Das Schicksal von Metz | Inhalt | Saragossa - Paris
Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 17, 5. Auflage 1973, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 141-145.
Erstellt am 13.12.1998.
1. Korrektur.
["The Pall Mall Gazette" Nr. 1775 vom 21. Oktober 1870]
|141| Die Einschließung von Paris dauert jetzt genau einen Monat. Während dieser Zeit sind zwei damit zusammenhängende Fragen unseren Voraussagen entsprechend entschieden worden. Die erste ist, daß Paris nicht auf rechtzeitigen Entsatz durch eine französische Armee von außen hoffen darf. Die Loire-Armee ist äußerst mangelhaft mit Kavallerie und Feldartillerie versorgt, und ihre Infanterie besteht, von ganz geringen Ausnahmen abgesehen, entweder aus jungen oder aus demoralisierten alten Truppen, die schlecht mit Offizieren versehen sind und jenen Zusammenhalt gänzlich vermissen lassen, der sie allein befähigen könnte, in offenem Felde alten, von dauernden Erfolgen berauschten Soldaten entgegenzutreten, wie sie von der Tann gegen sie führt. Wenn die Loire-Armee sogar auf 100.000 oder 120.000 Mann anwachsen würde - und das könnte sie vielleicht, bevor Paris fällt -, so wäre sie nicht imstande, die Einschließung aufzuheben. Dank der großen Überlegenheit an Kavallerie und Feldartillerie, deren größter Teil vor Paris entbehrt werden kann, sobald der Belagerungstrain mit seinen Kanonieren angekommen ist, und dank der Überlegenheit ihrer Infanterie, jedes einzelnen Soldaten, sind die Deutschen imstande, einer Truppe wie der Loire-Armee mit einer zahlenmäßig geringeren Armee ohne Furcht vor dem Ausgang entgegenzutreten. Außerdem könnten in diesem Fall die Truppen, die jetzt das Gebiet östlich und nördlich von Paris fünfzig bis sechzig Meilen weit säubern, zeitweise von der Tann zur Verstärkung geschickt werden, ebenso eine oder zwei Divisionen der Einschließungsarmee. Was die Lyon-Armee anbetrifft, so werden, soweit überhaupt Teile davon greifbar sind, diese gegen General Werders |142| XIV. norddeutsches Korps, das jetzt in Epinal und Vesoul steht, und gegen das XV. Korps, das in seinem Rücken oder in seiner rechten Flanke folgt, reichliche Beschäftigung finden. Die Nordarmee, mit Bourbaki als Befehlshaber, muß erst noch formiert werden. Nach allem, was wir hören, mangelt es der Mobilgarde in der Normandie und Picardie sowohl an Offizieren wie an Ausbildung; und die sedentäre Nationalgarde, vielleicht auch der überwiegende Teil der Mobilgarde, wird als Garnison für die fünfundzwanzig oder mehr Festungen benötigt, die die Gegend zwischen Mézières und Havre sperren. So ist eine wirksame Unterstützung von dieser Seite nicht sehr wahrscheinlich, und Paris wird sich auf sich selbst verlassen müssen.
Die zweite bereits entschiedene Frage ist, daß die Garnison von Paris außerstande ist, in größerem Umfang offensiv tätig zu werden. Sie besteht aus denselben Elementen wie die Truppen außerhalb von Paris und leidet ebenso unter dem Mangel an Kavallerie und Feldartillerie. Die drei Ausfälle vom 19. und 30. September und 13. Oktober haben völlig ihre Unfähigkeit bewiesen, auf die einschließenden Truppen irgendeinen nachhaltigen Eindruck zu machen. Wie die letzteren äußerten, "waren jene niemals imstande, auch nur unsere erste Linie zu durchbrechen". Obgleich General Trochu in der Öffentlichkeit erklärt hat, seine Abgeneigtheit, den Feind im Felde anzugreifen, sei durch den Mangel an Feldartillerie verursacht, und er werde nicht wieder hinausgehen, ehe diese nicht ergänzt sei, so sollte er doch wissen, daß keine Feldartillerie der Welt hätte verhüten können, daß sein erster Ausfall "en masse" in wilder Flucht endete. Ehe seine Feldartillerie bereit sein kann - sofern das mehr als ein bloßer Vorwand sein sollte -, wird das Feuer der deutschen Batterien auf die Forts sowie der bis dahin lückenlose deutsche Einschließungsring ihren Einsatz im offenen Felde unmöglich gemacht haben.
Trochu und sein Stab scheinen das genau zu wissen. Alle ihre Maßnahmen laufen auf rein passive Verteidigung hinaus, ohne mehr große Ausfälle, als notwendig sein mögen, das Murren einer undisziplinierten Garnison zu beschwichtigen. Die Wälle der Forts können den Geschossen der schweren deutschen Geschütze nicht lange standhalten, über die wir später noch sprechen werden. Möglicherweise werden, wie der Generalstab in Berlin hofft, zwei oder drei Tage genügen, die Geschütze auf den Wällen der südlichen Forts zu zerstören, aus der Entfernung und durch indirektes Feuer das Mauerwerk ihrer Böschungen an ein oder zwei Stellen zu durchbrechen und sie dann zu stürmen, während das Feuer der Batterien von den beherrschenden Höhen her jede wirksame Unterstützung aus den rückwärtigen Befestigungswerken verhindert. Weder die Konstruktion der |143| Forts noch die Beschaffenheit des Geländes kann das verhüten. In allen Forts rund um Paris ist die Böschung - das ist die Innenseite des Grabens oder die Außenseite des Walles - mit Mauerwerk nur bis zur Stirnhöhe verkleidet, was allgemein für ungenügend gehalten wird, die Werke vor dem Erklettern zu sichern. Berechtigt war diese Abweichung von der allgemeinen Regel unter der Voraussetzung, daß Paris stets von einer Armee aktiv verteidigt werden würde. Im vorliegenden Fall wird das sogar insofern ein Vorteil sein, als dieses niedrige Mauerwerk von den Batterien aus nicht zu sehen ist und durch indirektes Feuer schwer zu treffen sein wird. So wird das Zerstören der Wälle aus der Entfernung langwieriger sein, sofern nicht die Höhen, auf welchen diese Batterien aufgestellt sind, ein wirklich durchschlagendes Feuer gestatten, was aber nur an Ort und Stelle beurteilt werden kann.
Unter keinen Umständen kann erwartet werden, daß der Widerstand dieser südlichen Forts lange dauern wird, eben weil sie von Höhen beherrscht werden, die innerhalb der wirksamsten Reichweite der schweren gezogenen Artillerie liegen. Aber vor allem unmittelbar hinter ihnen, zwischen den Forts und der Umwallung, hat sich die Aktivität der Garnison entwickelt. Überall sind zahlreiche Erdwälle errichtet worden; und obgleich wir selbstverständlich die näheren Einzelheiten nicht kennen, können wir sicher sein, daß die Erdwälle mit all der Sorgfalt, Vorsicht und Sachkenntnis entworfen und ausgeführt worden sind, die dem französischen Ingenieurkorps seit mehr als zwei Jahrhunderten seinen hohen Rang verschafft haben. Das ist nun augenscheinlich das Kampfgelände, das die Verteidigung ausgewählt hat, ein Gebiet, wo Hohlwege und Hügelabhänge, Dörfer und Fabriken, meist aus Steinen gebaut, das Werk der Pioniere erleichtern und den Widerstand der jungen und nur halbdisziplinierten Truppen begünstigen. Hier, so glauben wir, steht den Deutschen das schwerste Stück Arbeit noch bevor. Aus Berlin werden wir von der "Daily News" informiert, daß die Deutschen mit der Eroberung einiger Forts zufrieden sein und dem Hunger das übrige überlassen werden. Aber wir vermuten, daß sie diese Wahl nicht haben werden, es sei denn, sie sprengen die Forts in die Luft und ziehen sich wieder auf ihre jetzigen, bloß blockierenden Stellungen zurück; wenn sie das aber tun, können die Franzosen allmählich durch Konterapprochen das verlorene Terrain wiedergewinnen. Wir nehmen deshalb an, daß die Deutschen jedes einmal eroberte Fort zu halten beabsichtigen, und zwar als geeignete Geschützstellung, um entweder die Einwohner durch gelegentliche Granaten zu erschrecken, oder um diese Stellung zu einem so intensiven Bombardement |144| zu benutzen, wie es ihnen ihre jetzigen Mittel nur gestatten. In diesem Fall können sie den Kampf, den ihnen die Verteidigung auf dem für diesen Zweck ausgewählten und vorbereiteten Gelände aufdrängt, nicht ablehnen, weil die Forts unter dem massiven und wirksamen Feuer der neuen Werke stehen werden. Hier werden wir vielleicht Zeugen des letzten Kampfes in diesem Kriege sein, der wissenschaftliches Interesse bieten und vielleicht für die Militärwissenschaft der interessanteste von allen sein wird. Hier wird die Verteidigung imstande sein, wieder offensiv zu handeln, wenn auch in kleinerem Maßstabe; und indem sie so daß Gleichgewicht zwischen den kämpfenden Truppen bis zu einem gewissen Grad wiederherstellt, kann sie den Widerstand verlängern, bis der Hunger die Übergabe erzwingt. Denn wir dürfen nicht vergessen, daß bereits seit einem Monat von den Pariser Lebensmittelvorräten gezehrt wird und niemand außerhalb der Stadt weiß, ob Paris für mehr als einen zweiten Monat mit Lebensmitteln versorgt ist.
Es scheint unter den "Sonderberichterstattern" eine große Begriffsverwirrung über die deutschen Belagerungsgeschütze zu herrschen, und das ist durchaus erklärlich, wenn man bedenkt, daß die Benennungen der verschiedenen Kaliber bei den deutschen Artilleristen auf Prinzipien gegründet sind, die mindestens ebenso ungereimt und widersprüchlich sind wie die in England üblichen. Jetzt, da diese schweren Geschütze jeden Tag zu sprechen beginnen können, lohnt es sich vielleicht, diese Dinge etwas zu klären. Von den alten Belagerungsgeschützen wurden vor Straßburg 25- und 50pfündige Mörser benutzt und jetzt nach Paris geschickt; sie werden so genannt wegen des Gewichts einer Marmorkugel, die in ihre Bohrung paßt. Ihre Kaliber sind ungefähr 81/2 bis 83/4 Zoll, und das wirkliche Gewicht der kugelförmigen Geschosse, die sie schleudern, ist für den ersten 64 und für den zweiten 125 Pfund. Dann gab es dort einen gezogenen Mörser, Kaliber 21 Zentimeter oder 81/2 Zoll, der ein Langgeschoß von 20 Zoll Länge und von etwas mehr als 200 Pfund Gewicht schleudert. Diese Mörser haben eine gewaltige Wirkung, nicht nur weil ihre Züge den Geschossen größere Treffsicherheit verleihen, sondern hauptsächlich weil das Langgeschoß mit Aufschlagzünder, da es immer auf seinen Schwerpunkt fällt, wo der Perkussionszünder hervorragt, die Explosion der Ladung im Augenblick des Aufschlags sichert und dadurch in ebendemselben Augenblick die Wirkung des Aufschlags mit der der Explosion vereint. An gezogenen Kanonen gab es 12- und 24pfünder, so genannt wegen des Gewichts der kugelförmigen massiven Eisenbälle, die sie verschossen, ehe ihre Rohre mit Zügen versehen wurden. Ihre Kaliber sind etwa 41/2 und 51/2 Zoll, und die |145| Gewichte ihrer Geschosse betragen 33 und 64 Pfund. Außer diesen sind einige schwere gezogene Geschütze nach Paris gesandt worden, die für gepanzerte Schiffe und für die Küstenverteidigung gegen solche Schiffe bestimmt waren. Die genauen Einzelheiten ihrer Konstruktion sind niemals veröffentlicht worden, aber ihre Kaliber sind etwa 7, 8 und 9 Zoll, und die entsprechenden Geschosse haben ein Gewicht von etwa 120, 200 und 300 Pfund. Die schwersten Geschütze, die in und vor Sewastopol benutzt wurden, waren die englischen 68pfündigen Schiffsgeschütze, die 8 und 10-Zoll-Geschütze und die französischen Geschütze von 83/4 und 12 Zoll, deren schwerstes Geschoß, die zwölfzöllige Kugelgranate, ungefähr 180 Pfund wog. So wird die Belagerung von Paris Sewastopol ebenso übertreffen, wie Sewastopol hinsichtlich Gewicht und Menge der benutzten Geschosse alle früheren Belagerungen übertraf. Der deutsche Belagerungspark, möchten wir noch hinzufügen, wird - unserer früheren Vermutung entsprechend - etwa 400 Geschütze umfassen.