der einzelnen Stoffe, nur der ganzen Masse, oder doch nur ein sehr geringes, durch bedeutende Dichtigkeitsunterschiede bedingtes; auf der Oberfläche ewige Bewegung und Unruhe, Dissoziation. Auf dem Mond scheint ausschließliches Gleichgewicht zu herrschen, ohne alle relative Bewegung - Tod (Mond = Negativität). Auf der Erde hat sich die Bewegung differenziert in Wechsel von Bewegung und Gleichgewicht: Die einzelne Bewegung strebt dem Gleichgewicht zu, die Masse der Bewegung hebt das einzelne Gleichgewicht wieder auf. Der Fels ist zur Ruhe gekommen, die Verwitterung, die action der Seebrandung, der Flüsse, des Gletschereises heben das Gleichgewicht fortwährend auf. Verdunstung und Regen, Wind, Wärme, elektrische und magnetische Erscheinungen bieten dasselbe Schauspiel dar. Im lebenden Organismus endlich sehn wir die fortwährende Bewegung aller kleinsten Teilchen wie größrer Organe, die während der normalen Lebensperiode das fortwährende Gleichgewicht des Gesamtorganismus zum Resultat hat und doch stets in Bewegung bleibt, die lebendige Einheit von Bewegung und Gleichgewicht.

Alles Gleichgewicht nur relativ und temporär.

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1. Bewegung der Weltkörper. Annäherndes Gleichgewicht von Attraktion und Repulsion in der Bewegung.

2. Bewegung auf einem Weltkörper. Masse. Soweit diese aus rein mechanischen Ursachen, auch Gleichgewicht. Die Massen ruhn auf ihrer Grundlage. Dies auf dem Mond anscheinend komplett. Die mechanische Attraktion hat die mechanische Repulsion überwunden. Vom Standpunkt der reinen Mechanik wissen wir nicht, was aus der Repulsion geworden, und die reine Mechanik erklärt ebensowenig, woher die »Kräfte« kommen, mit denen dennoch z.B. auf der Erde Massen gegen die Schwere bewegt werden. Sie nimmt das Faktum als gegeben. Hier also einfache Mitteilung repulsierender, entfernender Ortsbewegung von Masse zu Masse, wobei Attraktion und Repulsion = sind.

3. Die enorme Masse aller Bewegung auf der Erde aber Verwandlung einer Bewegungsform in die andre - mechanischer in Wärme, Elektrizität, chemische Bewegung - und jeder in die andre; also entweder {2} Umschlag |513| von Attraktion in Repulsion - mechanischer Bewegung in Wärme, Elektrizität, chemische Zersetzung (der Umschlag ist die Verwandlung der ursprünglich hebenden mechanischen Bewegung in Wärme, nicht der fallenden, dies nur Schein) [- oder Umschlag von Repulsion in Attraktion].

4. Alle Energie, die jetzt auf der Erde tätig, verwandelte Sonnenwärme.

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Mechanische Bewegung. Bei den Naturforschern ist Bewegung stets selbstredend als = mechanischer Bewegung, Ortsveränderung, genommen. Dies aus dem vorchemischen 18. Jahrhundert überkommen und erschwert sehr die klare Auffassung der Vorgänge. Bewegung, auf die Materie anwendbar, ist Veränderung überhaupt. Aus dem gleichen Mißverständnis auch die Wut, alles auf mechanische Bewegung zu reduzieren - schon Grove

»ist sehr stark geneigt zu glauben, daß die anderen Kundgebungen der Materie als Arten der Bewegung anerkannt sind oder doch zuletzt werden erkannt werden« (p. 16) -,

wodurch der spezifische Charakter der andern Bewegungsformen verwischt wird. Womit nicht gesagt sein soll, daß nicht jede der höheren Bewegungsformen stets notwendig mit einer wirklichen mechanischen (äußerlichen oder molekularen) Bewegung verknüpft sein mag; grade wie die höheren Bewegungsformen gleichzeitig auch andre produzieren, chemische Aktion nicht ohne Temperatur- und Elektrizitätsänderung, organisches Leben nicht ohne mechanische, molekulare, chemische, thermische, elektrische etc. Änderung möglich. Aber die Anwesenheit dieser Nebenformen erschöpft nicht das Wesen der jedesmaligen Hauptform. Wir werden sicher das Denken einmal experimentell auf molekulare und chemische Bewegungen im Gehirn »reduzieren«; ist aber damit das Wesen des Denkens erschöpft?

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Dialektik der Naturwissenschaft: Gegenstand der sich bewegende Stoff. Die verschiednen Formen und Arten des Stoffs selbst wieder nur durch die Bewegung zu erkennen, nur in ihr zeigen sich die Eigenschaften der Körper; von einem Körper, der sich nicht bewegt, ist nichts zu sagen. Aus den Formen der Bewegung also ergibt sich die Beschaffenheit der sich bewegenden Körper.

1. Die erste, einfachste Bewegungsform ist die mechanische, rein ortsverändernde.
|514| a) Bewegung eines einzelnen Körpers existiert nicht - nur relativ [gesprochen]{3} - Fall.
b) Bewegung getrennter Körper: Flugbahn, Astronomie - scheinbares Gleichgewicht - Ende immer Kontakt.
c) Bewegung sich berührender Körper in Beziehung aufeinander - Druck. Statik. Hydrostatik und Gase. Hebel und andre Formen der eigentlichen Mechanik, die alle in ihrer einfachsten Form des Kontakts auf die nur graduell verschiedne Reibung und Stoß herauskommen. Aber Reibung und Stoß, in fact |in der Tat| Kontakt, haben auch andre hier von den Naturforschern nie angeführte Folgen: Sie produzieren, unter Umständen, Schall, Wärme, Licht, Elektrizität, Magnetismus.
2. Diese verschiednen Kräfte gehn (mit Ausnahme des Schalls) - Physik der Himmelskörper -
a) ineinander über und ersetzen sich gegenseitig, und
b) bei gewisser quantitativer Kraftentwicklung einer jeden, für jeden Körper verschieden, angewandt auf die Körper, seien es chemisch zusammengesetzte, seien es mehrere chemisch einfache, treten chemische Veränderungen ein, und wir in die Chemie. Chemie der Himmelskörper. Kristallographie Teil der Chemie.

3. Die Physik mußte oder konnte den lebendigen organischen Körper unberücksichtigt lassen, die Chemie findet erst in der Untersuchung der organischen Zusammensetzungen den eigentlichen Aufschluß über die wahre Natur der wichtigsten Körper, und setzt andrerseits Körper zusammen, die nur in der organischen Natur vorkommen. Hier führt die Chemie auf das organische Leben, und sie ist weit genug, um uns zu versichern, daß sie allein uns den dialektischen Übergang in den Organismus erklären wird.

4. Der wirkliche Übergang aber in der Geschichte - des Sonnensystems, der Erde; reale Voraussetzung der Organik.

5. Organik.

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Klassifizierung der Wissenschaften, von denen jede eine einzelne Bewegungsform oder eine Reihe zusammengehöriger und ineinander übergehender Bewegungsformen analysiert, ist damit Klassifikation, Anordnung nach ihrer inhärenten Reihenfolge, dieser Bewegungsformen selbst, und darin liegt ihre Wichtigkeit.

Ende des vorigen Jahrhunderts, nach den französischen Materialisten, |515| die vorwiegend mechanisch sind, trat das Bedürfnis hervor, die ganze Naturwissenschaft der alten Newton-Linnéschen Schule enzyklopädisch zusammenzufassen, und zwei der genialsten Leute gaben sich daran, St. Simon (nicht vollendet) und Hegel. Jetzt, wo die neue Naturanschauung in ihren Grundzügen fertig, dasselbe Bedürfnis sich fühlbar machend, und Versuche in dieser Richtung. Aber wo der allgemeine Entwicklungszusammenhang in der Natur jetzt nachgewiesen, reicht äußerliches Aneinanderreihen ebensowenig aus wie Hegels kunststücklich gemachte dialektische Übergänge. Die Übergänge müssen sich selbst machen, müssen natürlich sein. Wie eine Bewegungsform sich aus der andern entwickelt, so müssen auch ihre Spiegelbilder, die verschiednen Wissenschaften, eine aus der andern mit Notwendigkeit hervorgehn.

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Wie wenig Comte der Verfasser seiner von St. Simon abgeschriebenen enzyklopädischen Anordnung der Naturwissenschaft sein kann, schon daraus zu sehn, daß sie [bei] ihm nur den Zweck der Anordnung der Lehrmittel und des Lehrgangs hat und damit zum verrückten enseignement intégral |integralen Unterricht| führt, wo je eine Wissenschaft erschöpft wird, ehe die andre nur angebrochen, wo ein im Grunde richtiger Gedanke ins Absurde mathematisch outriert.

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Hegels Einteilung (die ursprüngliche): Mechanismus, Chemismus, Organismus, für die Zeit vollständig. Mechanismus: die Massenbewegung; Chemismus: die Molekular- (denn auch die Physik darunter begriffen, und beide - sowohl die Physik als auch die Chemie - gehören ja zur selben Ordnung) und Atombewegung; Organismus: die Bewegung der Körper, an denen beides untrennbar. Denn der Organismus ist allerdings die höhere Einheit, die Mechanik, Physik und Chemie zu einem Ganzen in sich bezieht, wo die Dreiheit nicht mehr zu trennen. Im Organismus die mechanische Bewegung direkt durch physikalische und chemische Verändrung bewirkt, und zwar Ernährung, Atmung, Sekretion usw. ebensogut wie die reine Muskelbewegung.

Jede Gruppe wieder doppelt. Mechanik: 1. himmlisch, 2. irdisch
Molekularbewegung: 1. Physik, 2. Chemie.
Organismus: 1. Pflanze, 2. Tier.

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|516| Physiographie |Naturbeschreibung|. Nachdem der Übergang von Chemie zum Leben gemacht, sind nun zuerst die Bedingungen zu entwickeln, innerhalb deren das Leben sich erzeugt hat und besteht, also zuerst Geologie, Meteorologie und der Rest. Dann die verschiednen Lebensformen selbst, die ja auch ohne dies unverständlich.

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Über die »mechanische« Naturauffassung

Zu S. 46 {4}: Die verschiedenen Formen der Bewegung und die sie behandelnden Wissenschaften

Seit obiger Artikel |VII. Kapitel des ersten Abschnitt des »Anti-Dühring«| erschien (»Vorwärts«, 9. Februar 1877), hat Kekulé (»Die wissenschaftlichen Ziele und Leistungen der Chemie ») Mechanik, Physik und Chemie ganz ähnlich bestimmt:

»Wenn diese Vorstellung über das Wesen der Materie zugrunde gelegt wird, so wird man die Chemie als die Wissenschaft der Atome und die Physik als die Wissenschaft der Molekeln definieren dürfen, und es liegt dann nahe, denjenigen Teil der heutigem Physik, der von den Massen handelt, als besondre Disziplin loszulösen und für ihn den Namen Mechanik zu reservieren. Die Mechanik erscheint so als Grundwissenschaft der Physik und Chemie, insofern beide ihre Molekeln und resp. Atome bei gewissen Betrachtungen und namentlich Rechnungen als Massen zu behandeln haben.«

Diese Fassung unterscheidet sich, wie man sieht, von der im Text und der vorigen Note {5} gegebnen nur durch etwas geringere Bestimmtheit. Wenn aber eine englische Zeitschrift (»Nature«) Kekulés obigen Satz dahin übertrug, daß die Mechanik die Statik und Dynamik der Massen, die Physik die Statik und Dynamik der Moleküle, die Chemie die Statik und Dynamik der Atome sei, so scheint mir diese unbedingte Reduktion sogar der chemischen Vorgänge auf bloß mechanische das Feld, wenigstens der Chemie, ungebührlich zu verengern. Und doch ist sie so sehr Mode, daß z.B. bei Haeckel »mechanisch« und »monistisch« fortwährend als gleichbedeutend gebraucht werden, und nach ihm

»die heutige Physiologie ... auf ihrem Gebiet nur physikalisch-chemische - oder im weiteren Sinn |Hervorhebung von Engels| mechanische - Kräfte wirken ... läßt« (Perigenesis).

Wenn ich die Physik der Mechanik der Moleküle, die Chemie die |517| Physik der Atome und dann weiterhin die Biologie die Chemie der Eiweiße nenne, so will ich damit den Übergang der einen dieser Wissenschaften in die andre, also sowohl den Zusammenhang, die Kontinuität, wie den Unterschied, die Diskretion, beider ausdrücken. Weiter zu gehn, die Chemie als ebenfalls eine Art Mechanik auszudrücken, erscheint mir unstatthaft. Die Mechanik - weitere oder engere - kennt nur Quantitäten, sie rechnet mit Geschwindigkeiten und Massen und höchstens Volumen. Wo ihr die Qualität der Körper in den Weg kommt, wie in der Hydrostatik und Aerostatik, kann sie ohne Eingehn auf Molekularzustände und Molekularbewegungen nicht fertig werden, ist sie selbst nur noch Hülfswissenschaft, Voraussetzung der Physik. In der Physik aber, und noch mehr in der Chemie, findet aber nicht nur fortwährende qualitative Änderung statt infolge quantitativer Änderungen, Umschlag von Quantität in Qualität, sondern auch sind eine Menge qualitativer Änderungen zu betrachten, deren Bedingtheit durch quantitative Veränderung keineswegs erwiesen ist. Daß die gegenwärtige Strömung der Wissenschaft in dieser Richtung sich bewegt, kann gern zugegeben werden, beweist aber nicht, daß sie die ausschließlich richtige ist, daß die Verfolgung dieser Strömung die Physik und Chemie erschöpfen wird. Alle Bewegung schließt mechanische Bewegung, Ortsveränderung größter oder kleinster Teile der Materie in sich, und erste Aufgabe, aber auch nur erste, der Wissenschaft ist, diese zu erkennen. Aber diese mechanische Bewegung erschöpft die Bewegung überhaupt nicht. Bewegung ist nicht bloß Ortsveränderung, sie ist auf den übermechanischen Gebieten auch Qualitätsänderung. Die Entdeckung, daß Wärme eine Molekularbewegung, war epochemachend. Aber wenn ich von der Wärme weiter nichts zu sagen weiß, als daß sie eine gewisse Ortsveränderung der Moleküle ist, so schweige ich am besten still. Die Chemie scheint auf dem besten Wege, aus dem Verhältnis der Atomvolumen zu den Atomgewichten eine ganze Reihe der chemischen und physikalischen Eigenschaften der Elemente zu erklären. Kein Chemiker aber wird behaupten, daß die sämtlichen Eigenschaften eines Elements durch seine Stellung in der Kurve Lothar Meyers erschöpfend ausgedrückt, daß allein damit z.B. die eigentümliche Beschaffenheit des Kohlenstoffs, die ihn zum wesentlichen Träger des organischen Lebens macht, oder die Notwendigkeit des Phosphors im Gehirn je zu erklären sein werde. Und doch läuft die »mechanische« Auffassung auf nichts andres hinaus. Sie erklärt alle Veränderungen aus Ortsveränderung, alle qualitativen Unterschiede aus quantitativen, und übersieht, daß das Verhältnis von Qualität und Quantität reziprok ist, daß Qualität ebensogut in Quantität umschlägt, wie Quantität in Qualität, daß eben |518| Wechselwirkung stattfindet. Wenn alle Unterschiede und Änderungen der Qualität auf quantitative Unterschiede und Änderungen, auf mechanische Ortsveränderung zu reduzieren sind, dann kommen wir mit Notwendigkeit zu dem Satz, daß alle Materie aus identischen kleinsten Teilchen besteht, und alle qualitativen Unterschiede der chemischen Elemente der Materie verursacht sind durch quantitative, Unterschiede in der Zahl und örtlichen Gruppierung dieser kleinsten Teilchen zu Atomen. So weit sind wir aber noch nicht.

Es ist die Unbekanntschaft unsrer heutigen Naturforscher mit andrer Philosophie als der ordinärsten Vulgärphilosophie, wie sie heute an den deutschen Universitäten grassiert, die es ihnen erlaubt, in dieser Weise mit Ausdrücken wie »mechanisch« zu hantieren, ohne daß sie sich Rechenschaft geben oder nur ahnen, welche Schlußfolgerungen sie sich damit notwendig aufladen. Die Theorie von der absoluten qualitativen Identität der Materie hat ja ihre Anhänger - sie ist empirisch ebensowenig widerlegbar wie beweisbar. Wenn aber man die Leute fragt, die alles »mechanisch« erklären wollen, ob sie sich dieser Schlußfolgerung bewußt sind und die Identität der Materie akzeptieren, wieviel verschiedene Antworten wird man hören!

Das komischste ist, daß die Gleichsetzung von »materialistisch« und »mechanisch« von Hegel herrührt, der den Materialismus durch den Zusatz »mechanisch« verächtlich machen will. Nun war der von Hegel kritisierte Materialismus - der französische des 18. Jahrhunderts - in der Tat ausschließlich mechanisch, und zwar aus dem sehr natürlichen Grund, weil damals Physik, Chemie und Biologie noch in den Windeln lagen und weit entfernt davon waren, die Basis einer allgemeinen Naturanschauung bieten zu können. Ebenfalls entlehnt Haeckel die Übersetzung causae efficientes = »mechanisch wirkende Ursachen« und causae finales = »zweckmäßig wirkende Ursachen« von Hegel, wo Hegel also »mechanisch« = blindwirkend, unbewußt wirkend, setzt, nicht = mechanisch im Haeckelschen Sinn. Dabei ist dieser ganze Gegensatz für Hegel selbst so sehr überwundner Standpunkt, daß er ihn in keiner seiner beiden Darstellungen der Kausalität in der »Logik« auch nur erwähnt - sondern nur in der »Geschichte der Philosophie«, da, wo er historisch vorkommt (also reines Mißverständnis Haeckels aus Oberflächlichkeit!), und ganz gelegentlich bei der Teleologie (»Logik«, III, II, 3) als Form erwähnt, in der die alte Metaphysik den Gegensatz von Mechanismus und Teleologie gefaßt, sonst aber als längst überwundnen Standpunkt behandelt. Haeckel hat also falsch abgeschrieben in seiner Freude, eine Bestätigung seiner »mechanischen« Auffassung zu |519| finden, und kommt damit zu dem schönen Resultat, daß, wenn an einem Tier oder einer Pflanze durch Naturzüchtung eine bestimmte Veränderung hervorgerufen, dies durch causa efficiens, wenn dieselbe Veränderung durch künstliche Züchtung, dies durch causa finalis bewirkt! Der Züchter causa finalis! Ein Dialektiker vom Kaliber Hegels konnte sich freilich nicht in dem engen Gegensatz von causa efficiens und causa finalis im Kreise herumtreiben. Und für den heutigen Standpunkt ist dem ganzen ausweglosen Gekohl über diesen Gegensatz damit ein Ende gemacht, daß wir aus Erfahrung und Theorie wissen, daß die Materie wie ihre Daseinsweise, die Bewegung, unerschaffbar und also ihre eigne Endursache sind; während den in der Wechselwirkung der Bewegung des Universums sich momentan und lokal isolierenden oder von unsrer Reflexion isolierten Einzelursachen durchaus keine neue Bestimmung, sondern nur ein verwirrendes Element hinzugefügt wird, wenn wir sie wirkende Ursachen nennen. Eine Ursache, die nicht wirkt, ist keine.

NB. Die Materie als solche ist eine reine Gedankenschöpfung und Abstraktion. Wir sehen von den qualitativen Verschiedenheiten der Dinge ab, indem wir sie als körperlich existierende unter dem Begriff Materie zusammenfassen. Materie als solche, im Unterschied von den bestimmten, existierenden Materien, ist also nichts Sinnlich-Existierendes. Wenn die Naturwissenschaft darauf ausgeht, die einheitliche Materie als solche aufzusuchen, die qualitativen Unterschiede auf bloß quantitative Verschiedenheiten der Zusammensetzung identischer kleinster Teilchen zu reduzieren, so tut sie dasselbe, wie wenn sie statt Kirschen, Birnen, Äpfel das Obst als solches, statt Katzen, Hunde, Schafe etc. das Säugetier als solches zu sehen verlangt, das Gas als solches, das Metall als solches, den Stein als solchen, die chemische Zusammensetzung als solche, die Bewegung als solche. Die Darwinsche Theorie fordert ein solches Ursäugetier, Promammale Haeckel, muß aber gleichzeitig zugeben, daß, wenn es im Keim alle künftigen und jetzigen Säugetiere in sich enthielt, es in Wirklichkeit allen jetzigen Säugetieren untergeordnet und urroh war, daher vergänglicher als sie alle. Wie schon Hegel (»Enz[yklopädie]«, I, [S.] 199) nachgewiesen, ist diese Anschauung, dieser »einseitig mathematische Standpunkt«, auf dem die Materie als nur quantitativ bestimmbar, aber qualitativ ursprünglich gleich angesehn wird, »kein andrer Standpunkt als der des« französischen Materialismus des 18. Jahrhundert. Es ist sogar Rückschritt zu Pythagoras, der schon die Zahl, die quantitative Bestimmtheit, als das Wesen der Dinge auffaßte.

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|520| Erstens Kekulé. Dann: Die Systematisierung der Naturwissenschaft, die jetzt mehr und mehr nötig wird, kann nicht anders gefunden werden als in den Zusammenhängen der Erscheinungen selbst. So die mechanische Bewegung von kleinen Massen auf einem Weltkörper endigt im Kontakt zweier Körper, der die beiden nur graduell unterschiednen Formen von Reibung und Stoß hat. Wir untersuchen also zuerst die mechanische Wirkung von Reibung und Stoß. Aber wir finden, daß sie damit nicht erschöpft: Reibung produziert Wärme, Licht und Elektrizität, Stoß - Wärme und Licht, wo nicht auch Elektrizität - also Verwandlung von Massenbewegung in Molekularbewegung. Wir treten ein ins Gebiet der Molekularbewegung, die Physik, und untersuchen weiter. Aber auch hier finden wir, daß die Molekularbewegung nicht den Abschluß der Untersuchung bildet. Elektrizität geht über in und geht hervor aus chemischem Umsatz. Wärme und Licht dito. Molekularbewegung schlägt über in Atombewegung - Chemie. Die Untersuchung der chemischen Vorgänge findet die organische Welt als Untersuchungsgebiet vor, also eine Welt, in der die chemischen Vorgänge nach denselben Gesetzen, aber unter andern Bedingungen vorgehn als in der unorganischen Welt, für deren Erklärung die Chemie ausreicht. Alle chemischen Untersuchungen der organischen Welt führen dagegen zurück in letzter Instanz auf einen Körper, der, Resultat gewöhnlicher chemischer Vorgänge, sich von allen andern dadurch unterscheidet, daß er sich selbst vollziehender, permanenter chemischer Prozeß ist - das Eiweiß. Gelingt es der Chemie, dies Eiweiß in der Bestimmtheit darzustellen, in der es offenbar entstanden, ein sog. Protoplasma, der Bestimmtheit, oder vielmehr Unbestimmtheit, worin es alle andern Formen des Eiweißes potentiell in sich enthält (wobei nicht nötig anzunehmen, daß es nur Einerlei Protoplasma gibt), so ist der dialektische Übergang auch real dargetan, also vollständig. Bis dahin bleibt's beim Denken, alias der Hypothese. Indem die Chemie das Eiweiß erzeugt, greift der chemische Prozeß über sich selbst hinaus wie oben der mechanische, d.h. er gelangt in ein umfassenderes Gebiet, das des Organismus. Die Physiologie ist allerdings die Physik und besonders die Chemie des lebenden Körpers, aber damit hört sie auch auf, speziell Chemie zu sein, beschränkt einerseits ihren Umkreis, aber erhebt sich auch darin zu einer höheren Potenz.


{1} Über diese Zeile ist ganz oben auf dem Manuskript mit Bleistift geschrieben: »Gleichgewicht = Vorherrschen der Attraktion über die Repulsion«. <=

{2} Diesem »entweder« folgt kein »oder«. Man kann annehmen, daß Engels am Ende dieses Satzes auch auf den umgekehrten Umschlag der Repulsion in Attraktion hinweisen wollte, aber diese Absicht nicht verwirklichte. Eine entsprechende Ergänzung dieses Satzes wird in eckiger Klammer gebracht. <=

{3} Das in eckige Klammer eingeschlossene Wort wurde aus Engels' Brief an Marx vom 30. Mal 1873 hinzugefügt. <=

{4} Siehe »Anti-Dühring«, S. 61. <=

{5} D.h. im Text des »Anti-Dühring« und in der Note »Über die Urbilder des Mathematisch-Unendlichen in der wirklichen Welt« (Siehe »Anti-Dühring«, S. 61 und S. 529-534). <=


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