Die militärische Lage in Frankreich | Inhalt | Über den Krieg XXX
Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 17, 5. Auflage 1973, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 189-192.
Erstellt am 13.12.1998.
1. Korrektur.
["The Pall Mall Gazette" Nr. 1811 vom 2. Dezember 1870]
|189| Der langerwartete Sturm ist endlich losgebrochen. Nach einer längeren Periode des Marschierens und Manövrierens auf beiden Seiten, in denen es nur abwechselnd zu Plänkeleien und Guerillakämpfen kam, ist der Krieg wieder in eine jener kritischen Perioden eingetreten, in denen Schlag auf Schlag folgt. Am 27. November wurde die französische Nordarmee vor Amiens geschlagen. Am 28. wurde ein beträchtlicher Teil der Loire-Armee bei Beaune-la-Rolande vom Prinzen Friedrich Karl geschlagen; am 29. machte Trochu auf der Südseite von Paris einen erfolglosen Ausfall, und am 30. scheint er die Sachsen und Württemberger, die Paris im Nordosten einschließen, mit allen verfügbaren Kräften angegriffen zu haben.
Diese verschiedenen Aktionen sind das Resultat kombinierter Operationen, die, wie wir wiederholt dargelegt haben |Siehe: "Über den Krieg - XXVII" und "Über den Krieg - XXVIII"|, den Franzosen die einzige Aussicht auf Erfolg bieten. Wenn die Nordarmee mit ihren schwächeren Kräften Manteuffels zwei Korps so hätte in Schach halten können, daß er nicht imstande gewesen wäre, den Kronprinzen von Sachsen in seinen Stellungen an der Nordseite von Paris zu verstärken, so wäre diese Armee richtig eingesetzt worden. Aber das war nicht der Fall. Ihr Vorstoß ins offene Feld wurde bald durch zahlenmäßig geringere preußische Kräfte aufgehalten, denn bei Vergleich der verschiedenen Berichte scheint es ganz sicher, daß Manteuffel nur mit einem seiner Korps in diese Schlacht verwickelt war. Die Nordarmee wäre besser eingesetzt worden, wenn man entweder ihre Feldtruppen mit der Eisenbahn nach Süden, in die Gegend von Le Mans, gesandt hätte oder wenn sie Manteuffels Vorposten und Detachements dauernd belästigt, aber jede Schlacht vermieden hätte, ausgenommen |190| einen Kampf unter den Wällen einer der zahlreichen Festungen im Norden, die ihre Operationsbasis bilden. Aber bei der jetzigen Lage Frankreichs und in Anbetracht der jungen Soldaten, aus denen sich seine Armeen zusammensetzen, kann ein General nicht immer den Rückzug antreten, selbst wenn dieser strategisch notwendig ist; solch ein Rückzug würde seine Truppen wahrscheinlich mehr demoralisieren als eine vollständige Niederlage. Gegenwärtig findet die Nordarmee in ihren Festungen einen sicheren Zufluchtsort und kann sich dort neu formieren; Moltke würde es schwerlich passen, ihr gerade jetzt Manteuffel dahin nachzuschicken. Aber gleichzeitig ist Manteuffel nun frei, sich in beliebiger Richtung zu bewegen, und wenn er, wie aus Lille berichtet wurde (obgleich der Bericht dementiert worden ist), Amiens wieder verlassen und sich in Eile nach Paris gewendet hat, so müssen wir feststellen, daß die Nordarmee ihre Aufgabe nicht erfüllt hat.
Im Westen haben das XXI. französische Korps bei Le Mans und das XXII. Korps (früher unter Keratry) im Lager von Conlie insofern Erfolg gehabt, als sie die Truppen des Großherzogs von Mecklenburg weit von Paris weggezogen haben, ohne sich selbst einer ernsten Niederlage aus zusetzen. Unsere Vermutung, diese deutschen Truppen seien fast zu weit vorgestoßen, scheint sich aus den übereinstimmenden französischen Berichten zu bestätigen, wonach die Preußen die Positionen, die sie kürzlich östlich und südöstlich von Le Mans eingenommen hatten, wieder geräumt haben und daß diese von den Franzosen erneut besetzt wurden. Letztere scheinen jedoch ihre regulären Truppen nicht zu einer energischen Verfolgung des Feindes genutzt zu haben, denn wir hören von keinem bedeutenden Gefecht; somit ist es der Westarmee ebensowenig wie der Nordarmee gelungen, die ihnen gegenüberstehenden Truppen festzuhalten. Wo sie ist und was sie tut, haben wir nicht erfahren; möglicherweise hat der plötzliche Streit zwischen Keratry und Gambetta ihre Bewegungen gerade im entscheidenden Augenblick gelähmt. Wie dem auch sei, wenn sie die Truppen des Großherzogs von Mecklenburg weder schlagen noch festhalten konnte, so wäre es klüger gewesen, man hätte den Teil der Truppen, der für einen Feldzug ausgerüstet und organisiert war, mit der Bahn zur Loire-Armee gesandt, um den Hauptangriff mit massierten Kräften durchzuführen.
Diesen Hauptangriff konnte nur die Loire-Armee unternehmen, die den Hauptteil aller jetzt im Felde stehenden französischen Truppen umfaßt, und er konnte sich nur gegen den Prinzen Friedrich Karl richten, denn dessen Armee ist die zahlenmäßig stärkste der drei Armeen, welche die Ein- |191| Schließung von Paris decken. Wie berichtet wird, besteht die Loire-Armee aus dem XV., XVI., XVII. und XIX. französischen Korps, die einige Zeit vor Orléans gestanden haben, sowie dem XVIII. (jetzt unter Bourbaki) und dem XX. Korps in Reserve hinter der Loire. Da sowohl das XVIII. wie das XX. Korps am 28. November ganz oder teilweise gekämpft haben, müssen sie schon vordem die Loire überschritten haben, so daß diese sechs Korps sämtlich für einen Angriff auf die deutsche Zweite Armee verfügbar gewesen wären. Ein französisches Korps hat sich während dieses Krieges stets aus drei oder vier Infanteriedivisionen zusammengesetzt. Laut einer Ordre de bataille, die die Wiener Militärzeitung "Der Kamerad" vor etwa vierzehn Tagen veröffentlichte, zählte das XV. Korps fünf Brigaden in zwei Divisionen, das XVI. vier Brigaden in zwei Divisionen, das XVIII. zehn Brigaden in drei Divisionen. Selbst wenn wir dem Bericht des "Journal de Bruxelles", der der Loire-Armee die volle Stärke von achtzehn Infanteriedivisionen (oder drei je Korps) gibt, nicht folgen, weil ein beträchtlicher Teil davon noch im Prozeß der Formierung begriffen sein muß, so besteht doch kein Zweifel, daß man den Angriff am 28. mit zwölf bis fünfzehn Divisionen statt mit höchstens fünf oder sechs hätte unternehmen können. Es ist kennzeichnend für die Truppen der Loire-Armee, daß sie von einer zahlenmäßig weit geringeren Truppenmacht geschlagen wurden; nur drei Infanteriedivisionen (zwei vom X. Korps und die 5.), das heißt, weniger als die Hälfte der deutschen Zweiten Armee, haben gegen sie gekämpft. Ihre Niederlage muß jedoch sehr schwer gewesen sein. Das lassen nicht nur die deutschen Berichte durchblicken, sondern es geht auch aus der Tatsache hervor, daß die Loire-Armee seitdem keinen neuen Angriff mit massierteren Kräften versucht hat.
Aus diesen verschiedenen Unternehmungen ergibt sich, daß der Versuch, Paris von außen zu befreien, für den Augenblick fehlgeschlagen ist. Er schlug fehl, erstens weil man die unschätzbaren Chancen der Woche vor der Ankunft der deutschen Ersten und Zweiten Armee ungenützt vorüber gehen ließ, zweitens weil dann, als man losschlug, die Angriffe ohne die nötige Energie und Konzentration der Kräfte ausgeführt wurden. Die jungen Truppen, aus denen sich die neuen französischen Armeen zusammensetzen, können nicht sogleich mit einem Erfolg im Kampf gegen die erfahrenen Soldaten der Gegenseite rechnen, falls sie nicht im Verhältnis von zwei zu eins stehen; es ist deshalb doppelt falsch, sie aufs Schlachtfeld zu führen, wenn man nicht dafür gesorgt hat, daß jeder Mann, jedes Pferd und jedes Geschütz, das man auftreiben kann, wirklich ins Gefecht geschickt wird.
|192| Andererseits erwarten wir nicht, daß die Niederlagen von Amiens und Beaune-la-Rolande noch eine andere Wirkung von Bedeutung haben werden als die, den Entsatz von Paris zu vereiteln. Die Rückzugslinien der West- und der Loire-Armee sind vollkommen sicher, wenn keine besonders groben Fehler gemacht werden. Der weitaus gröbere Teil beider Armeen hat an der Niederlage keinen Anteil gehabt. Wie weit die ihnen gegenüberstehenden deutschen Truppen sie verfolgen können, hängt von der Stärke des Volkswiderstands und des Guerillakriegs ab - also von Tatsachen, die die Preußen überall, wo sie hinkommen, mit einem besonderen Geschick hervorrufen. Es ist nicht zu befürchten, daß es Prinz Friedrich Karl möglich sein wird, jetzt ebenso widerstandslos von Orleans nach Bordeaux zu marschieren, wie der Kronprinz von Metz nach Reims marschierte. Bei der großen Ausdehnung des Gebiets, das jetzt verläßlich besetzt werden muß, bevor ein weiteres Vorrücken nach Süden (anders als nur mit großen fliegen den Kolonnen) möglich wird, werden die sieben Divisionen des Prinzen Friedrich Karl bald weit und breit zerstreut und ihre Kräfte, die sie zum Vordringen benötigen, völlig verausgabt sein. Was Frankreich braucht, ist Zeit; und nachdem der Geist des Volkswiderstands einmal erwacht ist, kann es diese Zeit noch gewinnen. Die während der letzten drei Monate betriebenen Kriegsrüstungen müssen sich überall ihrer Vollendung nähern, und der Zuwachs an Kämpfern, wie ihn jede einzelne Woche neu zur Verfügung stellt, muß eine Zeitlang beständig steigen.
Was die zwei Ausfälle aus Paris anbetrifft, so sind die Nachrichten bis zu dem Augenblick, da wir dies niederschreiben, zu widersprechend und zu unbestimmt, als daß wir uns eine bestimmte Meinung bilden könnten. Nach Trochus eigener Darstellung sieht es indes so aus, als seien die bis zum Abend des November erzielten Ergebnisse durchaus nicht derart gewesen, daß sie das in Tours erhobene laute Siegesgeschrei rechtfertigten. Die Punkte, die von den Franzosen südlich der Marne noch gehalten werden, sind alle durch das Feuer der Pariser Forts geschützt; und den einzigen Platz, den sie eine Zeitlang außerhalb der Reichweite dieser Forts gehalten haben - Mont Mesly - haben sie wieder aufgeben müssen. Es ist mehr als wahrscheinlich, daß gestern die Kämpfe vor Paris und heute vielleicht in der Nähe von Orleans und Le Mans wieder aufgenommen worden sind. Auf jeden Fall muß sich in ganz wenigen Tagen diese zweite Krise des Krieges entscheiden, die aller Wahrscheinlichkeit nach für das Schicksal von Paris bestimmend sein wird.