Über den Krieg - X | Inhalt | Über den Krieg XI

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 17, 5. Auflage 1973, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 56-60.

Erstellt am 13.12.1998.
1. Korrektur.

Friedrich Engels

Die Krise des Krieges


["The Pall Mall Gazette" Nr. 1722 vom 20. August 1870]

|56| Der Kaiser hat die Armee verlassen, aber sein böser Geist ist bei ihr zurückgeblieben, jener böse Geist, der in brennender Ungeduld die Kriegserklärung übereilte und dann, als dies geschehen, unfähig war, sich zu irgend etwas zu entschließen. Die Armee sollte bis spätestens 20. Juli marschbereit sein. Der 20. Juli kam, und nichts war geschehen. Am 29. übernahm Napoleon III. den Oberbefehl in Metz; da war noch Zeit für einen fast unbehinderten Vormarsch bis zum Rhein; aber die Armee rührte sich nicht. Die Unschlüssigkeit scheint so groß gewesen zu sein, daß der Kaiser nicht einmal zu bestimmen vermochte, ob man überhaupt angreifen oder eine Verteidigungsstellung einnehmen solle. Die Spitzen der deutschen Kolonnen marschierten bereits aus allen Richtungen auf die Pfalz zu, und jeden Tag konnte man ihren Angriff erwarten. Dennoch blieben die Franzosen in ihren Stellungen an der Grenze, in Stellungen, die für einen Angriff bestimmt waren, der niemals unternommen wurde, und gänzlich ungeeignet für die Verteidigung, die bald ihr einziger Ausweg werden sollte. Die Unschlüssigkeit, die vom 29. Juli bis zum 5. August dauerte, war charakteristisch für den ganzen Feldzug. Das französische Heer war dicht an der Grenze aufgestellt worden, ohne daß die Vorhut in dem richtigen Abstand vor die Haupttruppen vorgeschoben worden wäre. Es gab nur zwei Wege, diesen Fehler zu beheben: Die Vorhut konnte entweder in Feindesland vorstoßen oder aber in ihrer gegenwärtigen Stellung an der Grenze bleiben, während die Haupttruppen einen Tagesmarsch weiter zurück näher zusammengezogen werden konnten. Der erste Plan würde jedoch zu Zusammenstößen mit dem Feind unter Verhältnissen geführt haben, die außerhalb der Kontrolle des Kaisers gestanden hätten; der zweite Plan dagegen hätte die politische Unmöglichkeit eines Rückzugs vor der ersten Schlacht ein- |57| begriffen. So dauerte die Unschlüssigkeit fort, und es wurde überhaupt nichts getan, gerade als ob sich der Feind davon anstecken lassen und ebenfalls auf ein Vorgehen verzichten werde. Aber der Feind ging vor. Bereits einen Tag bevor alle seine Truppen die Front erreicht hatten, am 4. August, beschloß er, die fehlerhafte Aufstellung der Franzosen auszunutzen. Die Schlacht bei Weißenburg zog alle Korps Mac-Mahons und de Faillys noch weiter vom Zentrum der französischen Stellungen ab. Als am 6. August die Deutschen nun vollständig bereitstanden, schlug ihre Dritte Armee die sechs Divisionen Mac-Mahons bei Wörth und trieb ihn mit de Faillys beiden übriggebliebenen Divisionen über Zabern nach Luneville. Inzwischen schlug die Vorhut der Ersten und der Zweiten Armee die Truppen Frossards und einen Teil der Truppen Bazaines bei Spichern. Dadurch wurde das ganze Zentrum und der linke Flügel der Franzosen auf Metz zurückgeworfen. So lag ganz Lothringen zwischen den beiden zurückgehenden französischen Armeen; und in diese weite Bresche ergoß sich die deutsche Kavallerie und hinter ihr die Infanterie, um den gewonnenen Vorteil so gut wie möglich auszunützen. Der Kronprinz ist getadelt worden, weil er Mac-Mahons geschlagene Armee nicht bis nach Zabern und darüber hinaus verfolgte. Aber nach der Schlacht bei Wörth wurde die Verfolgung in der geschicktesten Weise durchgeführt. Sobald die geschlagenen Truppen so weit nach Süden getrieben worden waren, daß sie den Rest der französischen Armee nur auf einem Umweg wieder erreichen konnten, marschierten die Verfolger geradewegs nach Nancy und hielten sich beständig zwischen den beiden Armeen. Daß diese Art der Verfolgung (dieselbe wie die Napoleons I. nach der Schlacht bei Jena) wenigstens ebenso wirksam ist wie ein direkter Marsch hinter den Fliehenden her, zeigt sich jetzt in den Ergebnissen. Was noch von diesen acht Divisionen übriggeblieben ist, ist entweder von den Haupttruppen abgeschnitten oder ist im Zustand vollständiger Auflösung zu ihnen gestoßen.

Soviel über die Folgen der Unschlüssigkeit, die den Beginn des Feldzuges kennzeichnete. Man dürfte eigentlich erwarten, daß derselbe Fehler nicht noch einmal begangen wird. Der Kaiser hatte den Oberbefehl an Marschall Bazaine abgetreten. Marschall Bazaine dürfte wohl gewußt haben, daß, was er auch tat oder unterließ, der Feind kein Gras unter seinen Füßen wachsen lassen würde.

Die Entfernung zwischen Forbach und Metz beträgt nicht ganz fünfzig Meilen. Die meisten Korps hatten weniger als dreißig Meilen zurückzulegen. In drei Tagen würden sie sicher den Schutz von Metz erreicht haben, und am vierten Tage konnte der Rückzug nach Verdun und Châlons |58| begonnen werden, denn über die Notwendigkeit dieses Rückzugs konnten keine Zweifel mehr bestehen. Die acht Divisionen Mac-Mahons und die zwei übrigen Divisionen des Generals Douay - mehr als ein Drittel der Armee - konnten sich unmöglich an einem näheren Punkt als Châlons mit Bazaine vereinigen. Bazaine hatte zwölf Divisionen, einschließlich der Kaiserlichen Garde, so daß er selbst nach der Vereinigung mit drei Divisionen von Canrobert mitsamt Kavallerie und Artillerie nicht mehr als 180.000 Mann haben konnte - eine Armee, die für ein Treffen auf dem Schlachtfeld völlig ungenügend war. Wenn er also nicht beabsichtigte, ganz Frankreich dem eindringenden Feinde preiszugeben und sich selbst an einem Ort einschließen zu lassen, wo die Hungersnot ihn bald zwingen würde, sich zu ergeben oder unter vom Feinde diktierten Umständen zu kämpfen - so durfte er nicht einen Augenblick zögern, sich sofort aus Metz zu entfernen. Doch er rührt sich nicht von der Stelle. Am 11. August erscheint die deutsche Kavallerie bei Luneville; er aber gibt noch immer kein Zeichen zum Aufbruch. Am 12. setzen die Deutschen über die Mosel, requirieren in Nancy; sie zerstören die Eisenbahn zwischen Metz und Frouard, sie zeigen sich in Pont-à-Mousson. Am 13. besetzt ihre Infanterie Pont-à-Mousson, und sie beherrschen nunmehr beide Ufer der Mosel. Endlich am Sonntag, dem 14. August, beginnt Bazaine, seine Truppen auf das linke Ufer überzusetzen. Es entwickelt sich das Gefecht bei Pange, durch das der Rückzug offensichtlich wiederum verzögert wird. Wir dürfen vermuten, daß am Montag der wirkliche Rückzug auf Châlons damit begonnen wurde, daß man den schweren Train und die Artillerie in Marsch setzte. Aber an jenem Montag befand sich die deutsche Kavallerie bereits jenseits der Maas in Commercy und in Vigneulles, also in zehn Meilen Entfernung von der französischen Rückzugslinie. Wieviele Truppen am Montag und am Dienstag morgen abmarschierten, können wir nicht sagen; aber es scheint sicher, daß die Haupttruppen noch zurück waren, als das deutsche III. Korps und die Reservekavallerie die marschierenden Kolonnen in der Nähe von Mars-la-Tour am Dienstag, dem 16. August, gegen neun Uhr morgens angriffen. Das Ergebnis ist bekannt: Bazaines Rückzug wurde wirksam aufgehalten. Seine eigenen Telegramme vom 17. August beweisen, daß er im besten Falle nur die Stellung behauptete, die hinter sich zu lassen sein einziger Wunsch war.

Am Mittwoch, dem 17. August, scheinen sich die beiden Armeen eine Atempause gegönnt zu haben. Aber am Donnerstag wurde jede Hoffnung Bazaines auf ein Gelingen seines Rückzugs endgültig zerstört. Die Preußen griffen ihn an jenem Morgen an, und nach neunstündiger Schlacht

|59| "war die französische Armee vollständig geschlagen, von ihren Verbindungen mit Paris abgeschnitten und gegen Metz zurückgeworfen".

An jenem Abend oder am folgenden Tage muß die Rheinarmee die Festung wieder bezogen haben, die sie Anfang der Woche verlassen hatte. Ist sie erst einmal dort eingeschlossen, so wird es für die Deutschen leicht sein, alle Zufuhren abzuschneiden, und das um so eher, als das Land durch die lange Anwesenheit von Truppen bereits vollständig erschöpft ist und die einschließende Armee selbstverständlich für ihren eigenen Gebrauch alles Erreichbare requirieren wird. So muß der Hunger Bazaine bald zu einer Bewegung zwingen, aber in welcher Richtung, ist schwer zu sagen. Einer Bewegung nach Westen wird sich sicher eine große Übermacht entgegenstellen; eine Bewegung nach Norden ist äußerst gefährlich; ein Durchbruch nach Südosten könnte vielleicht teilweise gelingen, würde aber ohne jeden unmittelbaren Erfolg sein. Selbst wenn er Belfort oder Besançon mit einer desorganisierten Armee erreichte, könnte er keinen nennenswerten Einfluß auf das Schicksal des Feldzugs ausüben. Dies ist die Lage, in die die Unschlüssigkeit in der zweiten Phase des Feldzugs die französische Armee gebracht hat. Ohne Zweifel ist dies der Regierung in Paris genau bekannt. Die Rückberufung der Mobilgarde von Châlons nach Paris beweist das. Von dem Augenblick an, da Bazaines Hauptkräfte abgeschnitten sind, hat die Stellung von Châlons, die nur ein Sammelpunkt war und nichts weiter, jede Bedeutung verloren. Der nächste Sammelpunkt für alle Streitkräfte ist jetzt Paris, und dorthin müßte sich nun alles bewegen. Es gibt keine Streitkräfte, die auf dem Schlachtfeld der deutschen Dritten Armee, welche jetzt wahrscheinlich auf die Hauptstadt marschiert, Widerstand leisten könnten. Binnen kurzem werden die Franzosen sich in der Praxis davon überzeugen können, ob die Befestigungen von Paris das wert sind, was sie gekostet haben.

Obgleich diese Endkatastrophe seit Tagen drohte, ist es bis heute kaum möglich, sich vorzustellen, daß es tatsächlich soweit gekommen ist. Die Wirklichkeit übertraf jede Erwartung. Vor zwei Wochen spekulierten die Engländer über die möglichen Folgen, die ein Sieg der französischen Armee in der ersten großen Schlacht nach sich ziehen würde. Sie befürchteten besonders, daß ein solcher Anfangserfolg Napoleon III. als Vorwand zu einem schnellen Frieden auf Kosten Belgiens dienen werde. In dieser Hinsicht wurden sie schnell beruhigt. Die Schlachten bei Wörth und Forbach zeigten, daß die französischen Waffen keinen theatralischen Triumph zu erwarten hatten. Der Beweis, daß Deutschland nichts von Frankreich zu befürchten hat, schien ein baldiges Ende des Krieges zu versprechen. Man dachte, die |60| Zeit müsse bald kommen, wo die Franzosen zugeben würden, daß der Versuch, dem Zusammenschluß Deutschlands unter Preußens Führung entgegenzuwirken, mißlungen sei, daß es infolgedessen nichts mehr gebe, wofür sie kämpfen müßten, während die Deutschen kaum Wert darauf legen würden, den gefahrvollen und ungewissen Krieg weiterzuführen, nachdem das Zugeständnis, das sie erzwingen wollten, bereits erreicht worden war. Die ersten fünf Tage dieser Woche haben die gesamte Lage der Dinge wiederum verändert. Die militärische Macht Frankreichs ist allem Anschein nach gänzlich vernichtet worden, und im Augenblick scheint es für den deutschen Ehrgeiz keine Grenze zu geben, außer der zweifelhaften Schranke deutscher Mäßigung. Wir können vorläufig noch nicht die politischen Ergebnisse dieser furchtbaren Schlappe abschätzen. Wir können nur erstaunt sein über ihr Ausmaß, darüber, daß sie so überraschend eintrat und bewundern, wie sie von den französischen Truppen ertragen worden ist. Daß sie nach viertägigem, fast ununterbrochenem Kampf unter den entmutigendsten Bedingungen, die es nur geben kann, am fünften Tag dem Angriff eines weitaus überlegenen Gegners neun Stunden lang Widerstand leisteten, stellt ihrem Mut und ihrer Entschlossenheit das denkbar beste Zeugnis aus. Niemals, selbst nicht in ihren glorreichsten Feldzügen, hat die französische Armee mehr wahren Ruhm gewonnen als in ihrem unglücklichen Rückzug von Metz.