Über den Krieg - XIII | Inhalt | Über den Krieg - XV

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 17, 5. Auflage 1973, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 75-78.

Erstellt am 13.12.1998.
1. Korrektur.

Friedrich Engels

Über den Krieg - XIV


["The Pall Mall Gazette" Nr. 1731 vom 31. August 1870]

|75| Die Deutschen sind wieder einmal für Mac-Mahon zu schnell gewesen. Die Vierte Armee, unter dem Kronprinzen Albert von Sachsen, die wenigstens zwei Armeekorps (die preußische Garde und das XII. oder Königlich Sächsische Korps), wenn nicht mehr, umfaßt, ist plötzlich zur Maas vorgestoßen, hat sich Übergänge irgendwo zwischen Stenay und Verdun gesichert und ihre Kavallerie hinübergeschickt. Die Argonnenpässe sind in ihrer Hand. In Ste. Ménehould nahmen sie am Donnerstag |23. August 1870| 800 Mobilgardisten gefangen, und am Sonnabend schlugen sie eine französische Kavalleriebrigade bei Buzancy. Auf ihrem Wege machten sie letzten Donnerstag einen starken Erkundungsvorstoß auf Verdun; aber nachdem sie festgestellt hatten, daß die Festung zu ihrem Empfang bereit war, bestanden sie nicht darauf, sie mit größeren Kräften anzugreifen.

In der Zwischenzeit, und zwar am 22. und 23. August, hatte Mac-Mahon Reims mit einer Armee verlassen, die nach französischen Berichten 150.000 Mann stark, wohl ausgerüstet und mit Artillerie, Munition und Vorräten gut versehen war. Er war bis zum Abend des 25. nicht weiter gekommen als bis nach Rethel, ungefähr dreiundzwanzig Meilen von Reims entfernt. Wie lange er dort blieb und wann er es verließ, ist uns nicht genau bekannt. Aber das Kavalleriegefecht bei Buzancy, das etwa zwanzig Meilen weiter an der Straße nach Stenay liegt, beweist, daß sogar am Sonnabend seine Infanterie dort noch nicht eingetroffen war. Diese Langsamkeit der Bewegung steht in starkem Gegensatz zu der Regsamkeit der Deutschen. Ohne Zweifel ist das in großem Ausmaß durch die Zusammensetzung seiner Armee bedingt, die entweder aus mehr oder weniger demoralisierten Truppen besteht oder aus Neuaufstellungen, in denen junge Rekruten über- |76| wiegen; einige davon sind sogar bloße Freiwilligenkorps mit vielen Nichtberufsoffizieren. Es ist klar, daß diese Armee weder die Disziplin noch den Zusammenhalt der alten "Rheinarmee" haben kann und daß es fast unmöglich ist, 120.000 bis 150.000 Mann dieser Art sowohl schnell als auch in voller Ordnung zu bewegen. Hinzu kommt noch der Train. Die große Masse des schweren Trains der Rheinarmee war sicherlich am 14. und 15. aus Metz entkommen, aber man kann sich vorstellen, daß sie nicht in der allerbesten Verfassung war; es ist anzunehmen, daß ihr Munitionsvorrat und der Zustand ihrer Pferde viel zu wünschen übrigließen. Schließlich kann als selbstverständlich angenommen werden, daß sich die französische Intendantur seit Kriegsbeginn nicht gebessert hat und infolgedessen die Versorgung einer großen Armee in einem äußerst armen Landstrich keine einfache Sache sein wird. Aber selbst wenn wir auf all diese Hindernisse weitestgehend Rücksicht nehmen, müssen wir doch außerdem in Mac-Mahons Zaudern ein deutliches Zeichen von Unentschlossenheit sehen. Sein nächster Weg zur Entsetzung Bazaines war - nachdem er den direkten Weg über Verdun einmal aufgegeben hatte - der über Stenay, und diese Richtung schlug er ein. Aber ehe er über Rethel hinauskam, muß er erfahren haben, daß die Deutschen die Maasübergänge besetzt hatten und daß die rechte Flanke seiner Kolonnen auf der Straße nach Stenay nicht sicher war. Diese Schnelligkeit des deutschen Vormarschs scheint seine Pläne vereitelt zu haben. Wir erfahren, daß er am Freitag noch in Rethel war, wo er neue Verstärkungen aus Paris erhielt, und daß er beabsichtigte, am nächsten Tag nach Mézières zu marschieren. Da wir keine authentischen Nachrichten von wichtigen Gefechten haben, erscheint dies sehr wahrscheinlich. Das würde zugleich die fast völlige Aufgabe seines Plans zur Entsetzung Bazaines bedeuten; denn ein Marsch durch den schmalen französischen Landstreifen zwischen Mézières und Stenay auf dem rechten Maasufer würde große Schwierigkeiten und Gefahren mit sich bringen, erneut eine Verzögerung verursachen und seinem Gegner ausreichend Zeit geben, ihn von allen Seiten einzuschließen. Jetzt kann schon kein Zweifel mehr daran bestehen, daß für diesen Zweck genügend Streitkräfte der Armee des Kronprinzen nordwärts geschickt worden sind. Alles, was man über den Aufenthalt der Dritten Armee hört, weist auf eine nordwärts gerichtete Bewegung über die drei dazu geeignetsten großen Straßen: Épernay - Reims - Rethel, Châlons bis Vouziers und Bar-le-Duc - Varennes - Grand-Pré. Daß das Gefecht von Ste. Ménehould von Bar-le-Duc aus gemeldet wurde, macht es sogar wahrscheinlich, daß es ein Teil der Dritten Armee war, der die Mobilgarde schlug und die Stadt besetzte.

|77| Aber was kann MacMahons Absicht sein, wenn er wirklich auf Mézières marschiert? Wir zweifeln daran, daß er selber eine klare Vorstellung davon hat, was er zu tun beabsichtigt. Wir wissen jetzt, daß ihm dieser Marsch nordwärts wenigstens bis zu einem gewissen Grade durch die Unbotmäßigkeit seiner Leute aufgezwungen wurde, die über den "Rückzug" aus dem Lager von Châlons nach Reims murrten und ziemlich energisch verlangten, gegen den Feind geführt zu werden. Der Marsch zur Entsetzung Bazaines wurde daraufhin angetreten. Am Ende der Woche konnte sich Mac-Mahon wohl davon überzeugen, daß seine Armee nicht die für einen direkten Marsch nach Stenay notwendige Beweglichkeit hätte und er besser daran täte, die für den Augenblick sicherere Straße über Mézières einzuschlagen. Das würde zweifelsohne die beabsichtigte Entsetzung Bazaines hinausschieben und vielleicht undurchführbar machen; aber hatte denn Mac-Mahon selbst jemals fest an seine Fähigkeit geglaubt, dies zu erreichen? Wir bezweifeln es. Der Marsch nach Mézières konnte auf jeden Fall den feindlichen Marsch auf Paris verzögern, den Parisern mehr Zeit geben, ihre Verteidigung zu vollenden und Zeit schaffen für die Aufstellung von Reservearmeen hinter der Loire und bei Lyon. Und konnte sich Mac-Mahon nicht im Notfall längs der Nordgrenze hinter den dreifachen Festungsgürtel zurückziehen und prüfen, ob es dort nicht ein "Festungsviereck" gebe? Solche mehr oder weniger unbestimmte Gedanken mögen Mac-Mahon, der allerdings durchaus kein Stratege zu sein scheint, veranlaßt haben, eine zweite falsche Bewegung zu machen, nachdem er sich einmal in einer ersten verstrickt hatte. So sehen wir die letzte Armee, die Frankreich in diesem Krieg im Felde hat und wahrscheinlich haben wird, freiwillig in den eigenen Untergang marschieren, vor dem sie nur die gröbsten Fehler des Feindes retten können. Aber dieser Feind hat bis jetzt noch keinen einzigen Fehler begangen.

Wir sagen: die letzte Armee, die Frankreich in diesem Krieg wahrscheinlich im Felde haben wird. Mit Bazaine ist nicht zu rechnen, wenn ihn Mac-Mahon nicht entsetzen kann, was mehr als zweifelhaft ist. Mac-Mahons Armee wird im besten Fall zerstreut in die Festungen an der Nordgrenze gelangen, wo sie unschädlich sein wird. Die Reservearmeen, von denen jetzt gesprochen wird, werden aus Neuausgehobenen bestehen, vermischt mit einer gewissen Anzahl alter Soldaten, und unvermeidlich zum größten Teil nicht von Berufsoffizieren geführt werden; sie werden mit Waffen aller Arten ausgerüstet sein; sie werden im Gebrauch der Hinterlader vollkommen unausgebildet sein, was bedeutet, daß ihre Munition verbraucht ist, bevor sie wirklich gebraucht wird, mit einem Wort, sie |78| werden für das Feld ungeeignet und nur brauchbar zur Verteidigung von Festungen sein. Während die Deutschen nicht nur ihre Bataillone und Schwadronen wieder auf ihre volle Stärke gebracht haben, sondern auch weiterhin Landwehrdivision auf Landwehrdivision nach Frankreich schicken, sind die französischen vierten Bataillone noch nicht vollständig. Nur sechsundsechzig dieser vierten Bataillone haben sich zu "régiments de marche" |"Marschregimenter"| formiert und sind entweder nach Paris oder zu Mac-Mahon geschickt worden; die übrigen vierunddreißig waren vor einigen Tagen noch nicht marschbereit. Die Armeeorganisation versagt überall. Eine edle und tapfere Nation sieht alle ihre Anstrengungen zur Selbstverteidigung unwirksam werden, weil sie es zwanzig Jahre lang hingenommen hat, daß ihre Geschicke von einer Abenteurerclique geleitet wurden, die Verwaltung, Regierung, Heer, Marine - tatsächlich ganz Frankreich - zu ihrer persönlichen Bereicherungsquelle machte.