Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 8, 3. Auflage 1972, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1960, Berlin/DDR. S. 261-264
III
<261> Mit der Gefangennehmung eröffnete sich für Kinkel ein neuer Lebensabschnitt, der zugleich Epoche macht in der Entwicklungsgeschichte des deutschen Spießbürgertums. Kaum hatte der Maikaferverein erfahren, daß Kinkel gefangen sei, als er an alle deutschen Zeitungen schrieb, Kinkel, der große Dichter, sei in Gefahr, standrechtlich erschossen zu werden, und das deutsche Volk, namentlich die Gebildeten, ganz besonders aber die Frauen und Jungfrauen, seien verpflichtet, alles aufzubieten, um das Leben des gefangenen Dichters zu retten. Er selbst machte, wie versichert wird, um diese Zeit ein Gedicht, worin er sich mit "seinem Freund und Lehrer Christus" verglich und auch von sich sagte: Mein Blut wird für Euch vergossen. Von nun an erhielt er das Attribut der Leier. So erfuhr Deutschland plötzlich, daß Kinkel ein Dichter, ein großer Dichter war, und von diesem Augenblick an beteiligte sich die Masse des deutschen Spießbürgertums und des ästhetischen Waschlappentums eine Zeitlang an der blauen-Blumen-Komödie unsres Heinrich von Ofterdingen.
Die Preußen stellten ihn inzwischen vor ein Kriegsgericht. Dies gab ihm Gelegenheit, sich seit langer Zeit zum erstenmal wieder in einem jener rührenden Appelle an die Tränendrüsen seines Auditoriums zu versuchen, worin er früher schon als Hülfsprediger in Köln so erfolgreich gewesen war - teste <nach dem Zeugnis von> Mockel, wie denn auch Köln bestimmt war, bald darauf seine glänzendste Leistung in diesem Fach zu bewundern. Er hielt vor dem Kriegsgericht eine Verteidigungsrede, welche später durch Indiskretion eines Freundes leider auch dem größeren Publikum in der Berliner "Abend-Post" vorgelegt wurde. In dieser Rede "verwahrt" sich Kinkel
"gegen jede Vereinigung seines Tuns mit dem Schmutz und dem Schlamm, der sich, ich weiß es, leider zuletzt an diese Revolution gehängt hat".
<262> Nach dieser äußerst revolutionären Rede wurde Kinkel zu zwanzig Jahren Festung verurteilt, die auf dem Gnadenwege jedoch in Zuchthausstrafe verwandelt wurden. Er wurde nun abgeführt nach Naugard, wo man ihn zum Wollespinnen verwandt haben soll, und so erscheint er, wie früher mit der Reisetasche, dann mit der Muskete, dann mit der Leier, jetzt mit dem Attribut des Spinnrads. Wir werden ihn später mit dem Attribut der Geldkatze über den Ozean wandern sehn.
Inzwischen trug sich in Deutschland ein wunderliches Ereignis zu. Der deutsche Spießbürger, bekanntlich von Natur eine schöne Seele, war durch die harten Schläge des Jahres 1849 in seinen süßesten Illusionen grausam enttäuscht. Keine Hoffnung war Wahrheit geworden, und selbst des Jünglings hochklopfende Brust begann ob der Schicksale des Vaterlandes zu verzweifeln. Eine wehmütige Mattigkeit erweichte alle Herzen, und allgemein tat sich das Bedürfnis kund nach einem demokratischen Christus, nach einem wirklichen oder eingebildeten Dulder, der in seinen Leiden die Sünden der Spießbürgerwelt mit Lammesmut trüge und in dessen Schmerzen die schlappe chronische Wehmut des Gesamtphilisteriums sich gleichsam in akuter Gestalt zusammenfasse. Diesem allgemein gefühlten Bedürfnis abzuhelfen, setzte sich der Maikäferverein, Mockel an der Spitze, in Bewegung. Und wer in der Tat war geeigneter zur Durchführung dieser großen Passionskomödie als die gefangene Passiflora Kinkel am Spinnrad, dieser unversiegbare Tränenschwamm der gerührtesten Empfindung, der außerdem Kanzelredner, Professor der schönen Künste, Deputierter, politischer Hausierer, Musketier, neuentdeckter Dichter und alter Schauspieldirektor in einer Person war? Kinkel war der Mann der Zeit, und als solcher wurde er vom deutschen Philisterium auch sofort akzeptiert. Alle Blätter strotzten von Anekdoten, Charakterzügen, Gedichten, Reminiszenzen des gefangenen Dichters, seine Gefängnisleiden wurden ins Ungeheure, ins Fabelhafte ausgemalt; seine Haare wurden alle Monate einmal in den Zeitungen grau; in allen Bürger-Ressourcen und Teegesellschaften wurde seiner mit Bekümmernis gedacht; Töchter gebildeter Stände seufzten über seinen Gedichten, und alte Jungfern, die die Sehnsucht kannten, weinten in den verschiedensten Städten des Vaterlandes über seine gebrochene Manneskraft. Alle die andern profanen Opfer der Bewegung, Erschossene, Gefallene, Gefangene, verschwanden vor dem einen Opferlamm, vor dem Mann nach dem Herzen des männlichen und weiblichen Philisteriums, und ihm allein flossen die Tränenbäche, die er freilich auch allein zu erwidern imstande war. Kurz, es war die vollständige demokratische Siegwartperiode, die der literarischen Siegwartperiode des vorigen Jahrhunderts um kein Haarbreit nachgab, und <263> Siegwart-Kinkel fühlte sich nie in einer Rolle besser zu Hause als in dieser, wo er groß erschien nicht durch das, was er tat, sondern durch das, was er nicht tat; groß nicht durch Kraft und Widerstand, sondern durch Schwäche und schlappes Zusammenknicken, und wo seine einzige Aufgabe die war, mit Anstand und Gefühl zu dulden. Mockel aber wußte mit gereifter Erfahrung dieser Weichmütigkeit des Publikums die praktische Seite abzugewinnen und organisierte unverzüglich eine höchst betriebsame Industrie. Sie ließ sämtliche gedruckten und ungedruckten Werke Gottfrieds, die nun plötzlich Wert erhielten und en vogue <in Mode> kamen, neu auflegen und in der Öffentlichkeit poussieren; sie brachte ihre eignen Lebenserfahrungen aus der Insektenwelt, z.B. die "Geschichte eines Johanniswürmchens", bei dieser Gelegenheit an den Mann; sie ließ durch den Maikäfer Strodtmann Gottfrieds geheimste Tagebuchsgefühle für ein erkleckliches Stück Geld vor dem Publikum prostituieren; sie organisierte Kollekten aller Art und wußte überhaupt mit unleugbarem industriellem Geschick und großer Ausdauer die Gefühle der gebildeten Welt in harte Taler umzusetzen. Und dabei hatte sie außerdem die Satisfaktion, daß sie
"in ihrem kleinen Zimmer täglich die größten Männer Deutschlands um sich versammelt sah, z.B. Adolf Stahr".
Die höchste Spitze sollte diese Siegwart-Manie indes in der Assisenverhandlung zu Köln erreichen, bei der Gottfried im Frühjahr 1850 eine Gastvorstellung gab. Der Prozeß wegen des Siegburger Attentats wurde hier abgewickelt, und man brachte Kinkel nach Köln. Da in dieser Skizze die Tagebücher Gottfrieds eine so große Rolle spielen, so wird es am Platze sein, wenn auch wir hier eine Stelle aus dem Tagebuch eines Augenzeugen einschalten.
"Die Frau Kinkels besuchte ihn im Gefängnis. Sie empfing ihn hinter dem Gitter mit Versen; er antwortete, wie ich glaube, in Hexametern; darauf fielen sie voreinander auf die Knie, und der Gefängnisinspektor, ein alter Feldwebel, der daneben stand, wußte nicht, ob er Verrückte oder Komödianten vor sich hatte. Dem Oberprokurator hat er später erklärt, als dieser nach dem Inhalt der Unterredung inquirierte, deutsch hätten die beiden zwar gesprochen, aber er habe kein Wort davon verstehen können, worauf Frau Kinkel erwidert haben soll, daß man freilich keinen Mann zum Inspektor machen müsse, der literarisch und künstlerisch total ungebildet sei."
Vor den Geschwornen hat sich Kinkel als reine Tränenpresse, als Literat aus der Siegwartperiode von Anno "Werthers Leiden" herausgebissen.
"'Meine Herren vom Hofe, meine Herren Geschwornen - Aurikelaugen meiner Kinder - grünes Wasser des Rheins - es entwürdigt nicht, dem Proletarier die Hand zu drücken - bleiche Lippen des gefangenen Mannes - milde Heimatluft' - und ähnlicher Dreck: das war die ganze berühmte Rede, und das Publikum, die Geschwornen, das öffentliche Ministerium und sogar die Gendarmen weinten ihre bittern Tränen, und die Verhandlung schloß unter einstimmiger Freisprechung und einstimmigem Flennen und Schluchzen. Kinkel ist gewiß ein guter lieber Mann, aber im übrigen ein widerliches Gemisch von religiösen, politischen und literarischen Reminiszenzen."Die Läuse liefen einem über die Leber.
Zum Glück erreichte diese Jammerperiode sehr bald ihr Ende durch die romantische Befreiung Kinkels aus dem Spandauer Zuchthaus. In dieser Befreiung wurde die Geschichte von Richard Löwenherz und Blondel wieder aufgeführt, nur daß Blondel diesmal im Gefängnis saß, während Löwenherz draußen die Drehorgel spielte, und daß der Blondel ein ordinärer Bänkelsänger und der Löwenherz im Grunde auch nicht viel mehr als ein Hasenfuß war. Der Löwenherz war nämlich Studiosus Schurz aus dem Maikäferverein, ein intrigantes Männlein von großer Ambition und geringen Leistungen, der indes gescheut genug war, um über den "deutschen Lamartine" im klaren zu sein! Studiosus Schurz hat nicht gar lange nach der Befreiungsgeschichte in Paris erklärt, er wisse sehr gut, daß Kinkel, den er benutze, kein lumen mundi <keine Weltleuchte> sei, während er, Schurz, und niemand andres zum künftigen Präsidenten der deutschen Republik bestimmt sei. Diesem Männlein, einem jener Studiosen "im braunen Frack und lichtblauen Überröcken", denen Gottfrieds düsterflammendes Auge früher schon nachgeschweift hatte, gelang die Befreiung Kinkels durch Aufopferung eines armen Teufels von Gefängniswärter, der nun dafür brummt mit dem Hochgefühl, Märtyrer zu sein für die Freiheit - von Gottfried Kinkel.