Über den Krieg - XL | Inhalt | Bourbakis Katastrophe
Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 17, 5. Auflage 1973, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 257-260.
Erstellt am 13.12.1998.
1. Korrektur.
["The Pall Mall Gazette" Nr. 1869 vom 8. Februar 1871]
|257| Wenn die Reihe von Fehlschlägen der französischen Waffen in dem Januarfeldzug, die Niederlagen Faidherbes und Chanzys, der Fall von Paris, Bourbakis Niederlage und Übertritt auf Schweizer Gebiet - wenn alle diese niederschmetternden Ereignisse, die sich in der kurzen Zeit von drei Wochen ereigneten, erwarten ließen, daß der Widerstandsgeist in Frankreich gebrochen sei, so ist es jetzt nicht unwahrscheinlich, daß die Deutschen durch ihre übertriebenen Forderungen diesen Geist aufs neue wecken. Wenn das Land durch den Frieden ebenso völlig ruiniert werden soll wie durch den Krieg, warum dann überhaupt Frieden schließen? Die besitzenden Klassen, die städtische Bourgeoisie und die größeren Landbesitzer sowie ein Teil der Kleinbauern bildeten bisher die Friedenspartei; von ihnen durfte man erwarten, daß sie Friedensdeputierte in die Nationalversammlung wählen würden. Aber wenn solche unerhörten Forderungen aufrechterhalten werden, so könnte sich der Schrei nach Krieg bis aufs Messer aus ihren Reihen ebenso erheben wie aus denen der Arbeiter in den großen Städten. Jedenfalls dürfen wir keine Möglichkeit übersehen, die nach dem 19. Februar zu einer Wiederaufnahme des Krieges führen könnte, zumal da die Deutschen selbst, sofern wir der heutigen "Daily News" glauben dürfen, mit der Entwicklung der Dinge nicht so zufrieden sind, daß sie von ernsthaften Vorbereitungen für die Wiederaufnahme der Feindseligkeiten absehen. Wir wollen deshalb noch einmal einen Blick auf die militärische Lage in Frankreich werfen.
Die siebenundzwanzig französischen Departements, die gegenwärtig von den Preußen besetzt sind, umfassen eine Fläche von 15.800.000 Hektar mit einer Bevölkerung (ohne die noch nicht bezwungenen Festungen) von etwas weniger als 12.500.000 Menschen. Frankreich hat insgesamt eine |258| Bodenfläche von 54.240.000 Hektar mit einer Bevölkerung von 37.382.000. Folglich sind in runden Zahlen 38.500.000 Hektar mit einer Bevölkerung von 25.000.000 noch nicht erobert - volle zwei Drittel der Bevölkerung und bedeutend mehr als zwei Drittel des Landes. Paris und Metz, deren Widerstand das weitere feindliche Vorrücken so lange behindert hat, sind freilich gefallen. Das noch nicht eroberte Gebiet enthält keine verschanzten Lager - ausgenommen Lyon -, die dieselbe Rolle wie diese beiden Festungen spielen könnten. Etwas weniger als 700.000 Franzosen (ohne die Nationalgarde von Paris) sind gefangengenommen oder in der Schweiz interniert. Aber es gibt andere Umstände, die diesen Mangel ausgleichen, selbst wenn die drei Wochen Waffenstillstand nicht genutzt werden sollten, neue verschanzte Lager zu schaffen, wozu reichlich Zeit vorhanden wäre.
Der größte Teil des noch nicht eroberten französischen Gebiets liegt südlich der Linie Nantes - Besançon; er bildet einen kompakten Block, der von drei Seiten durch Meere oder neutrale Grenzen gedeckt ist und nur an seiner nördlichen Grenzlinie dem feindlichen Angriff offenliegt. Hier liegt die Stärke des nationalen Widerstands; hier sind die Menschen und die Mittel zu finden, die den Krieg führen können, falls er wieder aufgenommen wird. Um dieses ungeheure Rechteck von 450 mal 250 Meilen gegen einen verzweifelten regulären und irregulären Widerstand der Bevölkerung zu erobern und zu besetzen, würden die gegenwärtigen Kräfte der Preußen nicht genügen. Die Übergabe von Paris wird, wenn vier Armeekorps als Besatzung dieser Hauptstadt zurückgelassen werden, neun Divisionen freisetzen; Bourbakis Übergabe setzt Manteuffels sechs Liniendivisionen frei; zusammen also fünfzehn Divisionen oder 150.000 bis 170.000 Soldaten für Feldoperationen zusätzlich zu Goebens vier und Friedrich Karls acht Divisionen. Aber Goeben hat reichlich im Norden zu tun, und Friedrich Karl hat durch sein Steckenbleiben in Tours und Le Mans gezeigt, daß seine Offensivkraft völlig erschöpft ist, so daß für die Eroberung des Südens nur die genannten fünfzehn Divisionen übrigbleiben, während auf etliche Monate hinaus keine weiteren Verstärkungen zu erwarten sind.
Diesen fünfzehn Divisionen werden die Franzosen anfangs vorwiegend neue Formationen entgegenstellen müssen. Bei Nevers und Bourges standen das XV. und das XXV. Korps; in derselben Gegend muß das XIX. Korps gestanden haben, von dem wir seit Anfang Dezember nichts mehr gehört haben. Dann gibt es noch das XXIV. Korps, das Bourbakis Zusammenbruch entronnen ist, und Garibaldis Truppen, die kürzlich auf 50.000 Mann verstärkt worden sind, aber aus welchen Truppenteilen und aus welchen Lagern, wissen wir nicht. Im ganzen sind es etwa dreizehn oder vierzehn |259| Divisionen, vielleicht auch sechzehn, aber quantitativ wie qualitativ gänzlich ungenügend, den Vormarsch der neuen Armeen aufzuhalten, die ihnen mit Sicherheit entgegengeschickt werden, wenn der Waffenstillstand ablaufen sollte, ohne daß Frieden geschlossen worden ist. Aber die drei Wochen Waffenstillstand geben nicht nur diesen französischen Divisionen die Zeit, sich zu festigen; sie werden auch den mehr oder weniger frischen Aushebungen, die sich jetzt in den Ausbildungslagern befinden und von Gambetta auf 250.000 Mann geschätzt werden, die Möglichkeit geben, wenigstens die besten ihrer Bataillone zu brauchbaren Korps zu formieren, die fähig sein werden, sich mit dem Feind zu messen. Wenn also der Krieg wiederaufgenommen würde, wären die Franzosen in der Lage, jeden ernsten Einfall nach dem Süden abzuwehren, vielleicht nicht unmittelbar an der Loire-Grenzlinie oder weit nördlich von Lyon, aber doch an Punkten, wo die Anwesenheit des Feindes ihre Widerstandskraft nicht wesentlich schwächen wird.
Natürlich gibt der Waffenstillstand reichlich Zeit, die Ausrüstung, Disziplin und Moral von Faidherbes und Chanzys Armeen wiederherzustellen, ebenso die aller andern Truppen in Cherbourg, Le Havre usw. Die Frage ist nur, ob die Zeit entsprechend genutzt werden wird. Während so die Stärke der Franzosen an Quantität wie an Qualität beträchtlich zunehmen wird, werden die Deutschen wahrscheinlich überhaupt keine Verstärkung erhalten. In dieser Beziehung würde der Waffenstillstand für die französische Seite von Vorteil sein.
Aber außer dem kompakten Block des südlichen Frankreichs sind die beiden Halbinseln - Bretagne mit Brest und Cotentin mit Cherbourg - noch nicht erobert, ebenso die beiden nördlichen Departements mit ihren Festungen. Auch Le Havre ist ein noch nicht eroberter, gut befestigter Platz an der Küste. Jeder dieser vier Distrikte hat mindestens einen gut befestigten, sicheren Ort an der Küste für eine zurückweichende Armee. Somit kann also die Flotte, die augenblicklich nichts, absolut gar nichts zu tun hat, die Verbindungen zwischen dem Süden und all diesen Plätzen aufrechterhalten und Truppen von einem Platz zum andern, je nachdem, wie es gerade erforderlich ist, transportieren und es einer geschlagenen Armee plötzlich ermöglichen, die Offensive mit überlegenen Kräften wiederaufzunehmen. Solange also diese vier westlichen und nördlichen Distrikte in gewissem Grade unangreifbar sind, bilden sie ebensoviele schwache Stellen in den Flanken der Preußen. Die gegenwärtige Gefahrenlinie der Franzosen reicht von Angers bis Besançon; aber die der Deutschen erstreckt sich darüber hinaus von Angers über Le Mans, Rouen und Amiens bis zur belgischen |260| Grenze. Vorteile, die auf dieser Linie über die Franzosen errungen werden, können niemals entscheidend werden, vorausgesetzt, daß letztere nur ein wenig gesunden Menschenverstand beweisen; aber alle hier über die Deutschen errungenen Vorteile können unter gewissen Umständen von entscheidender Bedeutung sein.
Das ist die strategische Lage. Bei sinnvoller Ausnutzung der Flotte können die Franzosen mit ihren Truppen im Westen und Norden so manövrieren, daß sie die Deutschen zwingen, dort weit überlegene Verbände zu unterhalten, und somit jene Truppen schwächen, die zur Eroberung des Südens ausgesandt werden sollen, das zu verhindern die Hauptaufgabe der französischen Kräfte wäre. Wenn sie ihre Armeen mehr als bisher zusammenziehen und andererseits zahlreichere kleine Partisanentrupps aussenden, können die Franzosen mit ihren vorhandenen Truppen bessere Resultate erzielen. Es scheinen viel mehr Truppen in Cherbourg und Le Havre zu stehen, als zur Verteidigung nötig sind. Und die ausgezeichnet durchgeführte Zerstörung der Brücke von Fontenoy bei Toul, im Zentrum des vom Eroberer besetzten Gebiets, zeigt, was kühne Partisanen vollbringen können. Wenn der Krieg nach dem 19. Februar überhaupt wiederaufgenommen werden soll, muß er wirklich ein Krieg bis aufs Messer werden, ein Krieg wie der Spaniens gegen Napoleon I., ein Krieg, in dem noch so viele Erschießungen und Brandschatzungen den Widerstandsgeist nicht brechen können.