Über den Krieg - XXXIX | Inhalt | Die militärische Lage in Frankreich

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 17, 5. Auflage 1973, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 52-55.

Erstellt am 13.12.1998.
1. Korrektur.

Friedrich Engels

Über den Krieg - XL


["The Pall Mall Gazette" Nr. 1864 vom 2. Februar 1871]

|253| Wenn wir dem jüngsten Telegramm aus Bern glauben sollen und wir haben keinen Grund, ihm nicht zu glauben -, so ist unsere Voraussage über das Schicksal von Bourbakis Armee eingetroffen. Es wird mitgeteilt, daß dem Schweizer Bundesrat offiziell gemeldet wurde, diese etwa 80.000 Mann starke Armee habe Schweizer Gebiet betreten, wo sie natürlich ihre Waffen niederlegen muß. Die genauen Stellen, an denen sich der Übertritt ereignet hat, sind nicht angegeben worden; es muß aber südlich von Blamont und nicht südlicher als Pontarlier geschehen sein. Die einzelnen Detachements werden die Grenze an verschiedenen Stellen passiert haben, das Gros der Truppen wahrscheinlich in Les Brenets, wo die Straße von Besançon nach Neuchâtel auf Schweizer Territorium übergeht.

So ist wieder eine französische Armee verloren, wegen - um den mildesten Ausdruck zu gebrauchen - der Unentschlossenheit ihres Führers. Bourbaki mag ein schneidiger Offizier an der Spitze einer Division sein, aber der Mut, sich in einem entscheidenden Moment zum kühnen Entschluß zusammenzureißen, ist sehr verschieden von dem Mut, eine Division unter Feuer mit éclat zu kommandieren; und wie vielen Menschen mit unbestreitbarem und glänzendem persönlichem Mut scheint Bourbaki die nötige moralische Stärke zu einem entscheidenden Entschluß zu fehlen. Spätestens am Abend des 17. Januar, als ihm sein Unvermögen, Werders Linie zu durchbrechen, völlig klar geworden war, hätte er sogleich einen Entschluß über sein weiteres Tun fassen müssen. Er hätte wissen müssen, daß sich seiner Rückzugslinie preußische Verstärkungen von Nordwesten her näherten, daß seine Stellung, mit einem siegreichen Feind vor sich und |254| einer langen Rückzugslinie dicht an einer neutralen Grenze hinter sich, äußerst gefährdet, daß sein Unternehmen unwiderruflich fehlgeschlagen und daß es unter diesen Umständen seine dringendste, ja, seine einzige Pflicht war, seine Armee zu retten. Mit anderen Worten, er mußte sich so rasch zurückziehen, wie es der Zustand seiner Armee erlaubte. Aber den Entschluß zum Rückzug zu fassen, durch die Tat einzugestehen, daß sein Unternehmen fehlgeschlagen war, scheint zuviel für ihn gewesen zu sein. Er vertrödelte seine Zeit auf dem Schauplatz seiner letzten Schlachten, unfähig vorzurücken, nicht gewillt, sich zurückzuziehen, und gab so Manteuffel Zeit, ihm den Rückzug abzuschneiden. Wäre er sofort abmarschiert und hätte er nur fünfzehn Meilen täglich zurückgelegt, so hätte er Besançon am 20. und die Gegend von Dôle am 21. erreicht, gerade um die Zeit, als dort die ersten Preußen auftauchten. Diese Preußen konnten nicht sehr stark sein, und selbst Bourbakis Vorhut hätte genügen müssen, sie, wenn nicht gänzlich zurückzutreiben, so doch auf das rechte oder westliche Ufer des Doubs zu verweisen. Das hätte genügt, Bourbakis Rückzugslinie zu sichern, besonders bei einem Gegner von der Qualität Manteuffels, der zwar solange einigermaßen richtig handelt, wie die Ausführung von Moltkes Befehlen auf keinen Widerstand stößt, aber sofort unter das Niveau der Mittelmäßigkeit sinkt, sobald dieser Widerstand Ansprüche an seine eigenen Geisteskräfte stellt.

Es ist einer der seltsamsten Punkte des zwischen Bismarck und Jules Favre zustande gekommenen Dokuments, daß die vier Departements, in denen Bourbaki und Garibaldi operieren, nicht in den allgemeinen Waffenstillstand einbezogen wurden, sondern daß die Preußen sich faktisch das Recht vorbehalten, hier den Kampf so lange fortzusetzen, wie es ihnen beliebt. Das ist eine unerhörte Bedingung, die mehr als alles andere zeigt, daß der Eroberer in echt preußischer Manier jedes Zugeständnis erpreßt hat, das zu erpressen ihm seine augenblickliche Überlegenheit gestattete. Der Waffenstillstand gilt für den Westen, wo Friedrich Karl findet, daß er lieber nicht über Le Mans hinausgehen sollte, er gilt für den Norden, wo Goeben durch Festungen aufgehalten wird, aber nicht für den Südosten, wo Manteuffels Vormarsch ein zweites Sedan in Aussicht stellte. Als Jules Favre dieser Bedingung zustimmte, willigte er in Wirklichkeit in die Auslieferung Bourbakis an die Preußen oder an die Schweiz ein, mit dem einzigen für ihn vorteilhaften Unterschied, daß er die Verantwortung dafür von seinen Schultern auf die Bourbakis schob.

Alles in allem sind die Übergabebedingungen von Paris ein unerhörtes Dokument. Als sich Napoleon bei Sedan ergab, lehnte er es ab, sich in Ver- |255| handlungen einzulassen, die über seine eigene Kapitulation und die seiner Armee hinausgingen; als Gefangener sei er außerstande, die Regierung und Frankreich zu binden. Wenn aber Herr Jules Favre Paris und die Pariser Armee übergibt, läßt er sich auf Bedingungen ein, die das übrige Frankreich binden, obgleich er in genau derselben Lage ist wie Napoleon in Sedan. Ja, in einer noch schlimmeren. Napoleon stand fast bis zum Tage seiner Kapitulation in unbehinderter Verbindung mit dem übrigen Frankreich; Herr Jules Favre hatte fünf oder sechs Wochen lang nur selten Gelegenheit zu erfahren, was außerhalb von Paris vor sich ging. Informationen über die militärische Lage jenseits der Forts konnte er bloß von Bismarck erlangen, und an Hand dieser einseitigen Berichte, die ihm der Feind geliefert hatte, wagte er zu handeln.

Herr Jules Favre hatte die Wahl zwischen zwei Übeln. Er konnte so handeln, wie er gehandelt hat, einen dreiwöchigen Waffenstillstand nach dem Diktat des Feindes schließen und die wirkliche Regierung von Frankreich, die von Bordeaux, daran binden. Oder er konnte sich weigern, für das übrige Frankreich zu handeln und Bismarck anbieten, nur für Paris allein zu unterhandeln; sollten die Belagerer Schwierigkeiten machen, konnte er ebenso vorgehen wie der Kommandant von Pfalzburg: die Tore öffnen und die Eroberer zum Einmarsch auffordern. Der zweite Weg hätte weit mehr im Interesse seiner Würde und seiner Zukunft als Politiker gelegen.

Die Regierung in Bordeaux wird mit dem Waffenstillstand und der Wahl einer Nationalversammlung einverstanden sein müssen. Sie hat kein Mittel, die Generale zur Ablehnung des Waffenstillstands zu zwingen; sie wird es sich überlegen, Zwietracht unter das Volk zu säen. Den vielen vernichtenden Schlägen, welche die Franzosen in der letzten Zeit erhalten haben, fügt Bourbakis Übertritt in die Schweiz einen weiteren hinzu. Wie wir in Vorwegnahme des Ereignisses schon erklärt haben, glauben wir, daß dieser Schlag, unmittelbar nach der Übergabe von Paris, so niederschmetternd auf die geistige Verfassung der Nation wirkt, daß Frieden geschlossen werden wird. Was Frankreichs materielle Hilfsquellen anbelangt, so sind sie von der Erschöpfung so weit entfernt, daß der Kampf noch monatelang fortgesetzt werden könnte. Es gibt eine auffallende Tatsache, die zeigt, wie riesig die Schwierigkeiten einer vollständigen Eroberung Frankreichs sind. Prinz Friedrich Karl hatte nach siebentägigem Kampf Chanzys Armee in völliger Auflösung zurückgetrieben. Mit Ausnahme von |256| ein paar Brigaden blieben keine Truppen zurück, um ihm Widerstand zu leisten. Vor ihm lag ein reiches und verhältnismäßig wenig erschöpftes Gebiet. Und doch bricht er seinen Marsch in Le Mans ab und setzt ihn darüber hinaus nur mit der Vorhut und nur auf kurze Entfernung fort. Unsere Leser werden sich erinnern, daß wir nichts anderes erwartet haben; denn es kommt der Wahrheit sicher sehr nahe, daß bei der Eroberung eines großen Landes die Schwierigkeiten der Besetzung geometrisch wachsen, während der Umfang des besetzten Gebiets arithmetisch zunimmt.

Wir glauben übrigens, daß die wiederholten Fehlschläge des Januarfeldzugs die geistige Verfassung der Nation so stark erschüttert haben, daß die vorgeschlagene Nationalversammlung nicht nur zusammentreten, sondern auch Frieden schließen wird; und so werden mit dem Ende des Krieges auch diese Artikel "Über den Krieg" ein Ende finden.