Über den Krieg - IX | Inhalt | Die Krise des Krieges
Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 17, 5. Auflage 1973, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 52-55.
Erstellt am 13.12.1998.
1. Korrektur.
["The Pall Mall Gazette" Nr. 1721 vom 19. August 1870]
|52| Wenn General Moltke auch ein alter Mann ist, seine Pläne atmen die ganze Energie der Jugend. Nicht zufrieden damit, daß er seine kompakte Armee schon einmal zwischen einen Flügel der Franzosen und den Rest ihrer Truppen getrieben hat, wiederholt er jetzt dasselbe Manöver, und offensichtlich mit dem gleichen Erfolg. Wenn er seinen geraden Marsch zur Marne fortgesetzt und nur die rechte Flanke und den Rücken der Franzosen während ihres parallelen Marsches nach demselben Ziel beunruhigt hätte, so würde er nach der Meinung der meisten Militärkritiker vollkommen genug getan haben. Aber es war wohl kaum zu erwarten, daß er den Beinen seiner Soldaten so gewaltige Kraftanstrengungen zumuten würde, wie er es jetzt allem Anschein nach getan hat. Was wir für bloße Angriffe einzelner Truppenteile auf die exponierte Flanke und den Rücken dieser langen, von Metz nach Verdun marschierenden Kolonne gehalten haben, scheint, wie es sich jetzt herausgestellt hat, nur die Rekognoszierung gewesen zu sein, die einem mit starken Kräften geführten Angriff vorangeht. Drei oder vier deutsche Armeekorps sind in einem Halbkreis südlich um Metz herummarschiert; ihre Voraustruppen erreichten die Marschlinie der Franzosen am Dienstag morgen |16. August 1870| und überfielen sie plötzlich. Die französische Armee begann ihren Rückzug aus Metz am Sonntag; die Gefechte zwischen Pange und Fort Bellecroix am Abend desselben Tages mögen diese Bewegung verzögert haben, doch wurde sie am Montag fortgesetzt und war am Dienstag noch nicht beendet. Sie wurde in mindestens zwei verschiedenen Kolonnen ausgeführt, welche die beiden Wege einschlugen, die sich in Gravelotte - fünf Meilen westlich von Metz - trennen. Der nördlichere dieser |53| beiden Wege verläuft über Doncourt und Etain, der südlichere über Vionville, Mars-la-Tour und Fresnes, und beide vereinigen sich wieder in Verdun. In der Nähe von Mars-la-Tour fand der deutsche Angriff statt; der Kampf dauerte den ganzen Tag und endete nach dem deutschen Bericht mit der Niederlage der Franzosen, die zwei Adler, sieben Kanonen und 2.000 Mann an Gefangenen verloren und nach Metz zurückgetrieben wurden. Andererseits beansprucht auch Bazaine den Sieg für sich. Er sagt, daß seine Truppen die Deutschen zurückschlugen und die Nacht in der gewonnenen Position verbrachten. Aber es gibt zwei sehr bedenkliche Angaben in seinem Telegramm vom Mittwoch abend. Er sagt darin, daß er den ganzen Dienstag zwischen Doncourt und Vionville kämpfte; das heißt, er kämpfte mit westwärts gerichteter Front, die sich von Doncourt nach Vionville erstreckte, während die Deutschen den Weg nach Verdun auf beiden Straßen abriegelten. Welchen Erfolg er auch beansprucht, er behauptet nicht, daß er die Wege nach Verdun oder auch nur einen von ihnen gesäubert hätte. Hätte er dies getan, so wäre es seine unbedingte Pflicht gewesen, seinen Rückzug noch in dieser Nacht so schnell er konnte fortzusetzen, da der Feind ganz bestimmt am Morgen Verstärkung erhalten hätte. Aber er hält an und verbringt die Nacht "in der gewonnenen Position", was immer diese Worte auch bedeuten mögen. Nicht zufrieden damit, bleibt er dort auch noch bis Mittwoch nachmittag vier Uhr, und sogar dann verkündet er seine Absicht - nicht etwa weiterzumarschieren, sondern die Fortsetzung seines Marsches noch einige Stunden zu verschieben, um seine Munitionsvorräte ordentlich aufzufüllen. So können wir sicher sein, daß er auch die Nacht zum Donnerstag an derselben Stelle zugebracht hat; und da Metz der einzige Platz war, wo er seine Munition auffüllen konnte, sind wir völlig berechtigt anzunehmen, daß die "eroberten Positionen" rückwärtige Positionen waren, daß der Rückzug nach Verdun abgeschnitten war und blieb und daß Marschall Bazaine im gegebenen Moment entweder nach Metz zurückgegangen ist oder versucht hat, auf einem weiter nördlichen Weg zu entrinnen.
Wenn diese Ansicht richtig ist - und wie könnte man die uns vorliegenden Angaben anders beurteilen -, so bedeutet das, daß wieder ein Teil der französischen Armee von den übrigen Truppen abgeschnitten ist. Wir wissen nicht, welche Truppen am Montag und am Dienstag morgen nach Verdun marschieren konnten, ehe die Deutschen herankamen. Aber der Teil, der nach Metz zurückgetrieben wurde, ist offensichtlich beträchtlich; doch welche Stärke er auch haben mag - um soviel kleiner wird die große Armee sein, die man in Châlons konzentrieren wollte. Es gibt allerdings |54| noch einen Ausweg für Bazaine, auf dem ein Entkommen möglich sein könnte. Dicht an der belgischen Grenze führt eine Eisenbahn von Thionville nach Longuyon, Montmédy und Mézières, die sich in Mézières mit einer Linie nach Reims und Châlons kreuzt. Aber alle Truppen, die diese Grenzbahn benutzen oder nur in dieser Richtung marschieren, können durch einen sie verfolgenden Feind bis an die Grenze getrieben und gezwungen werden, sich entweder zu ergeben oder die Grenze zu überschreiten, wo sie dann von den Belgiern entwaffnet würden. Außerdem dürfte auf dieser abgelegenen Eisenbahn nicht genügend rollendes Material vorhanden sein, um eine größere Anzahl Truppen zu befördern; und schließlich haben wir Berichte aus Verdun, daß die Preußen, nachdem sie offenbar die Mosel zwischen Metz und Thionville überschritten hatten, am Mittwoch in Briey waren, auf dem direkten Wege von Metz zu dem noch benutzbaren Teil dieser Eisenbahn. Würde Bazaine versuchen, seine geschlagenen Truppen auf diesem Wege zu retten, so würde er sie bestenfalls in ihrer Gesamtheit zur völligen Auflösung bringen. Ein langer Rückzug, wenn der Feind die direkte Verbindungslinie der geschlagenen Truppen beherrscht, ist ein überaus verzweifeltes Beginnen. Ein Beweis dafür sind Mac-Mahons Truppen, von denen unausgesetzt kleine Gruppen mit der Eisenbahn in Châlons ankommen. Am 12. trafen etwa 5.000 Mann ein - in welchem Zustande, darüber lassen wir den "Siècle" berichten: Es waren Soldaten aller Waffengattungen und Regimenter, ohne Waffen, ohne Patronen, ohne Tornister; die Kavallerie hatte keine Pferde, die Artillerie keine Geschütze; ein buntscheckiger, desorganisierter, demoralisierter Haufe, den wieder zu Bataillonen, Schwadronen und Batterien zu formieren Wochen dauern wird. Es besagt genug, daß Berichterstatter sich weigern, den Zustand der Linientruppen in Châlons zu beschreiben, aus Furcht, Dinge auszuplaudern, die dem Feinde von Nutzen sein könnten.
Jene große Armee, die sich in Châlons konzentrieren sollte, wird sich wohl niemals dort sammeln. Nachdem Canroberts Truppen teils nach Paris, teils nach Metz abgezogen wurden, sind nur die 18 Bataillone der Mobilgarde übriggeblieben, die nicht wert sind, in einem solchen Kriege erwähnt zu werden. Seitdem ist etwas Marine-Infanterie von Paris nach Châlons geschickt worden. Douays zwei verbleibende Divisionen werden, sofern Bazaines Dispositionen noch etwas gesunder Menschenverstand innewohnt, unterdessen angekommen sein. Vielleicht sind dort auch etliche vierte Bataillone, aber sicherlich nicht viele. Von den kürzlich aus Gendarmen und Douaniers gebildeten Regimentern dürften einige in diesen Tagen ankommen. Auch können ein paar kleine Franktireurabteilungen eintreffen. |55| Wenn wir aber alle diese Aushebungen unausgebildeter Mannschaften beiseite lassen, so würde der Hauptteil jener großen Armee, die in Châlons vor der Ankunft der Deutschen konzentriert werden kann, unter allen Umständen aus den sich von Metz zurückziehenden Truppen bestehen. Und was aus diesen nach den Kämpfen vom Dienstag geworden ist, das werden wir noch hören.
Die Ernennung des Generals Trochu zum Kommandeur der Armee, die zur Verteidigung von Paris bestimmt ist, so kurze Zeit nach seiner Ernennung zum Kommandeur des XII. Korps, das "in Paris formiert" wurde, beweist, daß nicht beabsichtigt ist, die Masse der Truppen, die jetzt in Paris ist, an die Front zu senden. Paris muß niedergehalten werden. Doch wer wird es niederhalten können, wenn die Wahrheit über die Schlacht vom letzten Dienstag dort bekannt wird?