Die preußischen Siege | Inhalt | Über den Krieg - VI
Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 17, 5. Auflage 1973, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 32-35.
Erstellt am 13.12.1998.
1. Korrektur.
["The Pall Mall Gazette" Nr. 1712 vom 9. August 1870]
|32| Sonnabend, der 6. August, war der kritische Tag der ersten Phase dieses Feldzugs. Die ersten deutschen Depeschen verbergen durch ihre außerordentliche Zurückhaltung eher die Bedeutung der an diesem Tage erzielten Ergebnisse, als daß sie sie offenbaren. Nur infolge der späteren und ausführlicheren Schilderungen und der ziemlich ungeschickten Eingeständnisse in den französischen Berichten können wir den völligen Wechsel beurteilen, der sich am Sonnabend in der militärischen Lage vollzogen hat.
Während Mac-Mahon auf dem Ostabhang der Vogesen geschlagen wurde, wurden Frossards drei Divisionen und wenigstens ein Regiment von Bazaines Korps, das 69., zusammen zweiundvierzig Bataillone, durch Kamekes Division vom VII. (westfälischen) Korps und die zwei Divisionen Barnekow und Stülpnagel vom VIII. (rheinischen) Korps, zusammen siebenunddreißig Bataillone, von den Höhen südlich von Saarbrücken herunter und bis über Forbach hinaus getrieben. Da die deutschen Bataillone zahlenmäßig stärker sind als die französischen, scheinen die kämpfenden Truppen gleich stark gewesen zu sein; aber die Franzosen hatten den Vorteil der günstigeren Stellung. Links von Frossard standen die sieben Infanteriedivisionen von Bazaine und Ladmirault und in seinem Rücken zwei Divisionen der Garde. Mit Ausnahme des einen erwähnten Regiments kam nicht ein Mann von allen diesen Truppen heran, um den unglücklichen Frossard zu unterstützen. Er mußte nach einer empfindlichen Niederlage zurückweichen und befindet sich jetzt in vollem Rückzug auf Metz, ebenso Bazaine, Ladmirault und die Garde. Die Deutschen verfolgen sie und erreichten am Sonntag St. Avold. Ganz Lothringen bis Metz hin liegt nunmehr offen vor ihnen.
|33| Inzwischen ziehen sich Mac-Mahon, de Fallly und Canrobert auf Nancy zurück - nicht nach Bitsch, wie zuerst berichtet wurde. Mac-Mahons Hauptquartier war am Sonntag in Zabern. Diese drei Korps sind also nicht nur geschlagen, sondern auch in einer Richtung zurückgetrieben worden, die von der Rückzugslinie der übrigen Armee abweicht. Der strategische Vorteil, der mit dem Angriff des Kronprinzen beabsichtigt war und gestern von uns erklärt wurde, scheint somit wenigstens teilweise erreicht worden zu sein. Während sich der Kaiser nach Westen zurückzieht, geht Mac-Mahon viel weiter nach Süden und wird Luneville kaum zu dem Zeitpunkt erreicht haben, da die anderen vier Korps bereits unter dem Schutz von Metz zusammengezogen sind. Aber von Saargemünd nach Luneville ist es nur wenige Meilen weiter als von Zabern nach Luneville. Es ist nicht zu erwarten, daß - während Steinmetz den Kaiser verfolgt und der Kronprinz Mac-Mahon in den Engpässen der Vogesen festzuhalten versucht - Prinz Friedrich Karl, der am Sonntag in Blieskastel war, während seine Vorhut in der Nähe von Saargemünd stand, ruhig zusehen wird. Das ganze nördliche Lothringen ist ein prächtiges Kavalleriegelände, und in Friedenszeiten war Luneville stets das Hauptquartier eines großen Teils der französischen Kavallerie, die in der Umgegend einquartiert war. Bei der großen Überlegenheit der deutschen Kavallerie, sowohl quantitativ wie qualitativ, ist durchaus anzunehmen, daß man schnellstens große Massen dieser Waffe gegen Luneville werfen wird, mit der Absicht, die Verbindungen zwischen Mac-Mahon und dem Kaiser abzuschneiden sowie die Eisenbahnbrücken auf der Linie Straßburg - Nancy und, wenn möglich, die Brücken über die Meurthe zu zerstören. Und es ist sogar möglich, daß es ihnen gelingt, eine Infanterieabteilung zwischen die beiden getrennten Teile der französischen Armee zu schieben und dadurch Mac-Mahon zu zwingen, sich noch weiter südwärts zurückzuziehen und einen noch größeren Umweg zu machen, um seine Verbindung mit der übrigen Armee wieder herzustellen. Daß etwas Derartiges geschehen ist, geht klar aus dem Eingeständnis des Kaisers hervor, daß am Sonnabend seine Verbindungen mit Mac-Mahon unterbrochen wurden. Die Furcht vor ernsteren Konsequenzen drückt sich andeutungsweise in der Nachricht von der beabsichtigten Verlegung des französischen Hauptquartiers nach Châlons aus.
Vier von den acht Korps der französischen Armee sind somit mehr oder weniger vollständig geschlagen, und zwar stets einzeln. Dagegen ist der Aufenthalt des VII. Armeekorps (Félix Douay) gänzlich unbekannt. Die Strategie, die solche Fehler möglich machte, ist der der Österreicher in ihren hilflosesten Zeiten würdig. Nicht an Napoleon I. erinnert sie, sondern an |34| Beaulieu, Mack, Gyulay und ähnliche. Man stelle sich vor: Frossard mußte den ganzen Tag bei Forbach kämpfen, während zu seiner linken Seite und nicht mehr als etwa zehn Meilen von der Saarlinie entfernt sieben Divisionen diesem Schauspiel zusahen! Dies wäre völlig unerklärlich, es sei denn, wir nehmen an, daß ihnen genügend deutsche Truppen gegenüberstanden, sie zu hindern, entweder Frossard zu unterstützen oder einen selbständigen Angriff zu seiner Entlastung zu machen. Diese einzig mögliche Entschuldigung ist aber nur dann zulässig, wenn, wie wir ständig gesagt haben, der entscheidende Angriff der Deutschen durch ihren äußersten rechten Flügel beabsichtigt war. Der hastige Rückzug nach Metz bestätigt erneut diese Absicht. Er gleicht völlig einem rechtzeitigen Versuch, sich aus einer Stellung zurückzuziehen, deren Verbindungen mit Metz bereits bedroht sind. Welche deutschen Truppen dort in Front standen und vielleicht Ladmirault und Bazaine überflügelt haben, wissen wir nicht. Wir dürfen aber nicht vergessen, daß von Steinmetz' sieben oder mehr Divisionen nur drei eingesetzt worden sind.
Inzwischen ist noch ein norddeutsches Armeekorps aufgetaucht: das VI. oder oberschlesische. Es marschierte am letzten Donnerstag durch Köln und wird jetzt unter dem Kommando von Steinmetz oder Friedrich Karl sein, den die "Times" absolut auf der äußersten Rechten - in Trier - vermutet, während dieselbe Nummer dieser Zeitung das Telegramm enthält, daß er von Homburg nach Blieskastel abmarschiert ist. Die Überlegenheit der Deutschen an Zahl, Moral und strategischer Position muß jetzt derart sein, daß sie augenblicklich ungestraft fast alles tun können, was sie wollen. Wenn der Kaiser beabsichtigt, seine vier Armeekorps in dem verschanzten Lager von Metz zu halten - und er hat nur die Wahl zwischen diesem und einem ununterbrochenen Rückzug auf Paris -, so braucht das den Vormarsch der Deutschen ebensowenig aufzuhalten, wie 1866 Benedeks Versuch, seine Armee unter dem Schutz von Olmütz wieder zusammenzuziehen, den Vormarsch der Preußen auf Wien aufhielt. Benedek! Welch ein Vergleich für den Sieger von Magenta und Solferino! Und doch ist dieser Vergleich eher am Platz als jeder andere. Ebenso wie Benedek hatte der Kaiser seine Truppen in einer Stellung zusammengezogen, von der er sich in jeder Richtung bewegen konnte, und das volle vierzehn Tage, bevor der Feind konzentriert war. Wie Benedek ließ es Louis-Napoleon dazu kommen, daß ein Armeekorps nach dem anderen durch zahlenmäßig überlegene Truppen oder überlegene Feldherrnkunst einzeln geschlagen wurde. Aber hier, fürchten wir, hört die Ähnlichkeit auf. Benedek hatte nach einer Woche täglicher Niederlagen noch Kraft genug zu dem großen Kampf bei |35| Sadowa. Napoleon aber hat allem Anschein nach seine Truppen nach zwei Tagen Kampf fast hoffnungslos zersplittert und kann sich nicht gestatten, eine Hauptschlacht zu wagen.
Wie wir vermuten, dürfte es mit der beabsichtigten Truppenexpedition nach der Ostsee jetzt vorbei sein, wenn das überhaupt jemals mehr als eine Finte war. Jedes Bataillon wird an der Ostgrenze gebraucht werden. Von den 376 Bataillonen der französischen Armee standen in den sechs Linienkorps und in dem einen Korps der Garde bekanntlich 300 Bataillone zwischen Metz und Straßburg. Das siebente Linienkorps (Douay), das sind noch 40 Bataillone, hätte entweder an die Ostsee oder zur Hauptarmee gesandt werden können. Die übrigen 36 Bataillone dürften kaum für Algier und die verschiedenen anderen Aufgaben im Innern genügt haben. Welche Hilfsquellen hat der Kaiser, um Verstärkungen heranzuziehen? Die 100 vierten Bataillone, die jetzt im Entstehen begriffen sind, und die Mobilgarde. Aber alle beide, die ersteren großenteils, die letztere ganz, bestehen aus unausgebildeten Rekruten. In welcher Zeit die vierten Bataillone zum Abmarsch fertig sein werden, wissen wir nicht; sie werden marschieren müssen, ob fertig oder nicht. Was die Mobilgarde gegenwärtig ist, sahen wir in der vorigen Woche im Lager von Châlons. Aus beiden mögen zwar ohne Zweifel einmal gute Soldaten werden, sie sind aber noch keine Soldaten und erst recht keine Truppen, die dem Ansturm von Mannschaften widerstehen können, die Übung darin erlangen, Mitrailleusen zu erobern. Andererseits werden die Deutschen in etwa zehn Tagen 190.000 bis 200.000 Mann der vierten Bataillone u.a. zur Verfügung haben, also die Blüte ihrer Armee, und außerdem mindestens eine gleiche Zahl an Landwehrtruppen, die alle für den Dienst im Felde geeignet sind.