Preußische Franktireurs | Inhalt | Über den Krieg - XXXII

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 17, 5. Auflage 1973, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 208-213.

Erstellt am 13.12.1998.
1. Korrektur.

Friedrich Engels

Über den Krieg - XXXI


["The Pall Mall Gazette" Nr. 1824 vom 17. Dezember 1870]

|208| Die Loire-Kampagne scheint zu einem vorübergehenden Stillstand gekommen zu sein, der uns Zeit gibt, die Berichte und Daten zu vergleichen und aus dem sehr verworrenen und widersprüchlichen Material ein klares Bild der wirklichen Ereignisse zu formen, soweit das unter den gegebenen Umständen möglich ist.

Als festumrissener Truppenkörper besteht die Loire-Armee seit dem 15. November, als d'Aurelle de Paladines, bis dahin Befehlshaber des XV. und XVI. Korps, den Oberbefehl über die unter diesem Namen neu formierte Armee erhielt. Welche anderen Truppen zu jener Zeit noch zu ihrem Bestand gehörten, können wir nicht sagen. Tatsache ist, daß diese Armee laufend Verstärkungen erhielt, wenigstens bis Ende November, als sie sich nominell aus folgenden Korps zusammensetzte: dem XV. (Pallières), XVI. (Chanzy), XVII. (Sonis), XVIlI. (Bourbaki), XIX. (Barral, nach preußischen Angaben) und XX. (Crouzat). Von diesen erschien das XIX. Korps niemals in den französischen oder den preußischen Berichten, so daß wir annehmen können, daß es nicht eingesetzt wurde. Außer diesen Korps waren bei Le Mans und dem benachbarten Lager von Conlie das XXI. Armeekorps (Jaurès) und die Bretagne-Armee, die nach Keratrys Rücktritt dem Kommando von Jaurès unterstellt wurde. Ein XXII. Korps, fügen wir hinzu, kommandiert General Faidherbe im Norden, mit Lille als Operationsbasis. In dieser Zusammenstellung haben wir noch General Michels Kavalleriekorps, das der Loire-Armee zugeteilt wurde, ausgelassen; diese Reiterei, obwohl sie sehr zahlreich sein soll, kann wegen ihrer erst kürzlichen Formierung und weil ihre Leute unausgebildet sind, nicht anders denn als freiwillige oder Amateurkavallerie bezeichnet werden.

|209| Die Elemente, aus denen sich die Loire-Armee zusammensetzte, waren von der verschiedensten Art: von gedienten Soldaten, die wieder eingezogen worden waren, bis zu unausgebildeten Rekruten und Freiwilligen, denen es an jeglicher Disziplin mangelte; von festgefügten Bataillonen, wie den päpstlichen Zuaven, bis zu Haufen, die nur dem Namen nach Bataillone waren. Eine gewisse Disziplin war zwar hergestellt worden, aber die Armee insgesamt trug noch den Stempel der großen Eile, mit der ihre Formierung vorgenommen worden war. "Hätte diese Armee noch vier Wochen Zeit zu ihrer Ausbildung erhalten, so hätte sie uns ein gefährlicher Gegner werden können", sagten die deutschen Offiziere, die sie auf dem Schlachtfeld kennengelernt hatten. Wenn wir alle unausgebildeten Rekruten, die nur im Wege waren, abziehen, können wir alles in allem d'Aurelles fünf kampffähige Korps (unter Weglassung des XIX.) wenigstens mit 120.000 bis 130.000 Mann ansetzen, die man als Kämpfer bezeichnen kann. Die Truppen in Le Mans dürften weitere 40.000 Mann ausmachen.

Diesen steht die Armee des Prinzen Friedrich Karl, einschließlich der Truppen des Großherzogs von Mecklenburg, gegenüber; wie wir jetzt über Hauptmann Hozier hören, zählt sie - alles in allem - wahrscheinlich weniger als 90.000 Mann. Aber diese 90.000 Mann waren durch ihre Kriegserfahrung, ihre Organisation und die erprobte Feldherrnkunst ihrer Führer durchaus fähig, mit doppelt soviel Truppen von der Art, wie sie ihnen gegenüberstanden, den Kampf aufzunehmen. So sind die Aussichten fast gleich, eine Tatsache, die dem französischen Volk, das diese neue Armee in drei Monaten aus dem Nichts schuf, alle Ehre macht.

Die Kampagne begann auf französischer Seite mit dem Angriff auf von der Tann bei Coulmiers und der Wiedereroberung von Orléans am 9. November; es folgten der Marsch des Großherzogs von Mecklenburg zur Unterstützung von der Tanns und das Manöver d'Aurelles in der Richtung auf Dreux, das die gesamten Streitkräfte des Großherzogs von Mecklenburg in diese Richtung abzog und ihn veranlaßte, auf Le Mans zu marschieren. Dieser Marsch wurde von französischen irregulären Truppen in einem Grade behindert, wie er bis dahin in diesem Kriege unbekannt gewesen war. Die Bevölkerung leistete den entschlossensten Widerstand, Franktireurs umkreisten die Flanken der Eindringlinge, aber die regulären Truppen selbst beschränkten sich auf Demonstrationen und konnten nicht zum Kampf gestellt werden. Die Briefe der deutschen Korrespondenten bei Mecklenburgs Armee, ihre Wut und Empörung über diese verruchten Franzosen, die sich beharrlich einer Kampfweise bedienen, die ihnen selbst höchst gelegen, den Preußen aber höchst ungelegen ist, sind der beste |210| Beweis dafür, daß jene kurze Kampagne um Le Mans von der Verteidigung außerordentlich gut geführt worden ist. Die Franzosen verführten den Großherzog von Mecklenburg zu einer völlig unnützen Verfolgung einer unsichtbaren Armee und lockten ihn ungefähr 25 Meilen von Le Mans weg. Als er so weit gelangt war, zögerte er weiterzugehen und wandte sich nach Süden. Der ursprüngliche Plan war augenscheinlich gewesen, einen vernichtenden Schlag gegen die Armee von Le Mans zu führen, sich dann südlich nach Blois zu wenden und den linken Flügel der Loire-Armee zu umgehen, während Friedrich Karl gerade dann eintreffen und sie von vorn und im Rücken angreifen sollte. Aber dieser Plan, wie auch mancher andere seither, ist mißglückt. D'Aurelle überließ den Mecklenburger seinem Schicksal, marschierte gegen Friedrich Karl und griff das X. preußische Korps am 24. November bei Ladon und Maizières an und ebenso einen großen Truppenkörper der Preußen am 28. November in Beaune-la-Rolande. Es ist klar, daß er hier seine Truppen schlecht ansetzte. Obgleich es sein erster Versuch war, die preußische Armee zu durchbrechen und den Weg nach Paris zu erzwingen, hatte er nur einen kleinen Teil seiner Truppen in Bereitschaft. Alles, was er machen konnte, war, dem Feinde Respekt vor seinen Truppen einzuflößen. Er zog sich in befestigte Positionen vor Orléans zurück, wo er alle seine Truppen konzentrierte. Diese stellte er, von rechts nach links, wie folgt auf: das XVIII. Korps auf der äußersten Rechten, dann das XX. und XV. östlich der Eisenbahnlinie Paris - Orléans; westlich davon das XVI. und auf der äußersten Linken das XVII. Wären diese Truppen alle zur rechten Zeit zusammengezogen worden, so besteht kaum ein Zweifel daran, daß sie Friedrich Karls Armee, die weniger als 50.000 Mann umfaßte, geschlagen hätten. Aber während d'Aurelle sich in befestigten Positionen einrichtete, war der Großherzog von Mecklenburg wieder nach Süden marschiert und hatte den rechten Flügel seines Vetters erreicht, der jetzt das Oberkommando übernahm. So waren die 40.000 Mann des Großherzogs von Mecklenburg herangekommen, um sich an dem Angriff gegen d'Aurelle zu beteiligen, während die französische Armee von Le Mans, zufrieden mit ihrem Ruhm, ihren Gegner "zurückgeschlagen" zu haben, ruhig in ihren Quartieren blieb, etwa sechzig Meilen von dem Punkt entfernt, wo die Kampagne entschieden wurde.

Da kam ganz plötzlich die Nachricht von Trochus Ausfall am 30. November. Zu seiner Unterstützung mußte man erneut eine Anstrengung machen. Am 1. Dezember begann d'Aurelle einen allgemeinen Vormarsch gegen die Preußen; aber es war zu spät. Während die Deutschen ihm mit allen Kräften entgegentraten, scheint sein XVIII. Korps - auf der äußer- |211| sten Rechten - in falsche Richtung ausgesandt und überhaupt nicht in Gefechte verwickelt worden zu sein. So kämpfte er mit nur vier Korps, also mit einer zahlenmäßigen Stärke (die eigentlichen Kämpfer gerechnet), die wahrscheinlich der seiner Gegner nur wenig überlegen war. Er wurde geschlagen; er scheint sich sogar geschlagen gefühlt zu haben, bevor er es tatsächlich war. Daher die Unentschlossenheit, die er zeigte: Nachdem er am Abend des 3. Dezember den Rückzug über die Loire befohlen hatte, widerrief er dies am nächsten Morgen und beschloß, Orléans zu verteidigen. Das Ergebnis war wie üblich: order - counterorder - disorder |Anordnung - Gegenanordnung - Unordnung|. Während sich der preußische Angriff auf seinen linken Flügel und das Zentrum konzentrierte, verloren seine beiden rechten Korps, anscheinend infolge der erhaltenen widersprechenden Befehle, ihre Rückzugslinie auf Orléans und mußten den Fluß überschreiten - das XX. Korps bei Jargeau, XVIII. Korps weiter östlich, bei Sully. Ein kleiner Teil des letzteren scheint noch weiter östlich abgetrieben worden zu sein, da es von dem III. preußischen Korps am 7. Dezember in Nevoy bei Gien gestellt und von da an in Richtung auf Briare, immer auf dem rechten Loire-Ufer entlang, verfolgt wurde. Orléans war am 4. in die Hände der Deutschen gefallen, und die Verfolgung der Franzosen wurde sogleich organisiert. Während das III. Korps den Oberlauf der Loire auf dem rechten Ufer entlangmarschieren sollte, wurden das X. Korps nach Vierzon und die Truppen Großherzogs von Mecklenburg auf dem rechten Ufer nach Blois gesandt. Bevor diese Blois erreicht hatten, stießen sie in Beaugency auf zumindest einen Teil der Armee von Le Mans, die sich jetzt endlich mit Chanzys Streitkräften vereint hatte und einen hartnäckigen und teilweise erfolgreichen Widerstand leistete. Aber der wurde bald gebrochen, denn das IX. preußische Korps marschierte auf dem linken Flußufer nach Blois, wo es Chanzys Rückzug nach Tours abgeschnitten haben würde. Dieses Manöver tat seine Wirkung. Chanzy machte sich aus dem Staube, und Blois fiel in die Hände der Angreifer. Das Tauwetter und die heftigen Regengüsse dieser Tage weichten die Wege auf, und so stockte die weitere Verfolgung.

Prinz Friedrich Karl hat an das Hauptquartier telegraphiert, die Loire-Armee sei in alle Richtungen versprengt, ihr Zentrum sei zerbrochen und als Armee habe sie zu existieren aufgehört. All das klingt gut, ist aber weit davon entfernt, wahr zu sein. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, sogar nach deutschen Berichten, daß die 77 Geschütze, die vor Orléans erbeutet |212| wurden, fast sämtlich Schiffsgeschütze waren, die in den Verschanzungen zurückgelassen worden waren. Es mögen 10.000 und einschließlich der Verwundeten 14.000 Gefangene gemacht worden sein, wovon die meisten sehr demoralisiert waren; aber der Zustand der Bayern, die sich am 5. Dezember auf der Straße von Artenay nach Chartres drängten - völlig desorganisiert, ohne Waffen und Tornister -, war nicht viel besser. Während der Verfolgung am und nach dem 5. Dezember ist überhaupt keine Beute gemacht worden; und wenn sich eine Armee aufgelöst hat, kann es nicht ausbleiben, daß ihre Soldaten von einer leistungsfähigen und zahlreichen Kavallerie, wie sie die Preußen bekanntlich besitzen, in Massen als Gefangene eingebracht werden. Da liegt eine sehr große Ungenauigkeit vor, um es milde aus zudrücken. Das Tauwetter ist keine Entschuldigung: es setzte etwa am 9. ein, während zuvor bei hartgefrorenen Wegen und Feldern für eine aktive Verfolgung vier oder fünf Tage Zeit gewesen wäre. Es ist nicht so sehr das Tauwetter, was das Vorrücken der Preußen hemmt; es ist vielmehr die Erkenntnis, daß die Kraft dieser 90.000 Mann, die sich inzwischen durch Verluste und zurückgelassene Besatzungen auf etwa 60.000 Mann vermindert haben, nahezu verbraucht ist. Der Punkt, über den hinaus es unklug erscheint, selbst einen geschlagenen Feind zu verfolgen, ist beinahe erreicht. Vielleicht werden noch in größerem Maßstab Streifzüge nach Süden unternommen, aber es dürfte kaum zu weiterer Besetzung neuen Territoriums kommen. Die Loire-Armee, die jetzt in zwei Armeen unter Bourbaki und Chanzy geteilt ist, wird Zeit und Raum genug finden, sich wieder zu formieren und neuformierte Bataillone heranzuziehen. Durch ihre Teilung hat sie zwar aufgehört, als Armee zu bestehen; aber sie ist in diesem Kriege die erste französische Armee, die das nicht unrühmlich getan hat. Wir werden wahrscheinlich von ihren zwei Nachfolge-Armeen wieder hören.

Inzwischen zeigt Preußen Anzeichen von Erschöpfung. Die Landwehrmänner bis zu 40 Jahren und darüber - gesetzlich nach ihrem 32. Lebensjahr nicht mehr militärdienstpflichtig - sind jetzt einberufen worden. Die ausgebildeten Reserven des Landes sind erschöpft. Im Januar werden Rekruten - aus Norddeutschland etwa 90.000 Mann - nach Frankreich gesandt werden. Das kann alles in allem die 150.000 Mann ergeben, von denen wir jetzt soviel hören, aber sie sind noch nicht da; und wenn sie wirklich kommen, werden sie den Charakter der Armee wesentlich verändern. Die Verluste des Feldzugs sind schrecklich gewesen und werden täglich schrecklicher. Der melancholische Ton der Briefe aus der Armee zeigt das ebenso wie die Verlustlisten. Es sind nicht mehr die Verluste bei |213| großen Schlachten, die den Hauptteil dieser Listen ausmachen; es sind die Verluste bei den kleinen Zusammenstößen, wo ein, zwei, fünf Mann niedergeschossen werden. Dies stete Nagen der Wogen des Volkswiderstands unterhöhlt auf die Dauer die stärkste Armee und läßt Stück für Stück von ihr abbröckeln, und zwar, was die Hauptsache ist, ohne den mindesten Ausgleich auf der Gegenseite. Solange Paris aushält, verbessert jeder Tag die Lage der Franzosen, und die Ungeduld in Versailles wegen der Übergabe von Paris zeigt am besten, daß diese Stadt den Belagerern noch gefährlich werden kann.