Inhaltsverzeichnis Artikel und Korrespondenzen 1865

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 16, 6. Auflage 1975, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 35.

1. Korrektur.
Erstellt am .

Karl Marx

Der "Präsident der Menschheit"


["Berliner Reform" Nr. 88 vom 13. April 1865]

|91| Bei meiner Rückkehr von Holland nach London präsentiert mir der "Social-Demokrat" in Nr. 39 einen von Herrn Bernh. Becker eigenhändig gebackenen Asafötida-Kuchen, größtenteils aus Vogtschen Verleumdungskrumen zusammengesetzt. Die gerichtlich dokumentierte Widerlegung der Vogtschen Lügenmärchen findet man in meiner Schrift "Herr Vogt", London 1860. Ganz wider seine Gewohnheit jedoch begnügt sich Herr Bernhard Becker, der "Präsident der Menschheit", diesmal nicht bloß mit der Abschreiberei. Zum ersten Mal in seinem Leben versucht er, auch etwas Eigenes zu geben.

"Ja, Marx", sagt der "Präsident der Menschheit", "versetzte durch Dronke für 1.000 Tlr. ein Manuskript, welches der preußische Polizeikommissar Stieber, der in London unter den Flüchtlingen herumspionierte, auslöste."

Und dreimal im Lauf seines selbstmündlichen Präsidialvortrages kehrt unser Bernhard Becker mit stets wachsender Heiterkeit zurück zu dieser "Tatsache". Seite 124 meines "Herrn Vogt" sage ich in einer Note:

"Ich selbst hatte Bangya mit seinem damaligen Freunde, dem jetzigen General Türr, 1850 in London kennengelernt. Den Verdacht, den mir seine Mogeleien mit allen möglichen Parteien - Orleanisten, Bonapartisten usw. - und sein Umgang mit Polizisten jeder 'Nationalität' einflößten, schlug er einfach nieder durch Vorzeigung eines ihm von Kossuth eigenhändig ausgefertigten Patents, worin er, früher schon provisorischer Polizeipräsident zu Komorn unter Klapka, zum Polizeipräsidenten in partibus bestallt war. Geheimer Polizeichef im Dienste der Revolution, mußte er sich natür- |92| lich die Zugänge zur Polizei im Dienste der Regierungen 'offen'halten. Im Laufe des Sommers 1852 entdeckte ich, daß er ein Manuskript, das ich ihm zur Besorgung an einen Buchhändler in Berlin anvertraut, unterschlagen und einer deutschen Regierung in die Hände gespielt hatte. Nachdem ich über diesen Vorfall und andere mir längst auffällige Eigentümlichkeiten des Mannes an einen Ungarn" (Szemere) "zu Paris geschrieben und durch die Intervention einer dritten, genau unterrichteten Person das Mysterium Bangya völlig gelöst worden war, sandte ich eine öffentliche Denunziation, unterzeichnet mit meinen Namen, Anfang 1853 der 'New-Yorker Criminal-Zeitung' zu."

Der "Präsident der Menschheit" hat offenbar die ausführliche, von mir vor 13 Jahren in der "New-Yorker Criminal-Zeitung" veröffentlichte Denunziation Bangyas, der damals noch zu London hauste, nicht gelesen. Er hätte sonst wohl seine Dichtung dem Tatbestande etwas näher angeschmiegt. So überläßt er sich ganz dem Spiel seiner holden Phantasie, und was lag der näher als die angenehme Ideenassoziation von London und Versetzen? Doch stehe ich dafür, daß Bernhard Becker niemals seine Manuskripte versetzt hat.

Der "Präsident der Menschheit" geruhte ferner hinzuzufügen,

"daß Marx beim Entstehen des Wiener 'Botschafters', des offiziösen Organs der österreichischen Regierung, mich" (eben denselbigen Bernhard Becker) "als Korrespondenten für denselben gewinnen wollte, indem er mir den offiziösen Charakter des auftauchenden Blattes, das, wie er sagte, ihm zugeschickt worden war, verschwieg und im Gegenteil betonte, daß ich ganz rote |in er "Berliner Reform" irrtümlich: rohe| Artikel hineinliefern dürfe".

Herr Bernhard Becker, der damals noch nicht "Präsident der Menschheit" war, auch die unverbrüchliche Gewohnheit besaß, "ganz blasse Artikel" in den Londoner "Hermann" zu kritzeln, überraschte mich (ich hatte ihn vorher nur ein oder zweimal zufällig gesehen), kurz bevor er sich aus sicheren Gründen still aus London wegstahl, eines schönen Abends mit einem leibhaftigen Besuche in meinem Hause. Er winselte mir kläglich sein Mißgeschick vor und fragte an, ob ich ihm Korrespondenzen zur Hilfe aus bitterer Not verschaffen könne? Ich erwiderte, Herr Kolatschek habe vor einigen Tagen Herrn S. Borkheim, politischen Flüchtling und Kaufmann in der City, die Gründung eines neuen, angeblich "sehr liberalen" Wiener Blattes angezeigt, ihm Probenummern zugeschickt und ihn ersucht, einen Londoner Korrespondenten zu werben. Auf Bernhard Beckers heißen Wunsch versprach ich, mich für ihn an Herrn Borkheim, der Flüchtlingen |93| stets gern gefällig ist, in dieser Angelegenheit zu wenden. Bernhard Becker schrieb auch, soviel ich mich erinnere, einen oder mehrere Probeartikel nach Wien. Und sein fehlgeschlagener Versuch, Korrespondent des "Botschafters" zu werden, beweist meine Allianz mit der österreichischen Kanzlei! Herr Bernhard Becker glaubt offenbar, daß, weil die Gräfin Hatzfeldt ihm ein Amt, der Herrgott ihm auch den dazu nötigen Verstand gegeben hat!

"Systematisch", erzählt Bernhard Becker weiter, "bearbeitet Liebknecht nun die Gräfin Hatzfeldt, an welche auch Marx Telegramme und Briefe schickt, um sie gegen den Verein aufzureizen."

Herr Bernhard Becker wähnt, ich nehme die ihm testamentarisch überkommene Wichtigkeit ganz so "systematisch" ernsthaft wie er selbst! Meine Briefe an die Gräfin Hatzfeldt nach dem Tode Lassalles bestanden aus einem Kondolenzschreiben, aus Antworten auf verschiedene, mir wegen der beabsichtigten Lassalle-Broschüre gestellte Fragen und aus Erörterungen über eine mir abverlangte und in der Tat erfolgte Abwehr wider einen Verleumder Lassalles. Zur Vermeidung von Mißverständnissen hielt ich es jedoch für zweckmäßig, die Gräfin in einem Brief vom 22. Dezember 1864 zu erinnern, daß ich mit Lassalles Politik nicht übereinstimmte. Damit schloß unsere Korrespondenz, worin keine Silbe über den Verein. Die Gräfin hatte mich u.a. ersucht, ihr umgehend zu schreiben, ob die Zugabe gewisser Porträts zur beabsichtigter. Broschüre mir passend schiene. Ich antwortete durch Telegraph: Nein! Dies eine Telegramm setzt Herr Bernhard Becker, der ein ebenso großer Grammatiker wie Dichter und Denker ist, in den Plural.

Er erzählt, ich habe mich auch später an einer wider ihn ins Werk gesetzten Agitation beteiligt. Der einzige Schritt meinerseits in dieser allwichtigen Angelegenheit war dieser: Man hatte mir aus Berlin geschrieben, Bernhard Becker werde von gewisser Seite her verfolgt, weil er den "Social-Demokrat" und den Verein nicht zur Agitation für die Einverleibung Schleswig-Holsteins in Preußen mißbrauchen lassen wolle. Man hatte mich gleichzeitig ersucht, Herrn Klings in Solingen, auf den man mir wegen früherer Verbindung einen gewissen Einfluß zuschrieb, und Herrn Philipp Becker in Genf diese "Intrige" zur Warnung mitzuteilen. Ich tat beides, das eine durch einen Barmer Freund |Karl Siebel|, das andere durch meinen Freund Schily in Paris, der befangen wie ich war in dem Wahne, es sei dem "Präsidenten der Menschheit" etwas Menschliches passiert und er |94| habe sich wirklich einmal anständig aufgeführt. Er verdreht jetzt natürlich den Tatbestand ins gerade Gegenteil - als Dialektiker.

Der "Präsident der Menschheit" ist aber nicht nur groß als Dichter, Denker, Grammatiker und Dialektiker. Er ist obendrein Patholog reinsten Wassers. Meine anderthalbjährige Karbunkelkrankheit, die zufällig noch 6 Monate nach Lassalles Tod fortdauerte, diese blutrote Krankheit erklärt er aus "blassem Neide über Lassalles Größe".

"Aber", fügt er emphatisch hinzu, "er wagte es nicht, gegen Lassalle aufzutreten, denn er wußte recht wohl, der würde ihn mit seiner Riesenkeule gleich dem Bastiat-Schulze mausetot geschlagen haben."

Nun preist Lassalle gerade in dieser seiner letzten Schrift über "Bastiat-Schulze" meine "Kritik der Pol[itischen] Oekonomie", Berlin 1859, über Gebühr, nennt sie "epochemachend", ein "Meisterwerk" und stellt sie mit den Werken A. Smiths und Ricardos in gleiche Linie. Hieraus schließt Herr Bernhard Becker mit dem ihm eigentümlichen Denkvermögen, daß Lassalle mich gleich Schulze-Bastiat totmachen könnte. Lassalle hatte übrigens auch ganz andere Vorstellungen von dem, was ich "wage". Als ich ihm bei einer hier nicht zu erörternden Gelegenheit schrieb, Engels und ich würden aus Gründen, die ich aufzählte, zu einem öffentlichen Angriff auf ihn gezwungen sein, antwortete er ausführlich in einem in diesem Augenblick vor mir liegenden Briefe, worin er erst seine Gegengründe aufstellt und dann mit der Wendung abschließt:

"Bedenket das alles, bevor ihr laut und öffentlich sprecht. Auch die Teilung und Spaltung unserer würde für unsere ohnehin nicht große spezielle Partei ein beklagenswertes Ereignis sein!"

Herr Bernhard Becker findet einen vollkommenen Widerspruch darin, daß ich von einer internationalen Winkelassoziation, worin er, Bernhard Becker, figuriert haben soll, nichts wissen wollte, während ich mich doch mit großem Eifer an der vergangenen September von den Chefs der Londoner Trades Union gestifteten Internationalen Assoziation beteiligte.

Die Unterscheidungsgabe des Herrn Bernhard Becker hält offenbar seinem Schlußvermögen die Stange. Seine Assoziation, rühmt er, brachte es zu einer Blüte von ganzen "400 Mann", während unsere Assoziation so unbescheiden ist, schon jetzt in England allein zehntausend Mitglieder zu zählen. Es ist in der Tat unerlaubt, daß sich so etwas gewissermaßen hinter dem Röcken des "Präsidenten der Menschheit" zutrage.

|95| Alles in allem erwogen und namentlich den nur ganz kurz von mir angedeuteten Fähigkeitenschwarm des Herrn Bernhard Becker, findet man seine Beschwerde kaum gerechtfertigt, daß man einem Manne wie ihm zuviel auf einmal habe aufbürden wollen; daß man ihm nicht nur die Autokratieverrichtung als sein Hauptfach, sondern "nebenbei" auch das kleinere Amt aufoktroyiert: "Eier und Butter fürs Haus zu kaufen." Doch scheint eine bessere Hausordnung unter seinen zwieschlächtigen Funktionen zulaßbar. In Zukunft mache man es zu seinem Hauptgeschäft, "Eier und Butter fürs Haus zu kaufen", und lasse ihn dahingegen nur ganz "nebenbei" die Menschheit verpräsidieren.

London, 8. April 1865

Karl Marx