Wie die Preußen zu schlagen sind | Inhalt | Der Bericht von den Verhandlungen

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 17, 5. Auflage 1973, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 109-112.

Erstellt am 13.12.1998.
1. Korrektur.

Friedrich Engels

Über den Krieg - XIX


["The Pall Mall Gazette" Nr. 1754 vom 27. September 1870]

|109| Die Befestigungen von Paris haben bereits ihren Wert bewiesen. Ihnen allein ist es zu verdanken, daß die Deutschen seit mehr als einer Woche noch nicht in den Besitz der Stadt gekommen sind. 1814 zwang ein halbtägiger Kampf bei den Anhöhen von Montmartre die Stadt zur Kapitulation. 1815 schuf eine Reihe von Erdwerken, die bei Beginn des Feldzugs angelegt worden waren, einen Aufschub; aber ihr Widerstand wäre von recht kurzer Dauer gewesen, wenn es nicht für die Alliierten eine absolute Gewißheit gewesen wäre, daß sich die Stadt ohne Kampf ergeben würde. In diesem Kriege haben die Deutschen von ihren Diplomaten nur eins erwartet, daß sie sich nicht in ihre militärische Aktion einmischen. Diese militärische Aktion, die bis gegen Mitte September kurz, scharf und entschlossen war, wurde langsam, zögernd und tâtonnante |tastend| von dem Tage an, da die deutschen Kolonnen in der Operationssphäre dieses ungeheuren befestigten Lagers Paris ankamen. Das ist ganz natürlich. Die bloße Einschließung eines so großen Platzes erfordert Zeit und Vorsicht, sogar wenn man sich ihm mit 200.000 oder 250.000 Mann nähert. Eine Truppenmacht dieser Größe wird kaum genügen, den Platz von allen Seiten lückenlos einzuschließen, auch wenn - wie im vorliegenden Fall - die Stadt keine Armee hat, die tauglich wäre, ins Feld zu rücken und regelrechte Schlachten zu schlagen. Daß es in Paris keine solche Armee gibt, haben die erbärmlichen Resultate von General Ducrots Ausfall bei Meudon sehr klar bewiesen. Hier verhielten sich die Linientruppen entschieden schlechter als die Mobilgarde; sie gaben in der Tat "Fersengeld", allen voran die berühmten Zuaven. Das ist leicht erklärlich. Die alten Soldaten - meist solche aus Mac-Mahons, |110| de Faillys und Félix Douays Korps, die bei Wörth gekämpft hatten - waren durch zwei katastrophale Rückzüge und sechs Wochen dauernde Mißerfolge völlig demoralisiert. Es ist nur natürlich, daß solche Ereignisse sehr stark auf Söldner einwirken - die Zuaven, die zumeist aus Ersatzmännern bestehen, verdienen keinen anderen Namen. Und von diesen Männern erwartet man, daß sie den unerfahrenen Rekruten, mit denen die gelichteten Linienbataillone aufgefüllt worden waren, Halt geben werden. Nach diesem Ereignis wird es zwar noch kleine Ausfälle geben, die hier und da Erfolg haben mögen, aber es wird wohl kaum noch zu offenen Feldschlachten kommen.

Weiter: Die Deutschen sagen, daß sie mit ihren Geschützen von den Höhen bei Sceaux aus Paris beherrschen; aber diese Behauptung darf man keinesfalls für bare Münze nehmen. Die nächsten Höhen, auf denen sie Batterien aufgestellt haben können, oberhalb Fontenay-aux-Roses, sind etwa 1.500 Meter von dem Fort de Vanves entfernt, also volle 8.000 Meter oder 8.700 Yard vom Zentrum der Stadt. Die Deutschen haben keine schwereren Feldgeschütze als die sogenannten gezogenen Sechspfünder (Geschoßgewicht etwa 15 Pfund). Aber selbst wenn sie gezogene Zwölfpfünder mit Geschossen von 32 Pfund hätten, würden diese Geschütze bei den Erhöhungswinkeln, für die ihre Lafetten konstruiert sind, nicht mehr als 4.500 bis 5.000 Meter Schußweite haben. Jene Prahlerei braucht also die Pariser nicht zu schrecken. Solange nicht zwei oder mehr Forts genommen sind, braucht Paris ein Bombardement nicht zu fürchten; und sogar dann würden sich die Granaten noch so weit über die riesige Fläche der Stadt verstreuen, daß der Schaden verhältnismäßig klein und die moralische Wirkung fast Null wäre. Betrachten wir die gewaltigen Mengen von Artillerie, die herangebracht wurden, um Straßburg zu beschießen, wieviel mehr noch wird erforderlich sein, um Paris niederzuzwingen, sogar dann, wenn wir uns daran erinnern, daß der reguläre Angriff durch Parallelen natürlich auf einen kleinen Teil der Werke beschränkt sein wird! Und bis die Deutschen all diese Artillerie unter den Wällen von Paris zusammenbringen, mit Munition und allem anderen Zubehör, solange ist Paris sicher. Erst von dem Augenblick an, da alles Belagerungsmaterial bereitsteht, beginnt die wirkliche Gefahr.

Wir sehen jetzt klar, welch große Stärke den Befestigungswerken von Paris innewohnt. Wenn zu dieser passiven Stärke, der bloßen Macht des Widerstands, die aktive Stärke hinzukäme, die Macht des Angriffs einer wirklichen Armee, so würde der Wert der Werke augenblicklich erhöht werden. Während die Belagerungstruppen durch die Flüsse Seine und |111| Marne unvermeidlich in wenigstens drei verschiedene Teile getrennt sind, die untereinander nur über Brücken hinter ihren Kampfstellungen in Verbindung treten können - das heißt nur auf Umwegen und unter Zeitverlust -, könnte die große Masse der Armee von Paris mit überlegenen Kräften nach Belieben jeden dieser drei Armeeteile angreifen, ihm Verluste zufügen, seine begonnenen Werke zerstören und sich wieder unter den Schutz der Forts zurückziehen, bevor die Verstärkungen der Belagerer herankämen. Falls diese Armee in Paris, verglichen mit den Truppen der Belagerer, nicht zu schwach wäre, könnte sie die vollständige Einschließung des Platzes verhindern oder sie jederzeit durchbrechen. Wie notwendig es ist, eine belagerte Festung völlig einzuschließen, bis Verstärkungen von außen völlig unmöglich sind, hat sich im Falle von Sewastopol gezeigt, wo die Belagerung durch die dauernden Nachschübe russischer Verstärkungen über den nördlichen Teil der Festung in die Länge gezogen und dieser Zugang erst ganz zuletzt abgeschnitten werden konnte. Je weiter sich die Ereignisse vor Paris entwickeln werden, um so klarer wird die völlige Absurdität des bonapartistischen Oberbefehls während dieses Krieges hervortreten, durch die zwei Armeen geopfert wurden und Paris ohne seine Hauptverteidigungswaffe gelassen wurde, ohne die Kräfte, die den Angriff mit Gegenangriff beantworten können.

Was die Verproviantierung eines so großen Platzes anbelangt, so scheinen uns die Schwierigkeiten sogar geringer zu sein als bei einem kleineren Platze. Eine Hauptstadt wie Paris ist nicht nur mit einer guten Handelsorganisation versehen, um sich jederzeit verproviantieren zu können; sie ist zugleich der Hauptmarkt und das Lagerhaus, wo die landwirtschaftlichen Produkte eines ausgedehnten Gebiets zusammenströmen und ausgetauscht werden. Eine aktive Regierung könnte leicht Maßnahmen treffen, sich unter Nutzung dieser Vorteile reichliche Vorräte für eine durchschnittliche Belagerungsdauer zu beschaffen. Ob dies geschehen ist, vermögen wir nicht zu beurteilen; aber warum es nicht hätte geschehen können, und zwar in kürzester Zeit, sehen wir nicht ein.

Wenn der Kampf "bis zum bitteren Ende" geht - und das wird er, wie wir jetzt hören -, so wird wahrscheinlich der Widerstand von dem Tage an, da die Gräben eröffnet werden, nicht lange dauern. Das Mauerwerk der Grabenböschungen ist ziemlich ungedeckt, und das Fehlen der Demilunes vor den Zwischenwällen erleichtert den Vormarsch der Belagerer und das Brescheschlagen in die Wälle. Der begrenzte Raum in den Forts läßt nur eine beschränkte Zahl von Verteidigern zu; ihr Widerstand gegen einen Sturm kann, wenn er nicht durch zwischen den Forts vorgehende Truppen |112| unterstützt wird, nicht nachhaltig sein. Wenn aber die Gräben bis an das Glacis der Forts vorgeschoben werden können, ohne durch solche Ausfälle der Armee von Paris zerstört zu werden, so wird eben diese Tatsache beweisen, daß diese Armee zu schwach ist an Zahl, Organisation oder Moral, um mit Aussicht auf Erfolg einen Ausfall in der Nacht des Sturmes zu machen.

Wenn erst einmal einige Forts genommen sind, so ist zu hoffen, daß die Stadt von einem aussichtslosen Kampf Abstand nehmen wird. Tut sie das nicht, so werden die Belagerungsoperationen wiederholt, eine Reihe von Breschen geschlagen und die Stadt wird erneut zur Übergabe aufgefordert werden. Wird das wieder abgelehnt, so wird der ebenso aussichtslose Kampf auf den Barrikaden folgen. Wir wollen hoffen, daß solche nutzlosen Opfer vermieden werden.