Über den Krieg - XXX | Inhalt | Preußische Franktireurs

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 17, 5. Auflage 1973, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 197-202.

Erstellt am 13.12.1998.
1. Korrektur.

Friedrich Engels

Die Aussichten des Krieges


["The Pall Mall Gazette" Nr. 1816 vom 8. Dezember 1870]

|197| Die letzte Niederlage der französischen Loire-Armee und der Rückzug Ducrots hinter die Marne - vorausgesetzt, daß diese Bewegung so entscheidend war, wie sie am Sonnabend geschildert wurde - bestimmen endgültig das Schicksal der ersten kombinierten Operation zur Entsetzung von Paris. Sie ist völlig mißlungen, und man fragt nun wieder, ob diese neue Serie von Mißerfolgen nicht die Unfähigkeit der Franzosen zu weiterem erfolgreichem Widerstand beweist und ob es nicht besser wäre, das Spiel sogleich aufzugeben, Paris zu übergeben und die Abtretung des Elsaß und Lothringens zu unterzeichnen.

Es ist eine Tatsache, daß die Menschen jede Erinnerung an einen wirklichen Krieg verloren haben. Der Krimkrieg, der italienische, der östereichisch-preußische Krieg waren rein konventionelle Kriege - Kriege der Regierungen, die Frieden schlossen, sobald ihre militärische Maschinerie zerbrochen oder abgenutzt war. Einen wirklichen Krieg, an dem die Nation selbst teilnimmt, haben wir im Herzen Europas seit etlichen Generationen nicht gesehen. Wir haben ihn im Kaukasus und in Algerien gesehen, wo die Kämpfe mehr als zwanzig Jahre mit kaum nennenswerter Unterbrechung andauerten; wir würden ihn in der Türkei gesehen haben, wenn die Alliierten den Türken gestattet hätten, sich auf eigene Weise zu verteidigen. Aber Tatsache ist, daß unsere Überlieferungen nur Barbaren das Recht auf wirkliche Selbstverteidigung zugestehen; von zivilisierten Staaten erwarten wir, daß sie der Etikette gemäß kämpfen und daß sich die echte Nation nicht der Roheit schuldig macht, den Kampf noch fortzusetzen, nachdem die offizielle Nation sich ergeben mußte.

|198| Die Franzosen begehen tatsächlich diese Roheit. Zum Verdruß der Preußen, die sich für die besten Kenner militärischer Etikette halten, haben sie noch drei Monate lang energisch gekämpft, nachdem die offizielle Armee Frankreichs aus dem Felde geschlagen war; sie haben sogar erreicht, was ihre offizielle Armee niemals in diesem Feldzug fertigbrachte: sie haben einen bedeutenden und zahlreiche kleine Erfolge erzielt, Geschütze und Nachschubtransporte genommen und Gefangene gemacht. Zwar haben sie gerade jetzt eine Reihe ernster Schlappen erlitten, aber die bedeuten nichts, verglichen mit dem Schicksal, das ihre frühere offizielle Armee unter demselben Gegner zu erleiden pflegte. Zwar ist ihr erster Versuch, Paris durch einen gleichzeitigen Angriff von innen und außen von den einschließenden Armeen zu befreien, völlig fehlgeschlagen; aber hat das unbedingt zur Folge, daß für einen zweiten Versuch keine Aussichten mehr vorhanden sind?

Beide französischen Armeen, sowohl die von Paris als auch die Loire-Armee, haben gut gekämpft, nach dem eigenen Zeugnis der Deutschen. Gewiß sind sie von zahlenmäßig schwächeren Truppen geschlagen worden, aber das war von jungen und frisch aufgestellten Truppen, die erprobten alten Soldaten gegenübertraten, nicht anders zu erwarten. Ihre taktischen Bewegungen im Feuer waren - nach einem Korrespondenten der "Daily News", der die Dinge kennt, über die er schreibt - rasch und sicher. Wenn es an Genauigkeit mangelte, so teilten sie diesen Fehler mit mancher siegreichen französischen Armee. Es besteht kein Zweifel: Diese Armeen haben gezeigt, daß sie Armeen sind, und müssen von ihren Gegnern mit der schuldigen Achtung behandelt werden. Sicherlich weisen sie recht unterschiedliche Bestandteile auf: Linienbataillone, die mehr oder weniger aus alten Soldaten bestehen; Mobilgarden aller Stufen der militärischen Leistungsfähigkeit, von gut geführten, gut ausgebildeten und gut ausgerüsteten Bataillonen bis zu unausgebildeten Rekrutenbataillonen, die der Grundbegriffe des "Griffeklopfens" und Zugexerzierens noch unkundig sind; Franktireurs jeder Art, gute, schlechte und mittelmäßige - wobei die letzteren vermutlich in der Überzahl sind. Aber unbedingt ist ein Kern von durchaus kampffähigen Bataillonen vorhanden, um den die anderen gruppiert werden können; ein Monat gelegentlicher Kämpfe unter Vermeidung vernichtender Niederlagen wird sie insgesamt zu ausgezeichneten Soldaten machen. Bei besserer Strategie hätten sie sogar jetzt schon erfolgreich sein können. Die ganze für den Augenblick erforderliche Strategie ist indes die, alle entscheidenden Kämpfe hinauszuschieben; und das, denken wir, kann geschehen.

|199| Aber die bei Le Mans und in der Nähe der Loire konzentrierten Truppen sind bei weitem nicht die ganze bewaffnete Macht Frankreichs. Mindestens weitere 200.000 bis 300.000 Mann werden tiefer im Hinterland organisiert. Jeder Tag macht sie kampffähiger. Jeder Tag muß, wenigstens eine Zeitlang, ständig wachsende Mengen von neuen Soldaten an die Front schicken; und hinter ihnen stehen noch genug Männer, die ihre Plätze einnehmen können. Waffen und Munition kommen täglich in großen Mengen an; bei modernen Geschützfabriken und Kanonengießereien, mit Telegraphen und Dampfschiffen und bei der Beherrschung der Meere ist kein Mangel daran zu befürchten. Ein Monat wird einen erheblichen Unterschied in der Leistungsfähigkeit dieser Mannschaften bewirken; und wenn sie zwei Monate Zeit hätten, so würden sie zu Armeen werden, die Moltkes Ruhe empfindlich stören könnten.

Hinter diesen mehr oder weniger regulären Truppen gibt es den großen Landsturm |Landsturm: in der "P.M.G." hier und im weiteren deutsch|, die Masse des Volkes, das die Preußen zu jenem Krieg der Selbstverteidigung getrieben haben, der nach dem Ausspruch von König Wilhelms Vater |Friedrich Wilhelm III.| alle Mittel heiligt. Als Fritz |Kronprinz Friedrich Wilhelm von Preußen| von Metz nach Reims, von Reims nach Sedan und von da nach Paris marschierte, hörte man kein Wort von einer Volkserhebung. Die Niederlagen der kaiserlichen Armeen wurden mit einer Art Stumpfsinn aufgenommen; zwanzig Jahre kaiserlichen Regimes hatten die Massen des Volkes an dumpfe und passive Abhängigkeit von der offiziellen Führung gewöhnt. Es gab zwar hie und da Bauern, die an wirklichen Kämpfen teilnahmen, wie in Bazeilles, doch das waren Ausnahmen. Aber kaum hatten die Preußen sich rings um Paris festgesetzt und das umliegende Land unter ein hartes und jeder Rücksichtnahme bares Requisitionssystem gestellt, kaum hatten sie begonnen, Franktireurs zu erschießen und Dörfer niederzubrennen, die diesen Beistand geleistet hatten, und kaum hatten sie die französischen Friedensangebote abgewiesen und ihre Absicht kundgetan, den Krieg als Eroberungskrieg fortzuführen - als sich das alles änderte. Dank ihrer eigenen Härte brach um sie herum der Guerillakrieg aus; sie brauchen jetzt nur in ein neues Departement vorzurücken, und weit und breit erhebt sich der Landsturm. Wer in den deutschen Zeitungen die Berichte über den Vormarsch der Armeen des Großherzogs von Mecklenburg und des Prinzen Friedrich Karl liest, wird auf den ersten Blick sehen, welch außergewöhnliche Wirkung dieser ungreifbare, immer verschwindende und wieder erscheinende, aber stets |200| hindernde Volkswiderstand auf die Bewegungen dieser Armeen hatte. Sogar ihre zahlreiche Kavallerie, der die Franzosen kaum etwas entgegenzustellen haben, ist durch diese allgemeine aktive und passive Feindseligkeit der Einwohner in weitem Maß gelähmt.

Nun wollen wir die Position der Preußen untersuchen. Von den siebzehn Divisionen vor Paris können sie sicher nicht eine einzige entbehren, solange Trochu jeden Tag seine Ausfälle en masse wiederholen kann. Manteuffels vier Divisionen werden auf längere Zeit hinaus in der Normandie und Picardie mehr zu tun haben, als sie durchführen können, und vielleicht werden sie sogar von dort abberufen. Werders zweieinhalb Divisionen können nicht über Dijon hinausgelangen, es sei denn in gelegentlichen Streifzügen, und das wird so bleiben, bis wenigstens Belfort genommen worden ist. Die lange und schmale Verbindungslinie, nämlich die Eisenbahn Nancy - Paris, kann keinen einzigen Mann ihrer Bewachungstruppen entbehren. Das VII. Korps hat reichlich damit zu tun, die lothringischen Festungen besetzt zu halten und Longwy und Montmedy zu belagern. Es bleiben also für Feldoperationen gegen das große Gebiet von Zentral- und Südfrankreich die elf Infanteriedivisionen des Prinzen Friedrich Karl und des Großherzogs von Mecklenburg, die einschließlich der Kavallerie sicher nicht mehr als 150.000 Mann betragen.

Die Preußen verwenden also ungefähr sechsundzwanzig Divisionen darauf, das Elsaß, Lothringen und die beiden langen Verbindungslinien nach Paris und Dijon zu halten und Paris einzuschließen, und doch haben sie direkt vielleicht kaum ein Achtel und indirekt gewiß nicht mehr als ein Viertel von Frankreich in Händen. Für den Rest des Landes bleiben ihnen fünfzehn Divisionen, von denen vier Manteuffel unterstehen. Wie weit diese vorstoßen können, hängt völlig von der Energie des Volkswiderstands ab, auf den sie stoßen werden. Aber mit ihren Verbindungen, die alle über Versailles laufen - denn der Marsch des Prinzen Friedrich Karl hat ihm keine neue Linie über Troyes eröffnet -, und mitten in einem aufrührerischen Land werden sich diese Truppen über eine breite Front ausdehnen und Detachements zurücklassen müssen, um die Wege zu sichern und das Volk niederzuhalten. So werden sie bald an einem Punkt ankommen, wo ihre Truppen so vermindert sein werden, daß ihnen die gegenüberstehenden französischen Kräfte das Gleichgewicht halten; dann werden die Aussichten der Franzosen wieder günstig sein; oder die deutschen Armeen werden als große fliegende Kolonnen auftreten müssen, die im Lande hin und her marschieren, ohne es eigentlich zu besetzen. In diesem Fall können die französischen regulären Truppen vorübergehend vor ihnen zurückweichen |201| und werden reichlich Gelegenheit finden, sie im Rücken und in den Flanken anzufallen.

Einige fliegende Korps, wie sie Blücher 1813 in die Flanken der Franzosen gesandt hatte, wären sehr wirksam, falls sie eingesetzt würden, die Verbindungslinie der Deutschen zu unterbrechen. Diese Linie ist fast auf ihrer ganzen Länge von Paris nach Nancy verwundbar. Einige Abteilungen, jede aus einer oder zwei Schwadronen Kavallerie und einigen Scharfschützen bestehend, die diese Linie Überfallen, die Geleise, Tunnels und Brücken zerstören, die Züge angreifen usw., würden erreichen, daß die deutsche Kavallerie von der Front, wo sie sehr gefährlich ist, zurückgerufen würde. Allerdings fehlt den Franzosen der regelrechte "Husarenschneid".

All das gilt nur unter der Voraussetzung, daß Paris weiter aushält. Bis jetzt gibt es nichts, was Paris zur Übergabe zwingen könnte, es sei denn der Hunger. Aber die Nachrichten, die wir in der gestrigen "Daily News" von einem Pariser Korrespondenten erhielten, würden, wenn sie richtig sind, viele Besorgnisse zerstreuen. Danach gibt es in Paris noch 25.000 Pferde, außer denen der Armee, die bei 500 Kilogramm je Pferd 61/4 Kilogramm oder 14 Pfund Fleisch für jeden Einwohner ergäben oder etwa 1/4 Pfund täglich auf zwei Monate. Damit, sowie mit Brot und Wein ad libitum und einer gehörigen Menge Pökelfleisch und anderen Eßwaren, kann Paris durchaus bis Anfang Februar aushalten. Das würde Frankreich zwei Monate Zeit geben, die ihm jetzt mehr wert sind als zwei Friedensjahre. Unter einigermaßen intelligenter und energischer Leitung, sowohl zentral wie lokal, müßte es bis dahin in der Lage sein, Paris zu entsetzen und sich wieder aufzurichten.

Und wenn Paris fallen sollte? Wir werden noch Zeit genug haben, diese Perspektive zu erwägen, sobald sie wahrscheinlicher wird. Jedenfalls ist Frankreich länger als zwei Monate ohne Paris fertig geworden und kann auch ohne Paris weiterkämpfen. Natürlich könnte der Fall von Paris den Willen zum Widerstand zersetzen, aber das können auch jetzt die unangenehmen Nachrichten der letzten sieben Tage. Aber weder das eine noch das andere muß diese Wirkung haben. Wenn die Franzosen einige taktisch geeignete Stellungen befestigen, etwa Nevers an dem Zusammenfluß von Loire und Allier, wenn sie vorgeschobene Werke rund um Lyon aufwerfen, um es ebenso stark wie Paris zu machen, so kann sogar nach dem Fall von Paris der Krieg fortgeführt werden; aber es ist noch nicht an der Zeit, darüber zu sprechen.

Wir wagen daher zu sagen, wenn der Widerstandsgeist im Volk nicht ermattet, ist die Position der Franzosen, auch nach ihren letzten Nieder- |202| lagen, sehr stark. Angesichts der Beherrschung der See, die die Waffeneinfuhr gestattet, mit genügend Männern, aus denen man Soldaten machen kann, mit drei Monaten - den ersten und schlimmsten drei Monaten - Organisationsarbeit hinter sich und mit der guten Aussicht auf einen weiteren Monat der Atempause, wenn nicht auf zwei und das alles zu einer Zeit, da die Preußen Anzeichen von Erschöpfung zeigen -, mit alledem sich jetzt zu ergeben, wäre glatter Verrat. Und wer weiß, welche Zufälle sich noch ereignen, welche weiteren Komplikationen in der Zwischenzeit in Europa eintreten können? Auf jeden Fall sollten sie weiterkämpfen!