Über den Krieg - XIX | Inhalt | Über den Krieg - XX
Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 17, 5. Auflage 1973, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 113-116.
Erstellt am 13.12.1998.
1. Korrektur.
["The Pall Mall Gazette" Nr. 1758 vom 1. Oktober 1870]
|113| Den Bericht, den wir unseren Lesern gestern mitteilten, wobei wir der Version von Herrn Jules Favre folgten, können wir ohne Bedenken als richtig unterstellen, natürlich abgesehen von solchen kleinen Irrtümern wie zum Beispiel, Graf Bismarck beabsichtige die Annexion von Metz, Château-Salins und "Soissons". Herr Favre kennt offensichtlich die geographische Lage von Soissons nicht. Der Graf nannte bei den Verhandlungen Saarburg, eine Stadt, die schon längst als innerhalb der neuen strategischen Grenzlinie gelegen namhaft gemacht worden ist, während Soissons ebensoweit von ihr entfernt liegt wie Paris oder Troyes. In seiner Wiedergabe der Unterhaltung mag Herr Favre nicht ganz exakt sein; aber wo er Tatsachen behauptet, die von der offiziösen preußischen Presse bestritten werden, wird das neutrale Europa im allgemeinen geneigt sein, sich an seine Darstellung zu halten. Wenn zum Beispiel in Berlin bestritten wird, was Herr Favre über den Vorschlag sagt, den Mont Valérien zu übergeben, so wird es wenige geben, die glauben, daß Herr Favre dies entweder erdichtet oder den Grafen Bismarck total mißverstanden habe.
Sein eigener Bericht zeigt aber auch deutlich, wie wenig Herr Favre die gegenwärtige Situation verstand oder wie verworren und unklar seine Ansicht darüber war. Er kam, um über einen Waffenstillstand zu verhandeln, der zum Frieden führen sollte. Seine Annahme, daß Frankreich noch die Macht habe, seinen Gegner zu zwingen, alle Ansprüche auf territoriale Abtretungen aufzugeben, wollen wir noch entschuldigen; aber unter welchen Bedingungen er eine Einstellung der Feindseligkeiten zu erhalten hoffte, ist schwer zu sagen. Die Punkte, auf denen die Deutschen schließlich bestanden, waren die Übergabe von Straßburg, Toul und Verdun, deren Garnisonen in die Kriegsgefangenschaft gehen sollten. Toul und Verdun scheinen |114| mehr oder weniger zugestanden worden zu sein. Aber Straßburg? Diese Forderung faßte Herr Favre einfach als Beleidigung und nichts anderes auf.
"Sie vergessen, Herr Graf, daß Sie zu einem Franzosen sprechen; eine heldenhafte Garnison, deren Verhalten von aller Welt und besonders von uns bewundert worden ist, so zu opfern, wäre Feigheit; und ich versichere Ihnen, nichts darüber zu sagen, daß Sie uns eine solche Bedingung angetragen haben."
In dieser Erwiderung finden wir wenig von einer Berücksichtigung der tatsächlichen Verhältnisse; sie ist nichts als ein Ausbruch patriotischen Gefühls. Da dieses Gefühl in Paris eine starke Rolle spielte, durfte es natürlich in einem solchen Augenblick nicht mißachtet werden, aber man hätte auch die tatsächlichen Verhältnisse erwägen müssen. Straßburg ist lange genug regulär belagert worden, um seinen baldigen Fall zur absoluten Gewißheit zu machen. Eine Festung, die regulär belagert wird, kann eine gewisse Zeit Widerstand leisten, ja, ihre Verteidigung sogar durch außergewöhnliche Anstrengungen um einige Tage verlängern; aber wenn keine Armee zum Entsatz herankommt, ist mit mathematischer Sicherheit vorauszusehen, daß sie fallen muß. Trochu und der Ingenieurstab in Paris wissen das genau; sie wissen, daß nirgends eine Armee vorhanden ist, die zum Entsatz von Straßburg herbeieilen könnte; und doch scheint Trochus Regierungskollege Jules Favre das bei seinen Berechnungen völlig außer acht gelassen zu haben. Das einzige, was er in der Forderung auf Übergabe Straßburgs sah, war eine Beleidigung seiner selbst, der Garnison von Straßburg und der französischen Nation. Aber die am meisten Interessierten, General Uhrich und seine Garnison, hatten wahrlich genug für ihre Soldatenehre getan. Ihnen die letzten paar Tage eines völlig hoffnungslosen Kampfes zu ersparen, wenn dadurch die geringen Aussichten für die Rettung Frankreichs verbessert werden könnten, würde für sie keine Beleidigung, sondern eine wohlverdiente Belohnung gewesen sein. General Uhrich würde es selbstverständlich vorgezogen haben, sich auf Grund eines Befehls seiner Regierung und gegen entsprechende Zugeständnisse zu ergeben, anstatt auf eine bloße Angriffsdrohung hin und ohne jegliche Gegenleistung.
Inzwischen sind Toul und Straßburg gefallen, und Verdun ist, solange Metz aushält, ohne eigentlichen militärischen Nutzen für die Deutschen, die so, ohne den Waffenstillstand zu gewähren, all das erreicht haben, worüber Bismarck mit Jules Favre verhandelt hat. Es scheint somit, als sei niemals ein Waffenstillstand zu billigeren und großmütigeren Bedingungen vom Sieger angeboten und niemals törichter vom Besiegten abgelehnt worden. Jules Favres Intelligenz glänzt in den Verhandlungen wahrlich nicht, |115| obgleich sein Instinkt wahrscheinlich ganz richtig war. Hingegen erscheint Bismarck in der neuen Charakterrolle des edelmütigen Siegers. Das Angebot, wie Herr Favre es verstand, war außergewöhnlich günstig; und wäre es nur das gewesen, was er dachte, so hätte es sofort angenommen werden müssen. Aber der Vorschlag bedeutete doch etwas mehr, als er darin sah.
Zwischen zwei Armeen im Felde ist ein Waffenstillstand eine leicht zu regelnde Sache. Eine Demarkationslinie - vielleicht ein Gürtel neutralen Gebiets zwischen den beiden Kriegführenden - wird festgelegt, und die Sache ist abgemacht. Aber hier steht nur eine Armee im Felde. Die andere, soweit sie noch existiert, ist in Festungen, die mehr oder weniger fest eingeschlossen sind. Was soll aus all diesen Festungen werden? Was soll ihr Status während des Waffenstillstands sein? Bismarck hütet sich, ein Wort darüber zu sagen. Wenn der vierzehntägige Waffenstillstand abgeschlossen und darin nichts über diese Städte gesagt wird, so wird selbstverständlich der Status quo beibehalten, abgesehen von den Feindseligkeiten gegen die Garnisonen und Festungswerke. So würden Bitsch, Metz, Pfalzburg, Paris und wer weiß wieviele andere befestigte Plätze noch eingeschlossen und von allen Zufuhren und Verbindungen abgeschnitten bleiben; die Bevölkerung darin würde ihre Vorräte verzehren, geradeso, als gäbe es keinen Waffenstillstand; und somit würde der Waffenstillstand für die Belagerer fast ebenso wirksam sein wie die Fortsetzung des Kampfes. Es könnte sogar geschehen, daß einer oder mehrere dieser Plätze während des Waffenstillstands alle Vorräte völlig erschöpften und sich den Belagerern ergeben müßten, um dem Hungertod zu entgehen. Somit scheint es, daß Graf Bismarck, schlau wie immer, in dem Waffenstillstand ein Mittel sah, die feindlichen Festungen zur Übergabe zu zwingen. Wenn natürlich die Unterhandlungen weit genug fortgesetzt worden wären, um zu einem Vertragsentwurf zu führen, so hätte der französische Stab dies herausgefunden und selbstverständlich betreffs der eingeschlossenen Städte solche Forderungen gestellt, daß die ganze Sache wahrscheinlich ins Wasser gefallen wäre. Aber es wäre Herrn Jules Favres Aufgabe gewesen, Bismarcks Vorschlägen auf den Grund zu gehen und herauszufinden, was zu verbergen dieser interessiert war. Wenn sich Herr Favre erkundigt hätte, welches der Status der blockierten Städte während des Waffenstillstands sein sollte, so hätte er Graf Bismarck nicht die Gelegenheit gegeben, eine scheinbare Großmut vor der Welt zur Schau zu stellen. Das war zu tief für Herrn Favre, obgleich es an der Oberfläche lag. Statt dessen brauste er wegen der Forderung, Straßburg zu übergeben und seine Garnison in die Kriegsgefangenschaft |116| zu schicken, in einer Weise auf, die aller Welt klar zeigte, daß sogar nach den ernsten Lehren der letzten zwei Monate der Wortführer der französischen Regierung unfähig war, die gegenwärtige Lage richtig zu beurteilen, weil er noch immer sous la domination de la phrase |unter der Macht der Phrase| stand.