Über den Krieg - XXXVII | Inhalt | Über den Krieg - XXXIX
Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 17, 5. Auflage 1973, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 247-249.
Erstellt am 13.12.1998.
1. Korrektur.
["The Pall Mall Gazette" Nr. 1858 vom 26. Januar 1871]
|247| Wir sind wieder in einer kritischen Periode des Krieges, die sich als die kritische Periode erweisen kann. Von dem Augenblick an, als bekannt wurde, daß die Regierung in Paris das Brot rationiert hat, konnte es keinen Zweifel mehr geben, daß der Anfang vom Ende gekommen war. Wie rasch daraufhin das Angebot der Übergabe folgen werde, war eine untergeordnete Frage. Wir nehmen demnach an, daß die Absicht besteht, den etwa 220.000 Belagerern ein belagertes Heer von etwa 500.000 Bewaffneten zu übergeben, und zwar zu allen Bedingungen, die die Belagerer vorzuschreiben belieben. Ob es möglich sein wird, das ohne neuen Kampf auszuführen, bleibt abzuwarten; auf keinen Fall könnte ein solcher Kampf die Lage der Dinge wesentlich ändern. Ob Paris noch weitere vierzehn Tage aushält oder ob es einem Teil dieser 500.000 Bewaffneten gelingt, sich einen Weg durch den Belagerungsring zu erzwingen, das wird den weiteren Kriegsverlauf nicht sehr beeinflussen.
Wir können nicht umhin, in erster Linie General Trochu für diesen Ausgang der Belagerung verantwortlich zu machen. Er war gewiß nicht der Mann, aus den zweifellos ausgezeichnet geeigneten Leuten, die ihm unterstellt waren, eine Armee zu formen. Er hatte fast fünf Monate Zeit, aus seinen Männern Soldaten zu machen; aber sie scheinen am Ende der Belagerung nicht besser zu kämpfen als zu ihrem Beginn. Der letzte Ausfall vom Valérien wurde mit weit weniger Schneid ausgeführt als der frühere über die Marne; viel davon war theatralische Aufmachung und nur wenig wahre Wut der Verzweiflung. Man wende nicht ein, die Truppen seien nicht fähig gewesen, die von kriegserprobten deutschen Soldaten bemannten Brustwehren zu stürmen. Warum waren sie es nicht? Fünf Monate sind genügend Zeit, um aus den Männern, die Trochu unterstanden, recht beachtliche Soldaten zu machen; es gibt für diesen Zweck keine besseren |248| Bedingungen als die Belagerung eines großen verschanzten Lagers. Ohne Zweifel hatten die Soldaten nach den Ausfällen im November und Dezember den Mut verloren - aber etwa darum, weil sie ihre Unterlegenheit gegenüber ihren Gegnern erkannten oder vielmehr darum, weil sie jedes Vertrauen in Trochus vorgebliche Entschlossenheit, den Kampf auszutragen, verloren hatten? Alle Berichte aus Paris schreiben den Mangel an Erfolgen über einstimmend dem fehlenden Vertrauen der Soldaten zum Oberkommando zu. Das ist berechtigt. Wir dürfen nicht vergessen, daß Trochu Orléanist ist und als solcher in beständiger Furcht vor La Villette, Belleville und den anderen "revolutionären" Stadtvierteln von Paris lebt, die er mehr als die Preußen fürchtet. Das ist keine bloße Vermutung oder Schlußfolgerung unsererseits. Wir wissen es aus einer Quelle, die keinen Zweifel zuläßt: aus einem Brief, den ein Mitglied der Regierung aus Paris abgesandt hat und in dem festgestellt wird, Trochu sei von allen Seiten gedrängt worden, die Offensive energisch aufzunehmen, er habe sich aber beharrlich geweigert, weil ein solcher Weg Paris den "Demagogen" hätte in die Hände liefern können.
Demnach scheint der Fall von Paris jetzt fast sicher zu sein. Es wird ein harter Schlag für die französische Nation sein, unmittelbar nach St. Quentin, Le Mans und Hericourt, und seine moralische Wirkung wird unter diesen Umständen sehr groß sein. Außerdem stehen im Südosten Ereignisse bevor, die diesen Schlag zu einem moralisch vernichtenden machen können. Bourbaki scheint in der Umgegend von Belfort in einer Weise zu zögern, die vermuten läßt, daß er die Lage, in der er sich befindet, durchaus nicht begreift. Das XXIV. Korps unter Bressolles war am 24. Januar noch in Blamont, etwa zwölf Meilen südlich von Montbéliard, dicht an der Schweizer Grenze; und selbst wenn wir annehmen, daß das Bourbakis Nachhut war, so ist nicht zu vermuten, daß die beiden anderen Korps, die er bei sich hatte, weit davon entfernt waren. Inzwischen hören wir, daß preußische Detachements schon am 21. in Dôle die Eisenbahnlinie zwischen Besançon und Dijon unterbrochen haben, daß sie seitdem St. Vit - eine andere, Besançon nähere Station auf derselben Linie - besetzt haben und so Bourbakis Rückzug nach Lyon auf den schmalen Streifen zwischen dem Doubs und der Schweizer Grenze beschränken. Dies ist ein Gebiet von parallel verlaufenden Bergketten und Tälern, wo eine verhältnismäßig kleine Truppe viele Positionen finden kann, um den Rückzug einer derartigen Armee wie der Bourbakis aufzuhalten. Diese Detachements am Doubs sind vermutlich die 13. Division von Zastrows VII. Armeekorps oder |249| vielleicht ein Teil von Franseckys II. Korps, das am 23. bei Dijon auftauchte. Das 60. Regiment, das mit dem 21. die 8. Brigade (oder 4. Brigade des II. Korps) bildet, wurde vor dieser Stadt von Garibaldi zurückgedrängt und verlor seine Fahnen. Da Garibaldi jedoch höchstens 15.000 Mann hat, wird er die Stadt nicht gegen die überlegenen Kräfte halten können, die sicher inzwischen dort angekommen sind. Er wird zurückgetrieben werden, und der preußische Vormarsch wird bis zum Doubs und darüber hinaus fortgesetzt werden. Wenn Bourbaki nicht inzwischen von den Beinen seiner Soldaten guten Gebrauch gemacht hat, wird er entweder mit seiner ganzen Armee in die Festung Besançon getrieben werden und dort das Spiel von Metz wiederholen, oder er wird in eine Ecke des Jura nahe der Schweizer Grenze gedrängt werden und sich gezwungen sehen, die Waffen diesseits oder jenseits der Grenze niederzulegen. Und sollte er auch mit dem Großteil seiner Truppen entkommen, so ist es doch fast sicher, daß zahlreiche Nachzügler, viel Gepäck und vielleicht auch Artillerie geopfert werden müßten.
Nach dem dreitägigen Kampf bei Hericourt hatte Bourbaki keine Veranlassung, auch nur einen Tag länger in dieser ungedeckten Stellung nahe der Grenze zu bleiben, zumal preußische Verstärkungen gegen seine Verbindungen im Anmarsch waren. Seine Versuche, Belfort zu entsetzen, waren fehlgeschlagen; jede günstige Aussicht auf eine weitere Offensivbewegung in dieser Richtung war entschwunden; seine Stellung wurde täglich gefährdetet, und nichts als ein schneller Rückzug konnte ihn retten. Allem Anschein nach hat er auch das vernachlässigt, und wenn seine Unvorsichtigkeit zu einem zweiten Sedan führen sollte, wäre dieser Schlag für das französische Volk moralisch vernichtend.
Wir sagen moralisch, denn materiell muß es nicht sein. Deutschland ist gewiß nicht so erschöpft, wie Gambetta vorgibt; immerhin aber entfaltet Deutschland in diesem Augenblick eine größere absolute und relative Stärke, als es sie in den kommenden Monaten von neuem entfalten kann. Für einige Zeit müssen die deutschen Kräfte abnehmen, während die französischen Kräfte sogar nach der Übergabe der Pariser Garnison und der Armee Bourbakis, falls es dazu kommen sollte, nichts daran hindert, wieder zuzunehmen. Die Preußen selbst scheinen jede Hoffnung aufgegeben zu haben, ganz Frankreich erobern und besetzen zu können; und solange der kompakte Block im Süden frei bleibt und im Norden der passive und gelegentlich auch aktive Widerstand (wie die Sprengung der Moselbrücke bei Toul) nicht aufgegeben wird, sehen wir nicht, wie Frankreich gezwungen werden könnte, sich zu ergeben - es sei denn, es wäre kriegsmüde geworden.