Die Aussichten des Krieges | Inhalt | Über den Krieg - XXXI

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 17, 5. Auflage 1973, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 203-207.

Erstellt am 13.12.1998.
1. Korrektur.

Friedrich Engels

Preußische Franktireurs


["The Pall Mall Gazette" Nr. 1817 vom 9. Dezember 1870]

|203| Berichte über das Niederbrennen französischer Dörfer durch die Preußen waren in der letzten Zeit fast ganz aus der Presse verschwunden. Wir begannen zu hoffen, die preußischen Behörden hätten ihren Fehler eingesehen und solche Maßnahmen im Interesse ihrer eigenen Truppen eingestellt. Wir waren im Irrtum. Die Zeitungen wimmeln wieder von Nachrichten über die Erschießung von Gefangenen und die Zerstörung von Dörfern. Ein Bericht im "Berliner Börsen-Courier", datiert Versailles, den 20. November, lautet:

"Gestern langten die ersten Verwundeten von dem am 17. bei Dreux stattgefundenen Kampfe im hiesigen Schlosse an. Es wurde mit den Franktireurs gründlich aufgeräumt und ein Exempel statuiert; diese Bande wurde der Reihe nach aufgestellt und einem nach dem andern durch eine Kugel vor den Kopf der Garaus gemacht. Ein extrahierter Armeebefehl verbietet auf das nachdrücklichste, Franktireurs als Gefangene einzubringen, gebietet aber, dieselben, wo sie sich nur zeigen, standrechtlich niederzuschießen. Mit Rücksicht auf das schamlos feige und räuberische Gebaren dieses Lumpengesindels ist das angewendete Verfahren zur eisernen Notwendigkeit geworden."

Die Wiener "Tages-Presse" läßt sich unter demselben Datum berichten:

"Im Wald von Villeneuve hat man in der letzten Woche vier Franktireurs gehängt, weil sie auf unsere Ulanen aus dem Walde geschossen haben."

Ein offizieller Bericht, datiert Versailles, den 26. November, teilt mit, die Landbevölkerung rings um Orléans habe - aufgehetzt von Priestern, die Bischof Dupanloup beauftragt habe, einen Kreuzzug zu predigen - den Guerillakrieg gegen die Deutschen begonnen: Patrouillen würden |204| beschossen und Ordonnanzoffiziere von Landleuten niedergemacht, die zum Schein auf dem Felde arbeiteten. Um diese Meuchelmorde zu rächen, würden alle Zivilpersonen, die Waffen trügen, sofort hingerichtet. Nicht wenige Priester - siebenundsiebzig - erwarteten gegenwärtig ihre Aburteilung.

Das sind nur einige Beispiele, die bis ins endlose vermehrt werden könnten; demnach scheint es die feste Absicht der Preußen zu sein, diese Brutalitäten bis zum Kriegsende fortzusetzen. Unter diesen Umständen dürfte es nützlich sein, ihr Augenmerk auf einige Tatsachen der neueren preußischen Geschichte zu lenken.

Der jetzige König von Preußen wird sich sehr gut der Zeit der tiefsten Erniedrigung seines Landes erinnern: der Schlacht bei Jena, der langen Flucht an die Oder, der rasch aufeinander folgenden Kapitulationen fast der gesamten preußischen Truppen, des Rückzugs der Überreste hinter die Weichsel und schließlich des völligen Zusammenbruchs des ganzen militärischen und politischen Systems des Landes. Damals setzte unter dem Schutz einer pommerschen Küstenfestung durch persönliche Initiative und persönlichen Patriotismus ein neuer aktiver Widerstand gegen den Feind ein. Ein einfacher Dragonerfähnrich, Schill, begann in Kolberg ein Freikorps (gallisch: francstireurs) zu bilden, mit dem er, von Einwohnern unterstützt, Patrouillen, Detachements und Feldposten überfiel und öffentliche Gelder, Proviant und Kriegsmaterial sicherte. Er nahm den französischen General Victor gefangen und bereitete einen allgemeinen Aufstand des Landes im Rücken und auf den Verbindungslinien der Franzosen vor. Kurzum, er tat alle jene Dinge, die jetzt den französischen Franktireurs zur Last gelegt werden, welche von seiten der Preußen mit den Titeln Räuber und Lumpengesindel und - als unbewaffnete Gefangene - mit "einer Kugel vor den Kopf" bedacht werden. Aber der Vater des jetzigen preußischen Königs billigte diese Taten ausdrücklich und beförderte Schill. Es ist bekannt, daß derselbe Schill 1809 - als zwar in Preußen Frieden war, aber Österreich gegen Frankreich Krieg führte - mit seinem Regiment auf eigene Faust einen Feldzug gegen Napoleon unternahm, ganz wie Garibaldi, daß er in Stralsund erschossen wurde und seine Soldaten gefangengenommen wurden. Nach den preußischen Kriegsregeln hätte also Napoleon durchaus das Recht gehabt, sämtliche Gefangene zu erschießen, ließ jedoch nur elf Offiziere in Wesel füsilieren. Auf den Gräbern dieser elf Franktireurs mußte der Vater des jetzigen preußischen König, sehr gegen seinen Willen, aber gezwungen von |205| der öffentlichen Meinung innerhalb und außerhalb der Armee, zu ihren Ehren ein Denkmal errichten.

Kaum war ein praktischer Anfang des Freischärlertums in Preußen gemacht worden, so begannen die Preußen - wie es einer Nation von Denkern geziemt -, die Sache in ein System zu bringen und eine Theorie dazu auszuarbeiten. Der Theoretiker des Freischärlertums, der große philosophische Franktireur, war kein anderer als Anton Neithardt von Gneisenau, der eine Zeitlang Feldmarschall im Dienste Seiner preußischen Majestät war. Gneisenau hatte 1807 Kolberg verteidigt; er hatte einige Schillsche Franktireurs unter sich gehabt; er war bei seiner Verteidigung kräftig von den Einwohnern der Stadt unterstützt worden, die durchaus nicht einmal auf den Titel einer mobilen oder sedentären Nationalgarde Anspruch erheben konnten, weshalb sie - getreu der jüngsten preußischen Auffassung - "auf der Stelle hingerichtet" zu werden verdienten. Die großen Hilfsquellen, die ein überfallenes Land in einem energischen Volkswiderstand besitzt, machten auf Gneisenau so tiefen Eindruck, daß er sich eine Reihe von Jahren intensiv mit dem Problem beschäftigte, wie sich dieser Volkswiderstand am besten organisieren lasse. Der Guerillakrieg in Spanien und die Erhebung der russischen Bauern an der Rückzugslinie der Franzosen von Moskau gaben ihm neue Beispiele, und 1813 konnte er seine Theorie in die Praxis umsetzen.

Bereits im August 1811 hatte Gneisenau einen Plan für die Vorbereitung eines Volksaufstandes ausgearbeitet. Es sollte eine Miliz gebildet werden, die keine Uniform, sondern nur eine Militärmütze (gallisch: kepi), eine Schärpe von schwarzen und weißen Streifen und vielleicht einen militärischen Ärmelmantel tragen sollte, kurz, fast genau die Uniform der jetzigen französischen Franktireurs.

"Kommt der Feind sehr stark, so ... versteckt sie ihre Waffen, Mützen und Schärpen, und erscheint so als Bewohner des Landes."

Gerade das betrachten die Preußen jetzt als ein Verbrechen, das mit Kugel oder Strick geahndet werden muß. Diese Miliztruppen sollten den Feind unablässig beunruhigen, seine Verbindungen unterbrechen, sich seiner Nachschubtransporte bemächtigen oder sie vernichten, dabei aber regelrechte Angriffe vermeiden und sich vor massierten regulären Truppen in die Wälder oder Sümpfe zurückziehen.

"Befehle sollen an sämtliche Geistliche aller christlichen Konfessionen bereitliegen, wonach diese, bei ausgebrochenem Kriege, überall den Aufstand predigen, Frankreichs Unterjochungsplan mit schwarzen Farben schildern, an das jüdische Volk unter den |206| Makkabäern erinnern, ... dessen Beispiel uns anfeuern müsse ..." Jeder Geistliche muß seinen Pfarrkindern den Eid abnehmen, daß sie dem Feinde keinen Proviant, Waffen usw. anders liefern, "als durch Waffengewalt dazu gezwungen".

Kurz gesagt, sie sollten denselben Kreuzzug predigen, den der Bischof von Orléans |Dupanloup| seinen Geistlichen zu predigen befohlen hatte und wofür jetzt nicht wenige französische Priester ihre Aburteilung erwarten.

Wer den zweiten Band von Professor Pertz' "Leben Gneisenaus" zur Hand nimmt, wird neben der Titelseite eine Reproduktion eines Teils des obigen Zitats als Faksimile von Gneisenaus Handschrift und daneben das Faksimile einer Randnotiz König Friedrich Wilhelms zu Gneisenaus Gedanken finden:

"Wenn ein Prediger erschossen seyn wird, hat die Sache ein Ende."

Augenscheinlich hatte der König kein großes Vertrauen zu dem Heroismus seiner Geistlichkeit. Aber das hinderte ihn nicht, Gneisenaus Plan ausdrücklich zu billigen; ebensowenig hinderte das einige Jahre später, als genau dieselben Leute, die die Franzosen aus dem Lande getrieben hatten, verhaftet und als "Demagogen" verfolgt wurden, einen der gescheiten Demagogenjäger jener Zeit, in dessen Hände das Originaldokument gefallen war, gegen den unbekannten Autor wegen dieses Versuchs, das Volk zum Erschießen der Geistlichkeit aufzureizen, Anklage zu erheben!

Bis zum Jahre 1813 wurde Gneisenau nicht müde, nicht nur die reguläre Armee, sondern auch den Volksaufstand vorzubereiten als ein Mittel, das französische Joch abzuschütteln. Als schließlich der Krieg ausbrach, war er sofort von Aufständen, vom Widerstand der Bauern und Franktireurs begleitet. Im April griff das Land von der Weser bis zur Elbe zu den Waffen. Kurz darauf erhob sich die Bevölkerung in der Gegend von Magdeburg, und Gneisenau selbst schrieb an seine Freunde in Franken - der Brief ist von Pertz veröffentlicht worden - und rief sie auf, sich an der feindlichen Etappenlinie zu erheben. Schließlich kam die offizielle Anerkennung dieser Volkskriegführung: die Landsturm-Ordnung vom 21. April 1813 (die erst im Juli veröffentlicht wurde), worin jeder wehrbare Mann, der nicht schon bei dem stehenden Heere oder der Landwehr diene, verpflichtet ist, sich bei seinem Landsturmbataillon zu stellen, um so den Kampf der Notwehr, der alle Mittel heiligt, vorzubereiten. Der Landsturm ist dazu bestimmt, dem Feind den Einbruch wie den Rückzug zu versperren, ihn beständig in Atem zu halten; seine Munition und Lebensmittel, Kuriere und Rekruten aufzufangen und Hospitäler aufzuheben; nächtliche Über- |207| fälle auszuführen, ihn einzeln und in Trupps zu vernichten, ihn zu beunruhigen, zu peinigen; ferner ist er verpflichtet, die preußische Armee zu unterstützen, alle Eskorten an Geld, Proviant und Munition zu besorgen und die gefangenen Feinde usw. zu bewachen und zu begleiten. Dieses Gesetz kann tatsächlich ein mustergültiges Vademekum für Franktireurs genannt werden, und - von keinem mittelmäßigen Strategen entworfen - ist es gegenwärtig in Frankreich ebenso anwendbar wie zu jener Zeit in Deutschland.

Zum Glück für Napoleon I. wurde es aber sehr unvollkommen verwirklicht. Der König war über sein eigenes Werk erschrocken. Dem Volk zu erlauben, für sich selbst zu kämpfen - ohne des Königs Kommando -, das war zu antipreußisch. So wurde der Landsturm ausgesetzt, bis ihn der König aufrufen würde, was er niemals tat. Gneisenau tobte, aber schließlich mußte er ohne den Landsturm auskommen. Wenn er mit all seinen späteren preußischen Erfahrungen heute lebte, würde er vielleicht sein beau ideal |Vorbild| des Volkswiderstands in den französischen Franktireurs annähernd erreicht, wenn nicht verwirklicht sehen. Denn Gneisenau war ein Mann - und ein Mann von Genie.