Über den Krieg - XXII | Inhalt | Das Schicksal von Metz

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 17, 5. Auflage 1973, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 133-136.

Erstellt am 13.12.1998.
1. Korrektur.

Friedrich Engels

Über den Krieg - XXIII


["The Pall Mall Gazette" Nr. 1768 vom 13. Oktober 1870]

|133| Die preußischen Generalstabsoffiziere in Berlin scheinen ungeduldig zu werden. Durch die Berliner Korrespondenten der "Times" und der "Daily News" informieren sie uns, das Belagerungsmaterial stehe schon seit einigen Tagen vor Paris bereit und die Belagerung werde bald beginnen. Wir zweifeln an dieser Bereitschaft. Erstens wissen wir, daß mehrere Tunnels auf der einzig verfügbaren Eisenbahnlinie von den zurückweichenden Franzosen bei La-Ferté-sous-Jouarre gesprengt und daß sie noch nicht wiederhergestellt worden sind; zweitens wissen wir auch, daß eine reguläre und wirksame Belagerung eines so großen Platzes wie Paris derart große Mengen Material erfordert, daß es lange Zeit dauern wird, bis sie herangeschafft worden sind, auch wenn die Eisenbahn ständig benutzbar gewesen wäre; und drittens haben wir bis heute, fünf oder sechs Tage nach dieser Berliner Meldung, noch nichts von der Eröffnung der ersten Parallele gehört. Wir müssen deshalb annehmen, daß wir unter der Bereitschaft, die Belagerung oder den regulären Angriff zu eröffnen, die Bereitschaft zum irregulären Angriff, zum Bombardement, zu verstehen haben.

Freilich würde ein Bombardement von Paris, das irgendwelche Aussicht haben soll, die Übergabe zu erzwingen, weit mehr Geschütze erfordern als eine reguläre Belagerung. Bei dieser kann man den Angriff auf einen oder zwei Punkte der Verteidigungslinie beschränken; bei jener aber muß man ständig eine solche Zahl von Granaten über die ganze Riesenfläche der Stadt streuen, daß überall mehr Brände ausbrechen, als die Bevölkerung löschen kann, und daß selbst die Löscharbeiten zu gefährlich werden. Nun haben wir gesehen, daß sogar Straßburg mit 85.000 Einwohnern durchaus fähig war, ein Bombardement von fast beispielloser Stärke auszuhalten, und daß mit Ausnahme einiger vereinzelter und genau abgegrenzter Stadtviertel, |134| die geopfert werden mußten, die Brände erfolgreich niedergehalten werden konnten. Der Grund dafür ist die verhältnismäßig große Ausdehnung der Stadt. Es ist leicht, einen kleinen Platz von fünftausend bis zehntausend Einwohnern durch Bombardement zur Übergabe zu zwingen, wenn nicht genügend bombensicherer Schutz vorhanden ist; aber eine Stadt mit 50.000 bis 100.000 Einwohnern kann einem großen Bombardement standhalten, besonders wenn sie, wie die meisten französischen Städte, aus Quadern oder dicken Backsteinmauern gebaut ist. Paris, innerhalb der Befestigungslinie, mißt 12 mal 10 Kilometer und innerhalb der alten Stadtmauer, die den dichtbebauten Teil der Innenstadt einschließt, 9 mal 7 Kilometer; das heißt, dieser Teil der Stadt umfaßt eine Fläche von etwa 50 Millionen Quadratmeter oder fast 60 Millionen Quadratyard. Um durchschnittlich eine Granate stündlich in je 1.000 Quadratyard dieser Fläche zu schießen, würden 60.000 Granaten in der Stunde oder 1,5 Millionen Granaten für je vierundzwanzig Stunden erforderlich sein. Das würde voraussetzen, daß zu diesem Zweck mindestens 2.000 schwere Geschütze eingesetzt wären. Aber selbst eine Granate in der Stunde auf einen Raum von ungefähr 100 mal 100 Fuß würde ein schwaches Bombardement bedeuten. Natürlich kann das Geschützfeuer zeitweilig auf ein oder mehrere Viertel konzentriert werden, bis sie vollständig zerstört sind, und dann auf die benachbarten Viertel übertragen werden. Aber dieses Verfahren würde, ehe es zum Erfolg führte, fast ebenso lange oder sogar länger dauern als eine reguläre Belagerung, wobei es natürlich weniger sicher ist, ob dadurch die Übergabe des Platzes erzwungen werden könnte.

Außerdem liegt Paris, solange seine Forts nicht genommen sind, tatsächlich außerhalb der Reichweite eines wirksamen Bombardements. Die nächsten Höhen außerhalb der Stadt, die jetzt in den Händen der Belagerer sind, die Höhen bei Châtillon, sind genau 8.000 Meter = 8.700 Yard oder 5 Meilen vom Palais de Justice entfernt, das ungefähr im Zentrum der Stadt liegt. Von der ganzen Südseite aus wird die Entfernung nahezu die gleiche sein. Im Nordosten sind die Befestigungslinien 10.000 Meter oder über 11.000 Yard vom Stadtzentrum entfernt, so daß die bombardierenden Batterien auf diesem Abschnitt 2.000 Yard weiter zurück, das heißt 7 bis 8 Meilen vom Palais de Justice entfernt aufgestellt werden müßten. Im Nordwesten schützen die Windungen der Seine und das Fort Mont Valérien die Stadt so gut, daß bombardierende Batterien nur in geschlossenen Feldschanzen oder regulären Parallelen aufgestellt werden könnten, also nicht vor Beginn der regulären Belagerung, deren Einleitung, wie wir hier voraussetzen, das Bombardement sein soll.

|135| Es besteht kein Zweifel, daß die preußischen schweren gezogenen Geschütze - die, mit Kalibern von 5, 6, 7, 8 und 9 Zoll, Granaten von 25 bis über 300 Pfund Gewicht schießen - eine Entfernung von 5 Meilen bestreichen können. 1864 bombardierten bei Gammelmark die gezogenen Vierundzwanzigpfünder Sonderburg aus einer Entfernung von 5.700 Schritt = 4.750 Yard oder fast 3 Meilen, obgleich es alte Bronzegeschütze waren, die nicht mehr als 4 oder 5 Pfund Pulverladung zu einem Geschoß von 68 Pfund Gewicht aushalten konnten. Die Richthöhe war notwendigerweise beträchtlich und konnte nur durch eine besondere Zurichtung der Lafetten erreicht werden, die bei stärkeren Ladungen zusammengebrochen wären. Die heutigen preußischen Gußstahlgeschütze können im Verhältnis zum Geschoßgewicht eine weit schwerere Ladung aushalten; um aber eine Reichweite von 5 Meilen zu erzielen, müßte die Richthöhe sehr beträchtlich sein und müßten die Lafetten dementsprechend zugerichtet werden, würden aber, weil zu Zwecken benutzt, für die sie nicht konstruiert sind, bald in Stücke gehen. Nichts nützt eine Lafette schneller ab, als das Feuern mit voller Ladung bei Richthöhen von auch nur 5 bis 6 Grad; aber in diesem Falle würde die Richthöhe durchschnittlich wenigstens 15 Grad betragen, und die Lafetten würden ebenso schnell wie die Häuser von Paris in Stücke geschlagen werden. Lassen wir jedoch diese Schwierigkeit außer Betracht, so bliebe doch das Bombardement von Paris aus Batterien, die 5 Meilen vom Stadtzentrum entfernt stehen, im besten Fall eine halbe Sache. Die Zerstörung würde zwar ausreichen, um zu erbittern, würde aber nicht genügen, um Schrecken zu erregen. Bei solcher Schußweite könnten die Granaten nicht mit genügender Genauigkeit auf einen bestimmten Teil der Stadt gerichtet werden. Krankenhäuser, Museen, Bibliotheken, obgleich von den Höhen sichtbar, wo die Batterien stehen würden, könnten kaum geschont werden, nicht einmal, wenn der Befehl erginge, bestimmte Stadtteile auszunehmen. Militärische Gebäude, Arsenale, Magazine, Lagerhäuser, selbst wenn für die Belagerer sichtbar, könnten nicht mit einiger Sicherheit zur Zerstörung herausgegriffen werden, so daß die übliche Entschuldigung für ein Bombardement - es sei auf die Zerstörung der Verteidigungsmittel der Belagerten gerichtet - versagen würde. All dies setzt natürlich voraus, daß die Belagerer über die Mittel für ein wirklich ernstes Bombardement verfügen, nämlich über etwa 2.000 gezogene Geschütze und Mörser schweren Kalibers. Aber wenn, wie wir für unseren Fall vermuten, der deutsche Belagerungspark aus ungefähr 400 oder 500 Geschützen besteht, so dürfte das nicht genügen, in einem solchen Maße auf die Stadt einzuwirken, daß ihre Übergabe wahrscheinlich wird.

|136| Das Bombardement einer Festung, obgleich nach den Gesetzen des Krieges noch als erlaubt betrachtet, bringt eine solche Menge von Leiden für die Zivilbevölkerung mit sich, daß die Geschichte jeden verurteilen wird, der heutzutage so etwas unternimmt, ohne die begründete Aussicht, dadurch die Übergabe des Platzes zu erzwingen. Wir lächeln über den Chauvinismus eines Victor Hugo, der Paris als eine heilige - ausgemacht heilige! - Stadt betrachtet und jeden Versuch, sie anzugreifen, als Gotteslästerung. Wir betrachten Paris wie jede andere befestigte Stadt, die, wenn sie sich durchaus verteidigen will, auch alle Gefahren des regelrechten Angriffs, der eröffneten Gräben, der Belagerungsbatterien und der verirrten Schüsse, die nichtmilitärische Gebäude treffen, auf sich nehmen muß. Aber wenn solch ein Bombardement von Paris doch stattfände, und das bloße Bombardement die Stadt nicht zur Übergabe zwingen könnte, so wäre das ein solcher militärischer Fehler, für den kaum jemand Moltkes Stab verantwortlich machen würde. Man würde sagen, daß Paris nicht aus militärischen, sondern aus politischen Gründen bombardiert worden sei.