Über den Krieg - XI | Inhalt | Über den Krieg - XIII
Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 17, 5. Auflage 1973, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 68-71.
Erstellt am 13.12.1998.
1. Korrektur.
["The Pall Mall Gazette" Nr. 1727 vom 26. August 1870]
|68| Die beiden letzten Ereignisse des Krieges sind: Der Kronprinz stößt über Châlons hinaus vor, und Mac-Mahon hat seine ganze Armee von Reims weggezogen, wohin, ist nicht genau bekannt. Nach französischen Berichten ist Mac-Mahon der Ansicht, daß der Krieg zu langsam vorwärtsgehe; um die Entscheidung zu beschleunigen, soll er gegenwärtig von Reims zur Entsetzung Bazaines abmarschieren. Dies würde tatsächlich die Ereignisse beschleunigen und unter Umständen eine entscheidende Krise herbeiführen.
In unserem Artikel vom Mittwoch schätzten wir Mac-Mahons Truppen auf 130.000 bis 150.000 Mann, in der Annahme, alle Truppen aus Paris hätten sich mit ihm vereinigt. Wir hatten recht, als wir annahmen, daß er bei Châlons über die Reste seiner eigenen Truppen und die von de Failly verfügte, ebenso, daß die beiden Divisionen von Douay bei Châlons waren, wohin sie, wie wir jetzt wissen, auf einem Umweg über Paris mit der Eisenbahn gekommen waren; ferner waren bei Châlons die Marinetruppen und andere Teile des Ostseekorps. Aber jetzt erfahren wir, daß in den Forts rings um Paris noch immer Linientruppen liegen, daß ein Teil von Mac-Mahons und Frossards Leuten, besonders Kavallerie, nach Paris zurückgezogen worden ist, um dort neu aufgestellt zu werden, und daß Mac-Mahon nur 80.000 Mann reguläre Truppen im Lager hatte. Wir können daher unsere Schätzung um volle 25.000 Mann vermindern und 110.000 bis 120.000 Mann als das Maximum der Streitkräfte Mac-Mahons annehmen, von denen vermutlich ein Drittel aus unausgebildeten Leuten besteht. Und mit dieser Armee soll er aufgebrochen sein, um Bazaine in Metz zu entsetzen!
|69| Augenblicklich ist Mac-Mahons nächster und unmittelbarster Gegner die Armee des Kronprinzen. Ihre Vorhut besetzte am 24. August das frühere Lager von Châlons, was uns aus Bar-le-Duc telegraphiert wurde. Daraus können wir schließen, daß dort zu der Zeit das Hauptquartier war. Mac-Mahons nächster Weg nach Metz geht über Verdun. Von Reims nach Verdun sind es über eine fast gerade Landstraße volle 70 Meilen; auf der Heerstraße über Ste. Ménehould sind es über 80 Meilen. Dieser letztere Weg führt obendrein über das Lager von Châlons, also durch die deutsche Linie. Die Entfernung von Bar-le-Duc nach Verdun beträgt weniger als 40 Meilen.
So kann die Armee des Kronprinzen nicht nur Mac-Mahon auf seinem Marsch in die Flanke fallen, wenn er einen der erwähnten Wege nach Verdun benutzt, sondern sie kann die Maas überschreiten und sich mit den anderen beiden deutschen Armeen zwischen Verdun und Metz vereinigen, und zwar lange bevor Mac-Mahon von Verdun aus auf das rechte Maasufer vorstoßen kann. Und an alledem würde sich nichts ändern, selbst wenn der Kronprinz bis nach Vitry-le-François vorgerückt wäre oder einen Tag eigens dazu brauchte, seine Truppen von ihrer ausgedehnten Marschlinie zusammenzuziehen; so beträchtlich ist der Entfernungsunterschied zu seinen Gunsten.
Unter diesen Umständen mag bezweifelt werden, ob Mac-Mahon einen der angegebenen Wege benutzen werde oder ob er sich nicht ganz plötzlich aus dem unmittelbaren Aktionsbereich des Kronprinzen zurückziehen und die Straße von Reims über Vouziers, Grand-Pré und Varennes nach Verdun oder über Vouziers nach Stenay wählen werde, wo er die Maas überschreiten und dann südöstlich auf Metz marschieren würde. Doch das würde ihm nur einen Augenblicksvorteil verschaffen, um dafür die endgültige Niederlage doppelt sicher zu machen. Diese beiden Linien bedeuten noch größere Umwege und würden dem Kronprinzen noch mehr Zeit geben, seine Streitkräfte mit denen vor Metz zu vereinigen und so beiden, Mac-Mahon und Bazaine, ein erdrückendes zahlenmäßiges Übergewicht entgegenzustellen.
Welchen Weg Mac-Mahon also auch wählt, um nach Metz zu gelangen, er kann den Kronprinzen nicht abschütteln, der überdies die Wahl hat, gegen ihn entweder allein oder zusammen mit den anderen deutschen Armeen zu kämpfen. Daher ist es klar, daß Mac-Mahons Marsch zur Entsetzung Bazaines ein grober Fehler sein würde, solange er sich nicht des Kronprinzen gänzlich entledigt hat. Um nach Metz zu gelangen, führt sein kürzester, schnellster und sicherster Weg mitten durch die deutsche Dritte Armee. Wenn er geradewegs auf sie losmarschierte, sie angriffe, wo er sie |70| träfe, sie schlüge und sie einige Tage lang in südöstlicher Richtung triebe, um so seine siegreiche Armee wie einen Keil zwischen sie und die beiden anderen deutschen Armeen einzuschieben - in derselben Weise, wie es ihm der Kronprinz vorgemacht hat -, dann, und nur dann, könnte er eine Chance haben, nach Metz zu gelangen und Bazaine zu befreien. Aber wenn er sich dazu stark genug fühlte, dessen können wir gewiß sein, so hätte er es sofort getan. So erhält der Rückzug von Reims einen anderen Aspekt. Er ist nicht so sehr ein Versuch, Bazaine von Steinmetz und Friedrich Karl zu befreien, als vielmehr ein Versuch, Mac-Mahon vom Kronprinzen zu befreien. Und von diesem Gesichtspunkt aus ist es das Schlimmste, was getan werden konnte. Alle direkten Verbindungen mit Paris werden so dem Feind überlassen, die letzten verfügbaren Truppen Frankreichs vom Zentrum zur Peripherie abgezogen und absichtlich weiter vom Zentrum entfernt aufgestellt, als der Feind sich bereits befindet. Eine solche Bewegung kann zu rechtfertigen sein, wenn sie mit weit überlegenen Kräften durchgeführt wird; aber hier wird sie mit hoffnungslos schwächeren Kräften und angesichts einer fast sicheren Niederlage unternommen. Was wird diese Niederlage bringen? Wo sie auch immer erfolgt, sie wird die Reste der geschlagenen Armee von Paris weg der Nordgrenze zutreiben, wo sie auf neutrales Gebiet gedrängt oder zur Kapitulation gezwungen werden könnten. Wenn Mac-Mahon die erwähnte Bewegung wirklich gemacht hat, so bringt er seine Armee vorsätzlich in genau dieselbe Lage, in die Napoleons Flankenmarsch um das Südende des Thüringer Waldes 1806 die preußische Armee bei Jena brachte. Eine zahlenmäßig und moralisch schwächere Armee wird mit Vorbedacht in eine Stellung gebracht, von der aus ihre einzige Rückzugslinie nach einer Niederlage durch einen schmalen Landstreifen geht, der in neutrales Gebiet oder zur See führt. Napoleon zwang die Preußen dadurch zur Kapitulation, daß er Stettin vor ihnen erreichte. Mac-Mahons Truppen werden sich in jenem schmalen französischen Landstreifen ergeben müssen, der zwischen Mézières und Charlemont - Givet nach Belgien hinein vorspringt. Im bestmöglichen Fall können sie nach den nördlichen Festungen, Valenciennes, Lille usw., entkommen, wo sie für alle Fälle unschädlich sein werden. Dann wird Frankreich der Gewalt der Eindringlinge ausgeliefert sein.
Der ganze Plan scheint so unbesonnen, daß er nur aus der politischen Notwendigkeit heraus entstanden sein kann. Er sieht eher nach einem coup de désespoir |Verzweiflungsakt| aus als nach etwas anderem. Er sieht aus, als ob irgend etwas |71| getan, irgend etwas riskiert werden müßte, bevor man Paris die wirkliche Lage wissen läßt. Das ist nicht der Plan eines Strategen, sondern der eines "Algeriers", der gewohnt ist, irreguläre Truppen zu bekämpfen, nicht der Plan eines Soldaten, sondern der Plan eines politischen und militärischen Abenteurers von der Sorte, wie sie sich in den letzten neunzehn Jahren in Frankreich breitgemacht haben. Die Worte, die Mac-Mahon gesagt haben soll, um diesen Entschluß zu rechtfertigen, stimmen völlig damit überein. "Was würde man sagen", wenn er Bazaine nicht zu Hilfe eilte? Ja, aber "was würde man sagen", wenn er sich in eine noch schlechtere Lage brächte, als Bazaine sich gebracht hat? Das ist ganz das Zweite Kaiserreich! Den Schein wahren, Niederlagen verheimlichen, das ist das wichtigste! Napoleon setzte alles auf eine Karte - und verlor; und jetzt, wo die Chancen zehn zu eins gegen ihn stehen, ist Mac-Mahon wieder im Begriff, va banque zu spielen. Je früher Frankreich von diesen Leuten befreit wird, desto besser. Das ist seine einzige Hoffnung,