Der Bericht von den Verhandlungen | Inhalt | Über den Krieg - XXI

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 17, 5. Auflage 1973, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 117-120.

Erstellt am 13.12.1998.
1. Korrektur.

Friedrich Engels

Über den Krieg - XX


["The Pall Mall Gazette" Nr. 1719 vom 3. Oktober 1870]

|117| Selbst nach den unbegreiflichen Fehlern, die praktisch zur Vernichtung der französischen Armee geführt haben, ist es eine überraschende Tatsache, daß Frankreich im Grunde genommen in der Gewalt eines Siegers sein soll, der nur ein Achtel seines Territoriums besetzt hat. Das Gebiet, das tatsächlich von den Deutschen besetzt ist, wird durch eine Linie von Straßburg nach Versailles und eine zweite von Versailles nach Sedan begrenzt. In diesem schmalen Streifen halten die Franzosen noch die Festungen Paris, Metz, Montmédy, Verdun, Thionville, Bitsch und Pfalzburg. Die Beobachtung, Blockade oder Belagerung dieser Festungen beschäftigt fast alle Kräfte, die bisher nach Frankreich geschickt worden sind. Es mag zwar bei den Deutschen genug Kavallerie vorhanden sein, um die Gegend um Paris bis nach Orléans, Rouen, Amiens und noch weiter zu säubern, aber an eine ernsthafte Besetzung eines ausgedehnten Landstrichs ist im Augenblick nicht zu denken. Gewiß steht eine Truppenmacht von etwa 40.000 oder 50.000 Landwehrsoldaten im Elsaß, südlich von Straßburg, und diese Armee kann ihre Stärke durch den größeren Teil des Belagerungskorps von Straßburg verdoppeln. Diese Truppen sind anscheinend für einen Streifzug nach den südlichen Teilen Frankreichs bestimmt, denn es ist festgestellt worden, daß sie nach Belfort, Besançon und Lyon marschieren sollen. Jede dieser drei Festungen ist ein großes verschanztes Lager mit detachierten Forts in angemessener Entfernung vom Hauptwall; eine Belagerung oder selbst eine ernsthafte Blockade dieser drei Plätze auf einmal würde die Kräfte dieser Armee überfordern. Wir sind deshalb davon überzeugt, daß diese Behauptung nur eine Täuschung ist und daß die neue deutsche Armee diese Festungen kaum beachten wird. Sie wird ins Saônetal marschieren - den reichsten Teil von Burgund -, es verheeren und dann zur Loire vor- |118| rücken, um die Verbindung mit der Paris einschließenden Armee herzustellen und den Umständen entsprechend eingesetzt zu werden. Aber sogar dieser starke Truppenkörper, solange er keine direkten Verbindungen mit der Armee vor Paris hat, die es ihm ermöglichen, auf direkte und unabhängige Verbindungen mit dem Rhein zu verzichten - sogar dieser starke Truppenkörper kann lediglich zu einem Streifzug verwandt werden und ist nicht imstande, ein ausgedehntes Gebiet in Schach zu halten. So werden seine Operationen in den nächsten Wochen das tatsächlich von den Deutschen besetzte französische Territorium nicht vergrößern, das wie bisher auf ein Achtel von ganz Frankreich beschränkt bleiben wird; und doch ist Frankreich, wenn es das auch nicht zugeben will, faktisch erobert. Wie ist das möglich?

Der Hauptgrund ist die übermäßige Zentralisation des ganzen Verwaltungssystems in Frankreich, besonders der Militärverwaltung. Bis vor kurzem war Frankreich für militärische Zwecke in dreiundzwanzig Distrikte aufgeteilt, von denen jeder nach Möglichkeit eine Garnison hatte, die aus einer Division Infanterie samt Kavallerie und Artillerie bestand. Zwischen den Divisionskommandeuren und dem Kriegsministerium gab es kein Zwischenglied. Diese Divisionen waren überdies nur verwaltende, keine militärischen Organisationen. Ihre Regimenter sollten in Kriegszeiten nicht zu Brigaden formiert werden; sie unterstanden nur in Friedenszeiten der Disziplinargewalt ein und desselben Generals. Sobald ein Krieg drohte, konnten sie in ganz verschiedene Armeekorps, Divisionen oder Brigaden entsandt werden. Einen Divisionsstab mit anderen als Verwaltungsfunktionen oder der dem Divisionskommandeur persönlich unterstellt war, gab es nicht. Unter Louis-Napoleon wurden diese dreiundzwanzig Divisionen zu sechs Armeekorps zusammengefaßt, jedes unter einem Marschall von Frankreich. Aber diese Armeekorps waren ebensowenig ständige Formationen für den Kriegsfall wie die Divisionen. Sie waren für politische, nicht für militärische Zwecke organisiert und hatten keinen regulären Stab. Sie waren das gerade Gegenteil der preußischen Armeekorps, deren jedes für den Kriegsfall fest organisiert ist, mit einer bestimmten Anzahl Infanterie, Kavallerie, Artillerie und Genietruppen und seinem einsatzbereiten militärischen, ärztlichen, gerichtlichen und Verwaltungsstab. In Frankreich erhielt der Verwaltungskörper der Armee (Intendantur usw.) seine Befehle nicht von dem kommandierenden Marschall oder General, sondern direkt von Paris. Wenn unter diesen Umständen Paris lahmgelegt wird, wenn die Verbindungen mit ihm abgeschnitten werden, so besteht in den Provinzen kein Organisationskern mehr; sie sind ebenfalls lahmgelegt, und das um so |119| mehr, als die altehrwürdige Abhängigkeit der Provinzen von Paris und seiner Initiative durch langjährige Gewohnheit zu einem wesentlichen Bestandteil des nationalen Glaubensbekenntnisses geworden ist, gegen das jede Auflehnung nicht nur ein Verbrechen, sondern eine Gotteslästerung ist.

Außer diesem Hauptgrund gibt es noch einen anderen Grund, der zwar zweitrangig, aber in unserem Fall von kaum geringerer Bedeutung ist; es ist dies die Tatsache, daß infolge der inneren historischen Entwicklung Frankreichs die Hauptstadt in gefährlicher Nähe seiner nordöstlichen Grenze liegt. Dies war vor etwa dreihundert Jahren in noch höherem Grade der Fall; damals lag Paris am äußersten Ende des Landes. Paris durch eine größere Fläche eroberten Gebiets gegen Osten und Nordosten zu decken, war das Ziel der fast ununterbrochenen Reihe von Kriege gegen Deutschland und, solange Belgien in spanischem Besitz war, gegen Spanien. Von der Zeit an, da sich Heinrich II. der drei Bistümer Metz, Toul und Verdun bemächtigte (1552), bis zur Revolution wurden so dieses Zieles wegen das Artois, Teile von Flandern und des Hennegaus, Lothringen, das Elsaß und Montbéliard erobert und Frankreich angegliedert, damit sie als Puffer dienten, den ersten Stoß einer Invasion gegen Paris aufzufangen. Wir müssen einräumen, daß fast alle diese Provinzen durch Abstammung, Sprache und Sitten dazu bestimmt waren, Bestandteile Frankreichs zu werden, und daß Frankreich es verstanden hat - hauptsächlich durch die Revolution von 1789 bis 1798 -, das übrige gründlich zu assimilieren. Aber sogar heute ist Paris noch gefährlich exponiert. Von Bayonne bis Perpignan, von Antibes bis Genf ist die Landesgrenze weit von Paris entfernt. Von Genf über Basel nach Lauterburg im Elsaß bleibt die Entfernung dieselbe; die Grenze bildet hier einen Kreisbogen um den Mittelpunkt Paris mit ein und demselben Radius von 250 Meilen. In Lauterburg aber verläßt die Grenze diesen Kreisbogen und bildet eine Sehne nach innen, die an einem Punkt nur 120 Meilen von Paris entfernt ist. "La ou le Rhin nous quitte, le danger commence" |"Da, wo uns der Rhein verläßt, beginnt die Gefahr"|, sagt Lavallée in seinem chauvinistischen Werk über die Grenzen Frankreichs. Aber wenn wir jenen Kreisbogen von Lauterburg in nördlicher Richtung fortsetzen, werden wir finden, daß er fast genau dem Lauf des Rheins zum Meer folgt. Hier also haben wir den wirklichen Grund für den französischen Schrei nach dem ganzen linken Rheinufer. Erst nach einer solchen Grenzziehung wäre Paris auf seiner exponiertesten Seite durch gleich weit entfernte Grenzen und obendrein mit einem Fluß als Grenzlinie gedeckt. Und Frankreich hätte gewiß ein Recht darauf, wenn das leitende |120| Prinzip der europäischen Politik die militärische Sicherheit von Paris wäre. Glücklicherweise ist dem nicht so. Wenn Frankreich Paris zu seiner Hauptstadt haben will, so muß es sich mit den Nachteilen, die Paris anhaften, genauso abfinden, wie es die Vorteile genießt. Einer dieser Nachteile ist, daß die Besetzung eines kleinen Teils von Frankreich - einschließlich Paris - seine Aktionsfähigkeit als Nation lähmt. Aber wenn das der Fall ist, wenn Frankreich dadurch, daß seine Hauptstadt zufällig in einer exponierten Lage ist, kein Recht auf den Rhein erwirbt - dann sollte sich Deutschland daran erinnern, daß ähnliche militärische Betrachtungen ihm auch nicht mehr Anspruch auf französisches Territorium geben.