Über den Krieg - XXIX | Inhalt | Die Aussichten des Krieges

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 17, 5. Auflage 1973, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 193-196.

Erstellt am 13.12.1998.
1. Korrektur.

Friedrich Engels

Über den Krieg - XXX


["The Pall Mall Gazette" Nr. 1812 vom 3. Dezember 1870]

|193| Die Zweite Armee von Paris begann ihre Offensivbewegungen am 29. November mit einem Ausfall von der Südfront der Stadt her in Richtung auf l'Hay und Choisy-le-Roi. Nach den preußischen Berichten war es das I. Korps von Ducrots Armee unter Vinoy, das hier das VI. preußische Korps unter Tümpling angriff. Dieser Angriff scheint ein bloßer Scheinangriff gewesen zu sein, um die Preußen zu beunruhigen und sie zu veranlassen, diese Seite zu verstärken, auf der sich die Belagerten - wenn ihr Ausfall erfolgreich wäre - auf dem kürzesten Wege mit der Loire-Armee verbinden könnten. Sonst wäre Vinoy ohne Zweifel von anderen Korps unterstützt worden und hätte mehr als ein paar hundert Tote und Verwundete sowie hundert Gefangene verloren. Der wirkliche Angriff wurde am folgenden Morgen eröffnet. Diesmal rückte Ducrot auf dem rechten Ufer der Seine in der Nähe der Marnemündung vor, während sich ein zweiter Ausfall auf dem linken Ufer gegen Tümpling richtete und Scheinangriffe im Westen von St. Denis gegen das IV. und das Gardekorps gemacht wurden. Welche Truppen für diese Scheinangriffe verwendet wurden, wissen wir nicht; aber ein offizieller französischer Bericht sagt, den Ausfall gegen Tümpling habe Admiral La Roncière Le Noury geführt. Dieser Offizier kommandiert eine der sieben Divisionen der Dritten Armee von Paris, die Trochus direktem Kommando untersteht; demnach ist es wahrscheinlich, daß alle Nebenangriffe dieser Armee anvertraut wurden, um alle acht Divisionen Ducrots für den Hauptangriff an der Marne verfügbar zu halten.

Dieser Angriff mußte wieder in zwei verschiedenen Richtungen unternommen werden. Ein Teil der Truppen wurde längs des rechten Marne-Ufers in östlicher Richtung auf Chelles angesetzt, um das XII. oder sächsische |194| Armeekorps abzuwehren, das die Ostseite von Paris einschließt. Das war ebenfalls ein Nebenangriff; wir hören sehr wenig von seinem Verlauf, ausgenommen, daß die Sachsen behaupten, ihre Stellungen gehalten zu haben, was auch wahrscheinlich ist. Der Hauptteil von Ducrots Truppen jedoch, Renaults II. Korps an der Spitze, überschritt die Marne auf acht Brücken und griff die drei württembergischen Brigaden an, die den Raum zwischen Marne und Seine hielten. Wie bereits erwähnt, bildet der Lauf der Marne vor ihrer Mündung in die Seine ein großes S, dessen obere oder nördliche Krümmung sich Paris nähert, während sich die untere von der Stadt entfernt. Beide Krümmungen liegen im Feuerbereich der Forts; während die obere oder sich Paris nähernde durch ihre Form einen Ausfall begünstigt, wird die untere oder entferntere sowohl von dem Gelände auf dem linken Ufer her als auch von den Forts aus beherrscht; überdies sind für einen Brückenschlag unter feindlichem Feuer weder der Flußlauf noch die vielen Arme günstig. Der größere Teil dieser Krümmung scheint deshalb eine Art neutralen Geländes geblieben zu sein, zu dessen beiden Seiten die wirklichen Kämpfe stattfanden.

Die Truppen, die für den westlichen Angriff bestimmt waren, rückten unter dem Feuerschutz des Forts Charenton und der Feldschanzen von Gravelle in der Richtung auf Mesly und Bonneuil vor. Zwischen beiden Orten erhebt sich als einzige Erhöhung, das umliegende Flachland um volle hundert Fuß überragend, ein Hügel, der Mont Mesly, notwendigerweise das erste Ziel des französischen Vormarschs. Die für diesen Zweck bestimmten Truppen werden in einem Telegramm des Generals Obernitz, der die württembergische Division kommandiert, als "eine Division" bezeichnet. Aber da sie anfangs die 2. und 3. württembergische Brigade, die ihnen entgegentraten, vertrieben und erst zurückgeworfen werden konnten, als Verstärkungen herankamen, und da ferner klar ist, daß Ducrot, der genug Truppen zur Verfügung hatte, einen so wichtigen Angriff nicht mit bloß zwei Brigaden machte, dürfen wir als sicher annehmen, daß dies einer der zahllosen Fälle ist, wo das Wort "Abteilung" |"Abteilung" in der "P.M.G." deutsch|, das einen beliebigen Teil einer Armee bedeutet, fälschlich mit "Division" übersetzt worden ist, was eine ganz bestimmte Truppeneinheit bedeutet, die aus zwei oder höchstens drei Brigaden besteht. Indes gelang es den Franzosen, den Mont Mesly zu erobern und mit ihm die Dörfer an seinem Fuße, und wenn sie ihn hätten halten und mit Gräben versehen können, so würden sie ein Ergebnis erzielt haben, das den Kampf des Tages wert gewesen wäre. Aber es kamen Ver- |195| stärkungen in Gestalt preußischer Truppen vom II. Korps heran, nämlich die 7. Brigade; die verlorenen Stellungen wurden zurückerobert und die Franzosen unter den Schutz des Forts de Charenton zurückgetrieben.

Weiter zu ihrer Linken versuchten die Franzosen den zweiten Angriff. Durch das Feuer der Redoute de la Faisanderie und des Forts de Nogent geschützt, überschritten sie die Marne an der oberen Krümmung des S und nahmen die Dörfer Brie und Champigny, die an den beiden offenen Enden liegen. Die eigentliche Stellung der 1. württembergischen Brigade, die diesen Abschnitt hielt, lag ein wenig im Hintergrund, am Rande der Anhöhe, die sich von Villiers nach Cœuilly erstreckt. Ob die Franzosen jemals Villiers nahmen, ist zweifelhaft; König Wilhelm bejaht, General Obernitz verneint es. Gewiß ist, daß sie es nicht hielten und daß der Vormarsch jenseits des unmittelbaren Feuerbereichs der Forts zürückgeschlagen wurde.

Das Ergebnis dieses Kampftags von Ducrots Armee, die "mit dem Rücken gegen die Marne", das heißt südlich von ihr, kämpfte, wird in der französischen offiziellen Depesche folgendermaßen zusammengefaßt:

"Die Armee überschritt dann die Marne auf acht Brücken und behauptete die genommenen Stellungen, nachdem sie zwei Geschütze erbeutet hatte."

Das heißt, sie zog sich wieder auf das rechte oder nördliche Ufer der Marne zurück, wo sie einige Stellungen "behauptete", die natürlich von ihr "genommen", aber nicht dem Feinde entrissen wurden. Offenbar sind die Leute, die Bulletins für Gambetta fabrizieren, noch dieselben, die diese Arbeit für Napoleon verrichteten.

Am 1. Dezember gaben die Franzosen einen weiteren Beweis, daß sie den Ausfall als abgeschlagen betrachteten. Obgleich der "Moniteur" meldete, an diesem Tage solle auf der Südseite unter dem Kommando des Generals Vinoy ein Angriff unternommen werden, hören wir aus Versailles unter dem 1. Dezember (die Tageszeit ist nicht angegeben), an diesem Tage hätten die Franzosen keine Bewegung gemacht, sondern im Gegenteil um eine Waffenruhe gebeten, um die Toten und Verwundeten auf dem Schlachtfeld zwischen den Stellungen beider Armeen zu bergen. Hätten sie ihre Stellung als aussichtsreich zur Wiedereroberung dieses Schlachtfeldes eingeschätzt, so hätten sie ohne Zweifel den Kampf sofort erneuert. Es besteht also kein Zweifel, daß dieser erste Ausfall Trochus zurückgeschlagen worden ist, und obendrein von zahlenmäßig bedeutend geringeren Kräften. Wir dürfen annehmen, daß er seine Versuche bald erneuern wird, wissen jedoch zuwenig über die Art, wie dieser erste Versuch durchgeführt wurde, um beurteilen zu können, ob er dann mehr Glück haben wird. Wenn er aber |196| wiederum zurückgetrieben wird, muß das sowohl auf die Truppen wie auf die Bevölkerung von Paris sehr demoralisierend wirken.

In der Zwischenzeit hat sich die Loire-Armee, wie wir erwarteten, wieder gerührt. Die Gefechte bei Loigny und Patay, über die aus Tours berichtet wurde, sind offenbar dieselben, auf die sich ein Telegramm aus München bezieht, dem zufolge von der Tann im Westen von Orléans erfolgreich war. Auch in diesem Fall beanspruchen beide Parteien den Sieg. Wir werden wahrscheinlich in ein oder zwei Tagen mehr aus dieser Gegend hören; da wir über die beiderseitigen Stellungen der Kämpfenden noch im unklaren sind, würde es müßig sein, etwas vorherzusagen.