Die militärische Lage in Frankreich | Inhalt
Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 17, 5. Auflage 1973, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 261-264.
Erstellt am 13.12.1998.
1. Korrektur.
["The Pall Mall Gazette" Nr. 1878 vom 18. Februar 1871]
|261| Der Korrespondent des "Standard" gibt uns endlich einen Augenzeugenbericht über die Ereignisse in Bourbakis Armee während ihres unglückseligen Januarfeldzugs. Der Korrespondent befand sich bei General Crémers Division, die auf dem Vormarsch die äußerste Linke und auf dem Rückzug die Nachhut bildete. Sein Bericht, obgleich natürlich einseitig und voller Ungenauigkeiten über Dinge, die sich nicht unter seinen Augen ereignet haben, ist sehr wertvoll, weil er bisher unbekannte Tatsachen und Daten liefert und somit diese Phase des Krieges besser beleuchtet.
Bourbakis Armee, 133.000 Mann mit 330 Geschützen, verdiente, wie es scheint, kaum die Bezeichnung Armee. Die Liniensoldaten, die leidliche Offiziere hatten, waren physisch den Mobilgarden unterlegen, dagegen hatten diese kaum einige Offiziere, die auch nur mit den Anfangsgründen ihres Dienstes vertraut waren. Die aus der Schweiz eingelaufenen Berichte bestätigen das; wenn sie über die physische Beschaffenheit der Truppen noch ungünstiger berichten, dürfen wir nicht die Wirkung eines einmonatigen Feldzugs bei Hunger und Kälte vergessen. Die Ausrüstung mit Kleidung und Schuhen scheint nach allen Berichten jämmerlich gewesen zu sein. Eine Intendantur oder auch nur eine einfache Organisation, die mit etwas Ordnung und Regelmäßigkeit Requisitionen und die Verteilung der so beschafften Nahrung durchgeführt hätte, scheint so gut wie ganz gefehlt zu haben.
Von den viereinhalb beteiligten Korps sind drei (das XV., XVIII. und XX.) bereits am 5. Dezember unter Bourbakis Kommando gestellt worden; bald danach muß der Plan, nach Osten zu marschieren, beschlossen worden sein. Bis zum 5. Januar waren seine sämtlichen Bewegungen bloße Konzentrationsmärsche, die vom Feind nicht gestört wurden; sie waren demnach |262| kein Hindernis, die Organisation dieser Armee zu verbessern - ganz im Gegenteil. 1813 bildete Napoleon seine Neuausgehobenen auf dem Marsch nach Deutschland zu Soldaten aus. Bourbaki hatte einen vollen Monat Zeit, das zu tun; wenn danach seine Truppen in dem beschriebenen Zustand auf den Feind stießen, so kann er daran unmöglich ohne Schuld sein. Er hat keine Fähigkeit als Organisator bewiesen.
Nach dem ursprünglichen Plan sollten vier Kolonnen auf Belfort marschieren: eine ostwärts des Doubs durch den Jura, um Montbéliard und die preußische Linke anzugreifen oder zu umgehen; eine zweite das Flußtal entlang, um den Feind frontal anzugreifen; eine dritte auf einem weiter westlichen Weg über Rougemont und Villersexel gegen die feindliche Rechte; und Crémers Division sollte von Dijon über Lure an der preußischen Rechten vorbei vorstoßen. Aber das wurde geändert. Die ersten drei Kolonnen rückten sämtlich auf dem einen Weg durch das Tal vor, wodurch - wie behauptet wird - fünf Tage verlorengingen, in denen Werder Verstärkungen erhielt, und wodurch die ganze Armee, auf eine einzige Rückzugslinie geworfen, wiederum Zeit verlor und so von Lyon abgeschnitten und gegen die Schweizer Grenze getrieben wurde. Nun ist es ganz klar, wenn man ungefähr 120.000 Mann, die überdies so locker organisiert waren wie diese, in eine Kolonne und auf eine einzige Marschlinie bringt, müssen Verwirrung und Verzögerung entstehen; aber es ist nicht so sicher, ob dieser Fehler tatsächlich in dem hier angegebenen Maß begangen wurde. Nach allen vorangegangenen Berichten kamen Bourbakis Truppen vor Belfort in einer breiten Front an, die sich von Villersexel bis zur Schweizer Grenze erstreckte, was dafür spricht, daß die verschiedenen, im ursprünglichen Plan genannten Wege benutzt worden waren. Aber was immer der Grund gewesen sein mag, die Verzögerung trat ein und war der Hauptgrund der Niederlage bei Hericourt. Das Treffen von Villersexel fand am 9. Januar statt. Villersexel ist etwa zwanzig Meilen von der preußischen Stellung in Hericourt entfernt. Es kostete Bourbaki fünf Tage - bis zum Abend des 14. -, seine Truppen vor dieser Stellung so in Front zu bringen, daß sie zum Angriff am nächsten Morgen bereit waren! Das bezeichneten wir bereits in einem früheren Artikel als den ersten großen Fehler in diesem Feldzug, und wir sehen jetzt aus dem Bericht des Korrespondenten, daß dies auch von Crémers Offizieren erkannt wurde, noch ehe die Schlacht von Hericourt begann.
In diesen drei Tagen kämpften 130.000 Franzosen gegen 35.000 bis |263| 40.000 Deutsche und konnten ihre verschanzte Stellung nicht erobern. Bei einer solchen zahlenmäßigen Überlegenheit waren die kühnsten Flankenbewegungen möglich. 40.000 bis 50.000 Mann, entschlossen in den Rücken der Deutschen geworfen, während der Rest sie frontal beschäftigte, hätten kaum verfehlt, sie aus ihrer Stellung hinauszutreiben. Aber statt dessen wurde nur die Front - die verschanzte Front der Stellung - angegriffen, und dadurch entstanden ungeheure und nutzlose Verluste. Die Flankenangriffe wurden so schwach ausgeführt, daß eine einzige deutsche Brigade (die Kellers) nicht nur genügte, sie auf dem rechten Flügel zurückzuschlagen, sondern außerdem noch imstande war, Frahier und Chenebier in Schach zu halten und so ihrerseits die Franzosen zu überflügeln. Bourbakis junge Truppen waren so vor die schwerste Aufgabe gestellt, die es für einen Soldaten in der Schlacht geben kann, während die eigene zahlenmäßige Überlegenheit es ihnen leicht gemacht hätte, die Stellung durch taktische Manöver zu erobern. Aber wahrscheinlich hatten die Erfahrungen der letzten fünf Tage Bourbaki davon überzeugt, daß es nutzlos sei, von seiner Armee Beweglichkeit zu erwarten.
Nachdem am 17. Januar der Angriff endgültig abgewehrt war, erfolgte der Rückzug nach Besançon. Daß dieser Rückzug hauptsächlich auf dem einen Weg durch das Doubstal stattgefunden hat, ist wahrscheinlich; wir wissen aber auch, daß sich große Teile der Armee auf anderen Wegen, näher der Schweizer Grenze, zurückgezogen haben. Am Nachmittag des 22. kam die Nachhut unter Crémer jedenfalls in Besançon an. Folglich müßte die Vorhut dort bereits am 20. eingetroffen sein und bereitgestanden haben, am 21. gegen die Preußen zu marschieren, die am gleichen Tage Dôle erreichten. Aber nein, es wurde keine Notiz von ihnen genommen, ehe Crémer angelangt war, der sogleich, nachdem er aus der Nachhut zur Vorhut geworden war, ausgesandt wurde, um die Preußen am 23. bei St. Vit zu treffen. Am nächsten Tage wurde Crémer nach Besançon zurückbeordert; zwei Tage wurden durch Unentschlossenheit und Untätigkeit vergeudet, bis Bourbaki am 26., nachdem er Musterung über das XVIII. Korps gehalten hatte, einen Selbstmordversuch machte. Dann beginnt ein ungeordneter Rückzug in Richtung Pontarlier. Aber an diesem Tage waren die Deutschen in Mouchard und Salins näher an der Schweizer Grenze als die Flüchtenden und schnitten ihnen den Rückzug faktisch ab. Das war kein Wettrennen mehr; die Deutschen konnten gemächlich alle Ausgänge der Längstäler besetzen, durch die ein Entkommen noch möglich war, während andere Truppen die Franzosen im Rücken bedrängten. Dann folgte das Treffen bei Pontarlier, das der geschlagenen französischen Armee ihre Lage zu |264| Bewußtsein brachte; das Ergebnis davon waren die Konvention von Les Verrières und der Übertritt dieser ganzen Armee auf Schweizer Gebiet.
Das ganze Verhalten Bourbakis vom 15. bis zum 26. Januar scheint zu beweisen, daß er jedes Vertrauen zu seinen Truppen und infolgedessen auch jedes Vertrauen zu sich selbst verloren hatte. Warum er den Marsch seiner Kolonnen bei Besançon bis zu Crémers Ankunft aufschob und so jede Möglichkeit zum Entkommen verpaßte; warum er Crémers Division, die beste der Armee, zurückrief, unmittelbar nachdem er sie aus Besançon zum Treffen mit den Preußen gesandt hatte, die den direkten Weg nach Lyon sperrten; warum er danach weitere zwei Tage versäumte, wodurch die in Besançon verlorene Zeit auf volle sechs Tage verlängert wurde - all das ist nicht anders zu erklären, als daß Bourbaki jene Entschlossenheit fehlte, welche die allererste Eigenschaft eines selbständigen Befehlshabers ist. Es wiederholt sich die alte Geschichte der Augustkampagne. Und es ist merkwürdig, daß dieses sonderbare Zögern sich wieder bei einem vom Kaiserreich übernommenen General zeigt, während keiner der Generale der Republik - was auch sonst ihre Fehler gewesen sein mögen - eine solche Unentschiedenheit gezeigt oder eine solche Strafe dafür erlitten hat.