Über den Krieg - XII| Inhalt | Über den Krieg - XIV
Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 17, 5. Auflage 1973, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 72-74.
Erstellt am 13.12.1998.
1. Korrektur.
["The Pall Mall Gazette" Nr. 1728 vom 27. August 1870]
|72| Gestern kam eine telegraphische Nachricht, die unter unseren Zeitungskollegen große Aufregung verursachte. Sie kam aus Berlin und besagte, daß das Königliche Hauptquartier nach Bar-le-Duc verlegt worden sei und daß Korps der Ersten und Zweiten Armee Bazaines Armee gegenüberblieben, während der andere Teil der deutschen Streitkräfte "entschlossen seinen Vormarsch nach Paris angetreten" hätte.
Bisher waren die Bewegungen der deutschen Armeen während der Ausführung geheimgehalten worden. Erst dann, wenn die Bewegung beendet, wenn der Schlag geführt war, erfuhren wir, welchen Weg die Truppen eingeschlagen hatten. Es scheint seltsam, daß dieses System auf einmal umgestoßen werden soll, daß der schweigsame Moltke ohne ersichtlichen Grund der Welt ganz plötzlich erklärt, er marschiere nach Paris, und obendrein "entschlossen".
Zur selben Zeit erfahren wir, daß die Vorhut des Kronprinzen immer näher auf Paris vorstößt und daß sich seine Kavallerie mehr und mehr nach Süden ausbreitet. Sogar in Château-Thierry, fast auf dem halben Weg zwischen Châlons und Paris, sollen die gefürchteten Ulanen gesehen worden sein.
Sollte da nicht ein besonderer, allerdings auf den ersten Blick nicht völlig durchschaubarer Grund vorliegen, weshalb diese Ankündigung der Absichten des Königs von Preußen gerade jetzt gemacht wurde und weshalb zur selben Zeit die deutsche Reiterei ihre Aktivität verdoppelte?
Wir wollen einige Daten vergleichen. Am Montag abend, dem 22. August, begann Mac-Mahon seinen Marsch durch Reims auf der Straße nach Rethel, und mehr als vierzehn Stunden hintereinander zogen die Kolonnen durch die Stadt. Gegen Mittwoch abend - wenn nicht früher - mag die Nachricht |73| von diesem Marsch das deutsche Hauptquartier erreicht haben. Es gab nur die eine Erklärung dafür, nämlich die Absicht, Bazaine aus der Falle, in der er eingeschlossen ist, zu befreien. Je weiter Mac-Mahon in der eingeschlagenen Richtung vorrückte, um so mehr mußte er seine Verbindungen mit Paris und seine Rückzugslinie gefährden, um so mehr mußte er zwischen die deutsche Armee und die belgische Grenze geraten. Ist er erst einmal jenseits der Maas, die er, wie berichtet wird, bei Laneuville, Stenay gegenüber, überschreiten will, so kann sein Rückzug leicht abgeschnitten werden. Was konnte nun Mac-Mahon mehr ermutigen, auf seinem gefährlichen Plan zu bestehen, als die Nachricht, daß die Deutschen - während er zur Entsetzung Bazaines eilte - nur einen verhältnismäßig kleinen Teil ihrer Streitkräfte vor Metz zurückgelassen hatten und mit dem Hauptteil ihrer Truppen "entschlossen" auf Paris losmarschierten? So wurde Mittwoch nacht eben diese Nachricht von Pont-à-Mousson nach Berlin telegraphiert, von Berlin nach London, von London nach Paris und Reims, wo Mac-Mahon ohne Zweifel sofort von der Meldung in Kenntnis gesetzt wurde. Und während er weiter nach Stenay, Longuyon und Briey marschiert, könnte die Armee des Kronprinzen ein oder zwei Korps in der Champagne lassen, wo ihnen nun niemand gegenübersteht, und den Rest nach St. Mihiel werfen, dort die Maas überschreiten und versuchen, bei Fresnes eine Stellung zu erlangen, die die Verbindungen der Armee Mac-Mahons mit der Maas bedroht, deren Abstand zu den deutschen Truppen vor Metz jedoch noch eine Unterstützung ermöglicht. Falls das gelingen sollte und Mac-Mahon unter diesen Umständen geschlagen würde, so müßte seine Armee entweder auf neutrales Gebiet übertreten oder sich den Deutschen ergeben.
Es kann nicht bezweifelt werden, daß Mac-Mahons Bewegungen dem deutschen Hauptquartier ganz genau bekannt sind. Von dem Augenblick an, da die Schlacht bei Rezonville (oder Gravelotte, wie sie offiziell genannt wird) die Tatsache besiegelt hatte, daß Bazaine in Metz eingeschlossen war, von diesem Augenblick an war Mac-Mahons Armee das nächste Ziel nicht nur für die Armee des Kronprinzen, sondern auch für alle anderen Truppen, die vor Metz abkömmlich waren. 1814 waren die Verbündeten tatsächlich nach der Vereinigung von Blücher und Schwarzenberg zwischen Arcis-sur-Aube und Châlons auf Paris marschiert, ohne Napoleons Marsch nach dem Rhein irgendwie zu beachten, und jener Marsch entschied den Feldzug. Aber damals war Napoleon bei Arcis schon geschlagen worden und war unfähig, den verbündeten Armeen Widerstand zu leisten; keine französische Armee war durch die verbündeten Truppen in einer Grenz- |74| festung eingeschlossen, die er hätte befreien können; und vor allem war Paris nicht befestigt. Heute aber gibt es im Gegensatz zu 1814 keinen Zweifel, daß Mac-Mahons Armee - was immer ihr militärischer Wert zahlenmäßig und moralisch sein mag - genügt, um Metz zu entsetzen, sofern die Belagerung nur von soviel Truppen durchgeführt wird, als nötig sind, um Bazaine in Schach zu halten. Was man andererseits auch immer von den Befestigungen von Paris halten mag, niemand wird so töricht sein zu erwarten, daß sie wie die Mauern von Jericho beim ersten Trompetenstoß des Feindes umfallen. Zumindest werden sie entweder eine längere Einschließung mit dem Ziel des Aushungerns der Verteidiger erzwingen oder den Beginn, wenn nicht sogar mehr, einer regelrechten Belagerung erfordern. Während also die Deutschen "entschlossen" vor Paris ankämen und hier durch die Forts zum Stehen gebracht würden, könnte Mac-Mahon die deutschen Truppen vor Metz schlagen und sich mit Bazaine vereinigen; dann hätte Frankreich eine Armee an den Verbindungs- und Nachschublinien der Deutschen, die stark genug wäre, diese zu zwingen, sich "entschlossener" zurückzuziehen, als sie vorgerückt waren.
Wenn Mac-Mahons Armee also zu stark war, um unter diesen Umständen von den Deutschen als unwichtig abgetan zu werden, so müssen wir zu der Ansicht kommen, daß die Nachricht von dem entschlossenen Marsch König Wilhelms auf Paris, der die meisten unserer Zeitungskollegen die höchste Wichtigkeit beimessen, entweder eine absichtliche Falschmeldung ist, um den Feind irrezuführen, oder daß sie, wenn sie wirklich eine indiskrete Veröffentlichung einer richtigen Nachricht sein sollte, einen Entschluß wiedergibt, der gefaßt wurde, ehe Mac-Mahons letzte Bewegung bekannt war, und in diesem Fall schnellstens rückgängig gemacht werden wird. In beiden Fällen mögen ein oder zwei Korps weiter nach Paris vorrücken, aber das Gros aller verfügbaren Truppen wird nordostwärts marschieren, um alle Vorteile auszunutzen, die Mac-Mahon ihnen direkt in die Hände spielt.