Über den Krieg - XXIV | Inhalt | Über den Krieg - XXV

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 17, 5. Auflage 1973, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 146-149.

Erstellt am 13.12.1998.
1. Korrektur.

Friedrich Engels

Saragossa - Paris


["The Pall Mall Gazette" Nr. 1776 vom 22. Oktober 1870)

|146| Um eine annähernde Vorstellung von einer so kolossalen Operation zu bekommen, wie es die Belagerung und Verteidigung von Paris ist, werden wir gut tun, uns in der Kriegsgeschichte nach einer früheren Belagerung großen Maßstabs umzusehen, die uns wenigstens in gewissem Grade als Beispiel dafür dienen kann, was wir erwarten dürfen. Sewastopol wäre ein solcher Fall, wenn die Verteidigung von Paris unter gewöhnlichen Bedingungen stattfände, das heißt, wenn noch eine Armee im Felde stünde, die zum Entsatz von Paris oder zur Verstärkung seiner Garnison anrücken könnte, wie das vor Sewastopol der Fall war. Aber Paris verteidigt sich unter ganz ungewöhnlichen Bedingungen: es hat weder eine Garnison, die für eine aktive Verteidigung, den Kampf im offenen Felde, geeignet wäre, noch irgendeine begründete Hoffnung auf Entsatz von außen. So gibt die größte bis jetzt beobachtete Belagerung, die von Sewastopol, welche an Bedeutung nur der eben begonnenen nachsteht, kein genaues Bild von dem, was jetzt vor Paris geschieht; erst in späteren Stadien der Belagerung wird es, hauptsächlich vermöge der Gegenüberstellung, möglich sein, zum Vergleich die Ereignisse des Krimkriegs heranzuziehen,

Auch die Belagerungen des amerikanischen Krieges bieten keine besseren Beispiele. Sie fanden in einer Kampfperiode statt, in der nicht nur die Südarmee, sondern, ihr nacheifernd, auch die Truppen des Nordens den Charakter von ungeübten Aufgeboten verloren hatten und als reguläre Truppen zu bezeichnen waren. Bei all diesen Belagerungen war die Verteidigung überaus aktiv. In Vicksburg sowie in Richmond fanden am Anfang lange Kämpfe um die Herrschaft über das Gelände statt, auf dem allein die Belagerungsbatterien auffahren konnten, und stets wurden auch, Grants letzte Belagerung von Richmond ausgenommen, Versuche zum |147| Entsatz gemacht. Aber hier in Paris haben wir eine Garnison von frisch ausgehobenen Soldaten, die nur schwach durch verstreute neue Aufgebote außerhalb der Stadt unterstützt, aber von einer regulären Armee mit allen Mitteln moderner Kriegführung angegriffen wird. Um ein Beispiel zu finden, müssen wir auf den letzten Krieg zurückgehen, in dem ein bewaffnetes Volk gegen eine reguläre Armee zu kämpfen hatte und auch wirklich auf breitester Basis kämpfte - den Peninsularkrieg. Hier finden wir ein berühmtes Beispiel, das, wie wir sehen werden, treffend ist in mehr als einer Hinsicht: Saragossa.

Saragossa hatte nur ein Drittel des Durchmessers und ein Neuntel der Fläche von Paris; aber seine Befestigungen, obgleich in Eile und ohne detachierte Forts errichtet, glichen in ihrer allgemeinen Defensivstärke denen von Paris. Die Stadt war mit 25.000 spanischen Soldaten besetzt, Flüchtlinge aus der verlorenen Schlacht von Tudela, darunter nicht mehr als 10.000 wirkliche Liniensoldaten, alles übrige frisch ausgehobene Truppen; außerdem gab es bewaffnete Bauern und die Einwohner, welche die Garnison auf 40.000 Mann erhöhten. In der Stadt waren 160 Geschütze vorhanden. Außerhalb derselben, in den benachbarten Provinzen, war eine Armee von etwa 30.000 Mann zur Hilfe aufgestellt worden. Andererseits hatte der französische Marschall Suchet nicht mehr als 26.000 Mann, um die Festung auf beiden Seiten des Ebro einzuschließen, und außerdem 9.000 Mann, die die Belagerung in Calatayud deckten. So war das zahlenmäßige Verhältnis der Truppen fast dasselbe wie gegenwärtig das der entsprechenden Armeen in und vor Paris: die Belagerten fast zweimal so zahlreich wie die Belagerer. Doch die Saragossaer konnten ebensowenig ausbrechen und den Belagerern im offenen Felde entgegentreten wie jetzt die Pariser; auch konnten die Spanier außerhalb der Stadt zu keiner Zeit ernstlich die Belagerung behindern.

Die Einschließung der Stadt war am 19. Dezember 1808 beendet; die erste Parallele konnte schon am 29. eröffnet werden, nur 350 Yard vom Hauptwall entfernt. Am 2. Januar 1809 wurde die zweite Parallele eröffnet, 100 Yard von den Werken entfernt; am 11. waren die Breschen sturmreif, und die ganze angegriffene Front wurde im Sturm genommen. Aber hier, wo der Widerstand einer gewöhnlichen Festungsgarnison regulärer Truppen aufgehört hätte, setzte die Stärke einer Volksverteidigung erst ein. Der Teil des Walls, den die Franzosen gestürmt hatten, war von der übrigen Stadt durch neue Verteidigungswerke abgeschnitten worden. Mehrfache Erdwälle, durch Artillerie verteidigt, waren quer über alle dorthin führenden Straßen und in entsprechenden Abständen hintereinander aufgeworfen |148| worden. Die Häuser, in dem im heißen Südeuropa üblichen massiven Stil gebaut, mit überaus dicken Mauern, waren mit Schießscharten versehen und wurden von Infanterie verteidigt. Das Bombardement der Franzosen war ununterbrochen; aber da sie mit schweren Mörsern schlecht versehen waren, war die Wirkung auf die Stadt nicht entscheidend. Das Bombardement wurde einundvierzig Tage lang ohne Unterbrechung fortgesetzt. Um die Stadt niederzuzwingen und Haus um Haus zu nehmen, mußten die Franzosen den langwierigsten Weg einschlagen, den der Unterminierung. Endlich, nachdem in der Stadt ein Drittel der Gebäude zerstört und der Rest unbewohnbar gemacht worden war, ergab sich Saragossa am 20. Februar. Von den 100.000 Menschen, die es zu Beginn der Belagerung in der Stadt gegeben hatte, waren 54.000 umgekommen.

Diese Verteidigung war klassisch in ihrer Art und verdient den Ruhm, den sie errungen hat. Aber schließlich hat die Stadt alles in allem nur 63 Tage widerstanden. Die Einschließung dauerte 10 Tage, die eigentliche Belagerung der Festung 14, die Belagerung der inneren Verteidigungswerke und der Häuserkampf 39 Tage. Die Zahl der Opfer stand in gar keinem Verhältnis zur Dauer der Verteidigung und zu ihrem tatsächlichen Ergebnis. Wäre Saragossa von 20.000 guten, entschlossenen Soldaten verteidigt worden, so hätte Suchet, gehindert durch ihre Ausfälle, die Belagerung mit seiner Streitmacht nicht ausführen können, und der Platz wäre bis zur Beendigung des österreichischen Kriegs von 1809 in spanischer Hand geblieben.

Wir erwarten von Paris gewiß kein zweites Saragossa. Die Häuser in Paris, obgleich sie fest sind, können keinen Vergleich mit der massiven Bauart der Häuser in dieser spanischen Stadt aushalten; auch haben wir keinen Grund für die Annahme, die Bevölkerung werde den Fanatismus der Spanier von 1809 entfalten oder die Hälfte der Einwohner werde sich geduldig dreinfinden, durch Kämpfe oder Krankheiten getötet zu werden. Doch mag sich jene Phase des Kampfes, die in Saragossa nach der Erstürmung des Walls in Straßen, Häusern und Klöstern der Stadt einsetzte, in einem gewissen Ausmaß in den befestigten Dörfern und Erdwerken zwischen den Forts von Paris und der Umwallung wiederholen. Hier scheint uns, wie wir gestern in unserem XXIV. Artikel "Über den Krieg" sagten, der Schwerpunkt der Verteidigung zu liegen. Hier werden vielleicht die jungen Mobilgarden ihren Gegnern, sogar in Offensivbewegungen, gewissermaßen unter gleichen Bedingungen gegenübertreten und sie zwingen, in einer systematischeren Weise vorzugehen, als sich das der Generalstab in Berlin offenbar vorgestellt hat, als er vor kurzem die Erwartung |149| aussprach, man werde die Stadt zwölf oder vierzehn Tage nach der Feuereröffnung der Belagerungsbatterien niederzwingen. Hier mag auch die Verteidigung den Mörsern und Haubitzen der Angreifer so viel zu tun geben, daß sogar ein teilweises Bombardement der Stadt, wenigstens in großem Maßstab, zur Zeit kaum in Frage käme. Die Dörfer außerhalb der Umwallung werden unter allen Umständen geopfert werden müssen, wo immer sie auch zwischen der deutschen Angriffs und der französischen Verteidigungsfront liegen mögen; wenn dadurch, daß man sie opfert, die Stadt geschont werden kann, um so besser für die Verteidigung.

Wie lange die Verteidigung des Geländes außerhalb der Umwallung dauern wird, können wir nicht einmal mutmaßen. Das wird von der Stärke der Werke, von dem Geist, in dem die Verteidigung geführt wird, sowie von der Art des Angriffs abhängen. Wenn der Widerstand ernst werden sollte, werden sich die Deutschen hauptsächlich auf ihr Artilleriefeuer verlassen, um ihre Truppen zu schonen. Jedenfalls ist es bei dem gewaltigen Artilleriefeuer, das sie auf jeden gewünschten Punkt konzentrieren können, nicht wahrscheinlich, daß sie mehr als vierzehn Tage oder drei Wochen brauchen werden, um an die Umwallung heranzukommen. Diese zu durchbrechen und im Sturm zu nehmen, wird das Werk weniger Tage sein. Auch dann wird keine zwingende Notwendigkeit bestehen, den Widerstand aufzugeben; aber es wird besser sein, mit Erwägungen über solche Eventualitäten zu warten, bis eine größere Wahrscheinlichkeit für ihr wirkliches Eintreten vorliegt. Bis dahin möge uns auch erlaubt sein, nichts über Wert oder Unwert von Herrn Rocheforts Barrikaden zu sagen. Im großen und ganzen sind wir der Meinung, sofern die neuen Werke zwischen den Forts und der Umwallung wirklich ernsten Widerstand bieten, daß sich der Angriff soweit wie möglich - wie weit, das hängt in großem Maße von der Energie der Verteidigung ab - auf Steil- und Flachfeuer der Artillerie sowie auf die Aushungerung von Paris beschränken wird.