Über den Krieg - XXIII | Inhalt | Über den Krieg - XXIV

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 17, 5. Auflage 1973, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 137-55.

Erstellt am 13.12.1998.
1. Korrektur.

Friedrich Engels

Das Schicksal von Metz


["The Pall Mall Gazette" Nr. 1771 vom 17. Oktober 1870]

|137| Wenn wir den Nachrichten aus Berlin glauben sollen, nimmt der preußische Generalstab offenbar an, daß Paris vor Metz erobert werden wird. Aber diese Meinung stützt sich augenscheinlich ebensosehr auf politische wie auf militärische Argumente. Die Unruhen innerhalb von Paris, auf die Graf Bismarck wartet, haben noch nicht begonnen; aber Uneinigkeit und Bürgerkrieg sind ohne Zweifel zu erwarten, sobald die schweren Belagerungsgeschütze über der Stadt erdröhnen. Bisher haben die Pariser die Meinung, die das deutsche Hauptquartier über sie hegte, Lügen gestraft, und vielleicht tun sie dies bis zum Ende. Wenn dem so ist, wird sich die Ansicht, die Einnahme von Paris werde bis Ende des Monats erfolgen, mit großer Sicherheit als trügerisch erweisen, und Metz wird sich vor Paris ergeben müssen.

Metz als Festung ist unvergleichlich stärker als Paris. Paris ist befestigt worden unter der Voraussetzung, daß sich die ganze geschlagene französische Armee, oder wenigstens ihr größerer Teil, dorthin zurückziehen und die Verteidigung durch fortwährende Angriffe auf den Feind führen werde, der sich durch seine Versuche, den Platz einzuschließen, unvermeidlich an jedem Punkt der langen Linie, die er zu besetzen hat, schwächen würde. Die Widerstandskraft der Befestigungswerke ist deshalb nicht sehr groß, und das ist ganz natürlich. Vorsorge zu treffen für einen Fall, wie er jetzt durch die Fehler der bonaparistischen Strategie eingetreten ist, würde die Kosten der Befestigung zu einer ungeheuren Summe gesteigert haben; die Zeit, um welche dadurch die Verteidigung hätte verlängert werden können, würde kaum vierzehn Tage betragen haben. Überdies vermögen Erdwälle, die während oder vor der Belagerung errichtet werden, die Werke bedeutend zu verstärken. Bei Metz liegen die Dinge ganz anders. Metz wurde der |138| heutigen Generation von Cormontaigne und anderen großen Ingenieuren des vorigen Jahrhunderts als sehr starke Festung hinterlassen - stark in seinen Verteidigungswerken. Das Zweite Kaiserreich hat einen Ring aus sieben mächtigen detachierten Forts im Abstand von 21/2 bis 3 Meilen vom Zentrum der Stadt hinzugefügt, um sie vor einem Bombardement selbst mit gezogenen Geschützen zu sichern und das Ganze in ein weites verschanztes Lager zu verwandeln, das nur Paris nachsteht. Eine Belagerung von Metz würde deshalb eine recht langwierige Operation sein, auch wenn die Stadt nur ihre normale Kriegsgarnison enthielte. Aber eine Belagerung angesichts der 100.000 Mann, die jetzt von ihren Forts beschirmt werden, wäre fast unmöglich. Das Gebiet, in dem die Franzosen noch die Herren sind, erstreckt sich auf volle zwei Meilen über die Befestigungslinie hinaus; sie auf die Befestigungslinie zurückzutreiben, um das Gelände zu erobern, wo die Gräben gezogen werden müßten, würde eine Reihe von Nahkämpfen erfordern, wie man sie nur vor Sewastopol gesehen hat. Angenommen, die Garnison werde durch die dauernden Kämpfe nicht demoralisiert und die Belagerer würden durch die großen Verluste an Menschenleben nicht geschwächt, dann könnte der Kampf noch manchen Monat dauern. Die Deutschen haben deshalb niemals eine reguläre Belagerung versucht, sondern bemühen sich, den Platz auszuhungern. Eine Armee von 100.000 Mann, dazu fast 60.000 Einwohner und zahlreiche Landbevölkerung, die hinter den Forts Schutz gesucht hat, muß früher oder später die Vorräte an Proviant erschöpfen, wenn die Blockade energisch durchgeführt wird; und noch bevor sich das ereignet, ist es sogar wahrscheinlich, daß die Demoralisierung der Besatzung die Übergabe erzwingt. Wenn sich eine Armee erst vollkommen eingeschlossen sieht, wenn alle Versuche, den Einschließungsring zu durchbrechen, fruchtlos bleiben, wenn alle Hoffnung auf Entsatz von außen abgeschnitten ist, wird selbst die beste Armee bei den Leiden, Entbehrungen, Mühen und Gefahren, die keinem anderen Zweck zu dienen scheinen, als die Ehre der Fahne hochzuhalten, allmählich ihre Disziplin und ihren Zusammenhalt verlieren.

Eine Zeitlang haben wir nach Symptomen dieser Demoralisierung vergeblich Ausschau gehalten. Die Proviantvorräte innerhalb der Stadt sind weit beträchtlicher gewesen, als man vermutete, und dadurch war es der Armee von Metz ganz gut gegangen. Aber trotz der Fülle muß die Zusammenstellung der Vorräte schlecht sein, was ganz natürlich ist, weil es nur verirrte Armeelieferungen waren, die zufällig in der Stadt zurückgeblieben und niemals für den Zweck bestimmt waren, dem sie jetzt dienen. Die Folge ist, daß auf die Dauer die Kost der Soldaten nicht nur von der |139| gewohnten abweicht, sondern direkt ungesund wird; sie ruft mit täglich zunehmender Heftigkeit die verschiedensten Erkrankungen hervor, da die Ursachen von Tag zu Tag stärker wirken. Diese Phase der Blockade scheint jetzt erreicht zu sein. Zu den Lebensmitteln, die in Metz knapp sind, gehören Brot, die Hauptnahrung des französischen Bauern, und Salz. Das letztere ist absolut unentbehrlich, um die Gesundheit zu erhalten; und da Brot fast die einzige Form ist, in der die Franzosen Stärke als fettproduzierende Nahrung genießen, gilt dasselbe für das Brot. Die Notwendigkeit, die Soldaten und Einwohner hauptsächlich mit Fleisch zu ernähren, soll Ruhr und Skorbut erzeugt haben. Ohne den Berichten der Überläufer zu sehr zu trauen, welche gewöhnlich das sagen, was ihrer Meinung nach dem Feinde gefällt, möchten wir doch glauben, daß es stimmt, weil es unter den gegebenen Umständen gar nicht anders sein kann. Daß die Wahrscheinlichkeit der Demoralisierung dadurch rasch zunimmt, ist selbstverständlich.

Der sehr befähigte Korrespondent der "Daily News" vor Metz berichtet in seiner Beschreibung von Bazaines Ausfall am 7. Oktober, nachdem sich die Franzosen in den Dörfern nördlich des Forts Saint-Eloy (nördlich von Metz, im Moseltal) festgesetzt hätten, sei eine Truppenmasse von wenigstens 30.000 Mann weiter rechts formiert worden und dicht am Fluß gegen die Deutschen vorgerückt. Diese Kolonne oder Gruppe von Kolonnen hatte augenscheinlich den Auftrag, den Einschließungsring zu durchbrechen - eine Aufgabe, die höchste Entschlossenheit erforderte. Sie hätten direkt in einen Halbkreis von Truppen und Batterien unter deren konzentrischem Feuer hineinmarschieren müssen; die Heftigkeit dieses Feuers mußte bis zur direkten Berührung mit den feindlichen Massen zunehmen und alsdann, sofern es den Franzosen gelang, den Feind in die Flucht zu schlagen, erheblich geringer werden, während sie sich in Falle eines Rückzugs demselben Kreuzfeuer zum zweitenmal hätten aussetzen müssen. Das muß den Soldaten bekannt gewesen sein; außerdem wird Bazaine für diese höchste Kraftanstrengung seine besten Truppen eingesetzt haben. Indessen heißt es in dem Bericht, daß sie gar nicht bis in den Bereich des Schützenfeuers der deutschen Hauptkräfte gelangten. Ehe sie den kritischen Punkt erreichten, hatte das Feuer der Artillerie und der Vorpostenlinien ihre Reihen aufgelöst: "Die dichten Kolonnen gerieten erst ins Wanken und brachen dann auseinander."

Das ist das erste mal in diesem Kriege, daß wir solche Dinge von den Soldaten hören, die in Vionville, Gravelotte und bei späteren Ausfällen kaltem Stahl und heißem Feuer genug Trotz geboten haben. Diese Unfähigkeit, auch nur zu versuchen, eine befohlene Aufgabe ernstlich |140| durchzuführen, scheint zu zeigen, daß die Armee von Metz nicht mehr das ist, was sie war. Diese Unfähigkeit deutet offenkundig zwar noch nicht Demoralisierung an, wohl aber Entmutigung und Hoffnungslosigkeit - das Gefühl, daß der Versuch doch keinen Zweck habe. Von hier bis zur eigentlichen Demoralisierung sind es nur wenige Schritte, besonders bei französischen Soldaten. Obgleich es verfrüht wäre, aus diesen Anzeichen den schnellen Fall von Metz vorauszusagen, so würde es uns doch überraschen, wenn wir nicht bald mehr Symptome entdeckten, daß die Verteidigung schwächer wird.

Die Übergabe von Metz würde einen weit geringeren moralischen, aber einen weit größeren materiellen Einfluß auf den Verlauf des Krieges haben als der Fall von Paris. Wird Paris genommen, so wird Frankreich vielleicht nachgeben, aber das wäre dann nicht nötiger als gegenwärtig; denn der weitaus größere Teil der Truppen, die jetzt Paris einschließen, wäre notwendig, die Stadt und ihre Umgebung zu halten. Es ist daher mehr als zweifelhaft, ob den Deutschen dann genug Mannschaften zur Verfügung stünden, bis nach Bordeaux vorzurücken. Wenn aber Metz kapitulierte, könnten sie über mehr als 200.000 Mann frei verfügen, und eine solche Armee würde bei dem jetzigen Stand der französischen Feldtruppen vollauf genügen, um in dem ungeschützten Lande zu marschieren, wohin es ihr gefällt, und zu tun, was ihr beliebt. Die weitere Besetzung des Landes, die durch die beiden großen verschanzten Lager aufgehalten wird, würde sofort beginnen und alle Versuche zu einem Guerillakrieg, der gegenwärtig recht wirksam sein könnte, würden dann bald unterdrückt werden.