Über den Krieg - V | Inhalt | Über den Krieg - VII

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 17, 5. Auflage 1973, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 36-39.

Erstellt am 13.12.1998.
1. Korrektur.

Friedrich Engels

Über den Krieg - VI


["The Pall Mall Gazette" Nr. 1714 vom 11. August 1870]

|36| Es besteht jetzt schon kein Zweifel mehr darüber, daß es wohl kaum je einen Krieg gegeben hat, der mit einer derartigen Vernachlässigung der einfachen Regeln der Vernunft unternommen wurde wie der napoleonische "militärische Spaziergang nach Berlin". Ein Krieg um den Rhein war Napoleons letzte und wirkungsvollste Karte. Aber gleichzeitig bedeutete der Fehlschlag den Sturz des Zweiten Kaiserreichs. Dies wurde in Deutschland gut verstanden. Die ständige Erwartung eines französischen Krieges war einer der Hauptbeweggründe, die sehr viele Deutsche sich mit den Veränderungen von 1866 abfinden ließen. Wenn Deutschland in gewissem Sinne zerstückelt wurde, ist es andererseits gestärkt worden. Die militärische Organisation Norddeutschlands gab eine weit größere Sicherheitsgarantie als der größere, aber schlafmützige alte Bund. Diese neue militärische Organisation war so berechnet, daß sie in elf Tagen 552.000 Mann der Linie und 205.000 Mann der Landwehr in organisierten Bataillonen, Schwadronen und Batterien unter Waffen stellen konnte und in weiteren vierzehn Tagen oder drei Wochen noch einmal 187.0000 Mann Ersatztruppen, durchaus für den Felddienst geeignet. Das war kein Geheimnis. Der ganze Plan der Verteilung dieser Truppen auf die verschiedenen Armeekorps, der Plan der Gebiete, aus denen jedes Bataillon usw. ausgehoben werden sollte, ist des öfteren veröffentlicht worden. Überdies hatte die Mobilmachung von 1866 gezeigt, daß diese Organisation keineswegs nur auf dem Papier stand. Jeder Mann war genau registriert, und es war gut bekannt, daß in dem Büro jedes Distriktskommandeurs der Landwehr die Einberufungsbefehle für jeden Mann bereitlagen und nur das Datum ausgefüllt werden brauchte. Für den französischen Kaiser bestanden jedoch solche ungeheuren Truppenmassen nur auf dem Papier. Die ganze Macht, |37| die er zusammenbrachte, um den Feldzug zu eröffnen, waren höchstens 360.000 Mann der Rheinarmee und weitere 30.000 bis 40.000 Mann für die Ostsee-Expedition, insgesamt also 400.000 Mann. Bei einem solchen Mißverhältnis der zahlenmäßigen Stärke und bei der langen Zeit, die erforderlich ist, bis die französischen neuen Formationen (die vierten Bataillone) für das Feld tauglich sind, war seine einzige Hoffnung auf Erfolg ein überraschender Angriff, solange sich die Deutschen noch mitten in der Mobilmachung befanden. Wir haben gesehen, wie er sich diese Gelegenheit entgehen ließ und wie sogar die zweite Chance, nämlich die eines Vorstoßes an den Rhein, versäumt wurde. Wir werden jetzt einen weiteren Fehler aufdecken.

Die Disposition der Franzosen zur Zelt der Kriegserklärung war ausgezeichnet - augenscheinlich der Hauptbestandteil eines lang überlegten Feldzugsplans. Drei Korps in Thionville, St. Avold und Bitsch in der ersten Linie, unmittelbar hinter der Grenze; zwei Korps in Metz und Straßburg in der zweiten Linie; zwei Korps als Reserve bei Nancy und ein achtes Korps in Belfort. Mit Hilfe der Eisenbahn konnten diese Truppen in wenigen Tagen für einen Angriff zusammengezogen werden, um entweder die Saar von Lothringen oder den Rhein vom Elsaß her zu überschreiten und entweder nach Norden oder nach Osten vorzustoßen, je nach Erfordernis. Aber diese Disposition war für einen Angriff berechnet. Für die Verteidigung war sie absolut fehlerhaft. Die allererste Bedingung der Disposition einer Armee für die Verteidigung ist: die Vorhut in solcher Entfernung von der Hauptstreitmacht aufzustellen, daß die Nachrichten von einem feindlichen Angriff rechtzeitig genug eintreffen, um die eigenen Truppen konzentrieren zu können, ehe der Feind sie erreicht. Angenommen, es erfordere einen Tagesmarsch, die Flügel an das Zentrum heranzuziehen, dann muß die Vorhut sich mindestens einen Tagesmarsch vor dem Zentrum befinden. In unserem Falle jedoch waren die drei Korps von Ladmirault, Frossard und de Failly, und danach auch ein Teil von Mac-Mahons Truppen, dicht an der Grenze und doch gleichzeitig über die Linie Weißenburg - Sierck, das sind wenigstens 90 Meilen, zerstreut. Die Flügel an das Zentrum heranzuziehen würde volle zwei Tagesmärsche erfordert haben, und selbst als bekannt wurde, daß die Deutschen nur noch wenige Meilen entfernt seien, wurden keine Schritte unternommen, um entweder die Länge der Front zu verkürzen oder die Vorhut so weit vorzuschieben, daß die rechtzeitige Meldung eines bevorstehenden Angriffs gesichert gewesen wäre. Ist es daher verwunderlich, daß die verschiedenen Korps einzeln geschlagen wurden?

|38| Dann kam der Fehler, eine Division Mac-Mahons östlich der Vogesen, bei Weißenburg, in einer Stellung zu postieren, die zu einem Angriff mit überlegenen Kräften herausforderte. Douays Niederlage veranlaßte Mac-Mahons nächsten Fehler. Er versuchte, den Kampf östlich der Vogesen wiederaufzunehmen, entfernte dadurch den rechten Flügel noch weiter vom Zentrum und legte seine Verbindungslinien zu diesem bloß. Während der rechte Flügel (Mac-Mahons und wenigstens Teile von Faillys und Canroberts Korps) bei Wörth vernichtet wurde, wurde das Zentrum (Frossard und zwei Divisionen von Bazaine, wie sich jetzt herausstellt) vor Saarbrücken schwer geschlagen. Die übrigen Truppen waren zu weit entfernt, um zur Unterstützung herbeizueilen. Ladmirault war noch bei Bouzonville, der Rest von Bazaines Truppen und die Garde standen bei Boulay, die Masse von Canroberts Truppen taucht jetzt bei Nancy auf, ein Teil der Truppen de Faillys ist vollständig aus dem Blickfeld verschwunden, und Félix Douay war, wie wir jetzt erfahren, am 1. August bei Altkirch, im äußersten Süden des Elsaß, beinahe 120 Meilen vom Schlachtfeld bei Wörth entfernt, und hatte aller Wahrscheinlichkeit nach nur mangelhafte Transportmöglichkeiten per Eisenbahn. Das ganze Arrangement zeigt nichts als Zaudern, Unentschiedenheit und Schwanken, und das in dem entscheidendsten Augenblick des Feldzugs.

Welche Vorstellung erzeugte man bei den Soldaten von ihren Gegnern? Es war gewiß ganz gut, daß der Kaiser im letzten Augenblick seinen Soldaten erzählte, daß sie "einer der besten Armeen Europas" gegenüberzutreten hätten. Aber das war gleich Null nach dem Unterricht in Preußenverachtung, den man ihnen jahrelang erteilt hatte. Wir können dies nicht besser als durch das Zeugnis des Hauptmanns Jeannerod vom "Temps" zeigen, den wir bereits zitiert haben und der erst vor drei Jahren aus der Armee ausschied. Er wurde bei der "Feuertaufe" von den Preußen gefangengenommen, weilte zwei Tage unter ihnen und hat in dieser Zelt den größeren Teil ihres VIII. Armeekorps gesehen. Er war erstaunt, einen so großen Unterschied zwischen seiner Vorstellung von ihnen und der Wirklichkeit zu finden. Sein erster Eindruck, als sie ihn in ihr Lager brachten, war folgender:

"Sobald wir im Walde waren, änderte sich die Szene. Unter den Bäumen Schildwachen, auf der Landstraße Bataillone in guter Ordnung aufgestellt; täusche man doch nicht unser Publikum auf eine Art, die unsres Landes und der Zeitumstände unwürdig ist. Vom ersten Schritt an sah ich jene Merkmale, die eine ausgezeichnete Armee (une |39| belle et bonne armée), eine Nation, die vorzüglich für den Krieg gerüstet ist, kennzeichnen. Worin bestehen diese Merkmale? In allem. Die Haltung der Soldaten, der bis ins kleinste gehende Gehorsam gegen Vorgesetzte, welche durch eine weit strengere Disziplin als es die unsre ist, unterstützt werden; die Heiterkeit der einen, die ernste und strenge Miene der andern, der Patriotismus, dem die meisten von ihnen Ausdruck gaben, der hingebende, beständige Eifer der Offiziere und vorzüglich die moralische Gewalt der Unteroffiziere, für uns leider ein Gegenstand des Neides. Alles das hat mich sofort frappiert, und ich habe es während der zwei Tage, die ich inmitten dieser Armee und in diesem Lande zubrachte, wo von Ort zu Ort Schilder mit Nummern der Ortsbataillone der Landwehr aufgestellt sind, die daran erinnern, zu welchen Anstrengungen es im Moment der Gefahr oder des Ehrgeizes fähig ist, niemals anders gesehen."

Auf deutscher Seite war es ganz anders. Die militärischen Qualitäten der Franzosen wurden keineswegs zu gering angeschlagen. Die Konzentration der deutschen Truppen fand schnell, aber vorsichtig statt. Jeder verfügbare Mann wurde an die Front geschickt. Jetzt, nachdem das I. norddeutsche Armeekorps bei der Armee des Prinzen Friedrich Karl in Saarbrücken erschienen ist, sind wir sicher, daß jeder Mann, jedes Pferd und jedes Geschütz der 550.000 Mann der Linientruppen an die Front gebracht worden ist, um sich dort mit den süddeutschen Truppen zu vereinigen. Und die Wirkung dieser so überaus beträchtlichen zahlenmäßigen Überlegenheit ist bis jetzt durch eine überlegene Feldherrnkunst noch gesteigert worden.