Befestigte Hauptstädte | Inhalt | Die militärische Lage in Frankreich

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 17, 5. Auflage 1973, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 180-183.

Erstellt am 13.12.1998.
1. Korrektur.

Friedrich Engels

Über den Krieg - XXVIII


"The Pall Mall Gazette" Nr. 1803 vom 23. November 1870]

|180| Wenn es für Paris je eine Aussicht auf Entsatz gab, so während der letzten acht Tage. Ein entschlossenes Vorrücken der Loire-Armee, verstärkt durch alle Truppen, die aus dem Osten Frankreichs aufgebracht werden, konnten, gegen die Beobachtungsarmee des Großherzogs von Mecklenburg, zusammen mit einem Ausfall en masse von Trochus sämtlichen disziplinierten Truppen - beide Angriffe gleichzeitig ausgeführt und bevor Prinz Friedrich Karl mit der Zweiten Armee zur Unterstützung herankommen konnte -, das war der einzige Plan, der Erfolg versprach. Und wenn wir uns die Gegenmaßnahmen der Deutschen ansehen, so müssen wir folgern, daß größere Erfolgsaussichten vorhanden waren, als auf den ersten Blick zu erwarten war.

In der letzten Woche lagen siebzehn deutsche Infanteriedivisionen vor Paris, einschließlich der württembergischen, die ihre Stellung zwischen Seine und Marne nicht verlassen hatte, wie zuerst irrtümlich berichtet worden war. Die Beobachtungsarmee unter dem Großherzog von Mecklenburg zählte zwei norddeutsche und zwei bayrische Divisionen, außerdem Kavallerie. Nach der Schlacht von Coulmiers marschierte d'Aurelle, statt die Bayern energisch zu verfolgen, nach Norden und Westen in Richtung auf Chartres, wo wir ihn für den Augenblick aus den Augen verloren. Die Deutschen folgten dieser Bewegung durch einen Wechsel ihrer Front nach Westen; von der Tanns Bayern hielten die Gegend von Etampes bis Ablis, während die 17. und die 22. Division nach Chartres und Dreux marschierten. Dreux ist inzwischen von französischen Truppen wieder besetzt worden; es wurde vermutet, daß d'Aurelle, verstärkt durch Keratry und andere Kräfte, versuchen wird, die Beobachtungsarmee zu umgehen und gegen die Armee, die Paris blockiert, überraschend vorzustoßen. Diesen |181| Versuch nahm Graf Moltke so ernst, daß er sogleich die nächsten Truppen, nämlich Teile des V. und XII. Korps, zur Unterstützung des Großherzogs von Mecklenburg entsandte, und dem II. bayrischen und dem VI. norddeutschen Korps, der 21. und der württembergischen Division Befehl gab, sich ebenfalls in Bereitschaft zu halten, um auf Abruf nach Süden zu marschieren. Die schon abgesandten Verstärkungen ermöglichten es dem Großherzog von Mecklenburg, Dreux am 17. November wieder zu nehmen und am 18. den Feind über Châteauneuf hinaus zu verfolgen. Welche französischen Truppen hier geschlagen wurden, ist schwer zu sagen. Es mögen Teile der Loire-Armee gewesen sein, aber es war sicher nicht die Loire-Armee selbst. Seitdem haben wir über weitere französische Bewegungen keinerlei Nachrichten erhalten. Unterdessen verrinnt die Zeit, Prinz Friedrich Karl rückt immer näher und dürfte jetzt dem linken Flügel des Großherzogs von Mecklenburg bereits so nahe sein, daß er Unterstützung leisten kann.

Es ist kaum daran zu zweifeln, daß die Franzosen eine ausgezeichnete Gelegenheit versäumt haben. Das Vorrücken der Loire-Armee machte einen so starken Eindruck auf Moltke, daß er ohne einen Augenblick des Zögerns Anordnungen traf, die, wenn ihre Ausführung nötig geworden wäre, nichts geringeres als die Aufhebung der Einschließung von Paris bedeutet hätten. Die Teile des V. und XII. Armeekorps, die nach Dreux vorrückten, wollen wir höchstens mit je einer Brigade ansetzen, zusammen eine Division; aber außer diesen war zwei bayrischen und drei norddeutschen Divisionen sowie der württembergischen Division befohlen worden, sich bereitzuhalten, auf Abruf gegen d'Aurelle zu marschieren. Demnach sollten von den siebzehn Divisionen vor Paris im Ernstfall wenigstens sieben gegen die Entsatzarmee marschieren, und zwar gerade die sieben, die das Gebiet südlich von Paris besetzt hielten. Der Kronprinz hätte nur das II. und den größeren Teil des V. Armeekorps behalten, um das ausgedehnte Gelände von der Seine bei Choisy über Versailles bis St. Germain zu bewachen, während die Garde, das IV. und der größere Teil des XII. Korps die ganze nördliche Linie von St. Germain über Gonesse und St. Brice, über die Marne hinweg, zurück bis zur Seine oberhalb von Paris zu halten gehabt hätten. Demnach hätten zehn Infanteriedivisionen eine Einschließungslinie von vierzig Meilen oder jede Division vier Meilen zu halten gehabt. Eine so weitläufige Verteilung der Truppen hätte die Einschließung zu einer bloßen Beobachtungslinie gemacht; und Trochu hätte, mit acht Divisionen unter Ducrot und weiteren sieben Divisionen seiner Dritten Armee unter seinem eigenen unmittelbaren Kommando, seine Gegner an jedem Punkt, der, er für einen Angriff wählte, mit wenigstens dreifacher Übermacht treffen können. Bei einer solchen |182| Überlegenheit hätte ihm der Sieg sicher sein müssen. Er hätte die Linie der Deutschen durchbrechen, ihre Belagerungsparks, Munitionslager und Vorräte an sich bringen oder zerstören und ihnen solche Verluste an Menschen zufügen können, daß ein fester Einschließungsring um Paris, geschweige denn eine Belagerung, für die nächste Zeit unmöglich geworden wäre.

Bis jetzt haben wir nur Trochus Aussichten betrachtet, unabhängig von denen der Loire-Armee, Es ist so gut wie sicher, daß diese den elf deutschen Divisionen, die ihr entgegentreten sollten, dann nicht gewachsen gewesen wäre, wenn diese elf Divisionen geschlossen aufgetreten wären. Aber die Aussichten sprachen sehr gegen diese Möglichkeit. Höchstwahrscheinlich hätte ein kühner und schneller Angriff d'Aurelles, zusammen mit einem gleichzeitigen großen Ausfall Trochus, Moltkes Pläne in Unordnung gebracht. Keines der Korps, die Trochu gerade angegriffen hätte, wäre für einen Marsch gegen d'Aurelle verfügbar gewesen. So wäre es eine Sache des Zufalls gewesen, welcher der beiden französischen Befehlshaber gegen den Hauptteil der Deutschen zu kämpfen gehabt hätte; aber bestehen bleibt die Tatsache, daß ihre Kräfte zusammen allen deutschen Kräften, die gegen sie hätten aufgebracht werden können, zahlenmäßig weit überlegen gewesen wären. Die Entfernung von Paris nach Dreux beträgt weniger als fünfzig Meilen. Ein gleichzeitiger Angriff auf die Deutschen von beiden Seiten und mit allen verfügbaren Kräften würde aller Wahrscheinlichkeit nach einige ihrer Divisionen auf dem Marsch zwischen den beiden Endpunkten betroffen haben, so daß diese nicht sofort verfügbar gewesen wären. Wenn der Angriff wirklich gleichzeitig durchgeführt worden wäre, so wäre eine fast erdrückende zahlenmäßige Überlegenheit auf französischer Seite, entweder auf dem Endpunkt in Dreux oder auf dem bei Paris absolut gewiß und demnach mindestens ein Sieg fast sicher gewesen. Wir wissen sehr gut, daß mit kombinierten Bewegungen große Hindernisse und Schwierigkeiten verknüpft sind und wie oft sie mißlingen. Aber in diesem Fall sollte beachtet werden, daß keine andere Bedingung für den Erfolg nötig gewesen wäre, als beide Angriffe zu genau derselben Zeit vorzunehmen. Ferner ist es klar, daß bei einer Entfernung von vierzig Meilen von der einen Armee zur anderen auch die Preußen ihre Bewegungen hätten kombinieren müssen.

Es ist unmöglich zu erklären, warum weder d'Aurelle noch Trochu etwas unternahmen, um den sich darbietendem Vorteil zu nutzen. Die unbedeutenden Gefechte bei Dreux und Châteauneuf waren gewiß nicht dazu an getan, die Loire-Armee zurückzutreiben; es waren daran nicht mehr als drei deutsche Divisionen beteiligt, während die Loire-Armee wenigstens acht zählt. Ob d'Aurelle weitere Verstärkungen abwartet, ob seine Brieftauben- |183| botschaften verlorengingen, ob Differenzen zwischen ihm und Trochu bestehen, können wir nicht sagen. Wie dem auch sei, für ihre Sache ist die Verzögerung verhängnisvoll. Prinz Friedrich Karl setzt seinen Marsch fort und dürfte inzwischen der Armee des Großherzogs von Mecklenburg so nahe sein, daß er mit ihr zusammen operieren und die sechs vor Paris liegenden Divisionen entbehren kann. Von dem Tage an, da dies eintritt, werden die beiden französischen Generale wiederum eine Siegesaussicht verloren haben, die vielleicht ihre letzte war.