Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 8, 3. Auflage 1972, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1960, Berlin/DDR. S. 265-267

III. | Inhalt | V.

IV

<265> In London finden wir Kinkel wieder und diesmal, dank seinem Gefängnisruhm und der Weinerlichkeit der deutschen Spießbürgerschaft, als größten Mann Deutschlands. Freund Gottfried, im Bewußtsein seiner erhabenen Sendung, wußte alle Vorteile des Augenblicks zu erfassen. Die romantische Befreiung gab der Kinkelschwärmerei im Vaterlande einen neuen Anstoß, der, mit vielem Geschick auf die richtige Bahn gelenkt, nicht ohne materielle Resultate blieb. Zugleich aber eröffnete die Weltstadt dem Gefeierten ein neues weitschichtiges Terrain, um sich neuerdings feiern zu lassen. Es war ihm klar: er mußte der Löwe der season <Saison> werden. Zu diesem Ende abstrahierte er vorderhand von aller politischen Tätigkeit und ließ sich vor allen Dingen in häuslicher Zurückgezogenheit den Bart wieder wachsen, ohne den kein Prophet etwas ist. Dann ging er zu Dickens, zu den englischen liberalen Zeitungen, zu den deutschen Kaufleuten der City, besonders zu den dortigen ästhetischen Juden; er war allen alles, dem einen Dichter, dem andern Patriot im allgemeinen, dem dritten Professor der schönen Künste, dem vierten Christ, dem fünften herrlicher Dulder Odysseus, allen aber der sanfte, künstlerische, wohlwollende und menschenfreundliche Gottfried. Er ruhte nicht, bis Dickens ihn in den "Household Words" gefeiert, bis die "Illustrated News" sein Porträt gebracht hatte; er setzte die wenigen Deutschen in London, die den Kinkelkatzenjammer auch in der Ferne mitgemacht hatten, in Bewegung, um sich scheinbar zu Vorlesungen über das moderne Drama auffordern zu lassen, zu denen dann die Billets den deutschen Kaufleuten haufenweise in die Häuser flogen. Keine Lauferei, kein Puff <Reklamegeschrei>, kein Scharlatanismus, keine Zudringlichkeit, keine Erniedrigung gegenüber diesem Publikum wurde verschmäht, dafür aber blieb auch der Erfolg nicht aus. Gottfried bespiegelte sich wohlgefällig in seinem eignen Ruhm und in dem <266> Riesenspiegel des Welt-Kristallpalastes, und man kann sagen, daß er sich jetzt ungeheuer wohl fühlte.

Die Anerkennung seiner Vorlesungen blieb nicht aus (s. "Kosmos"):

"Kosmos". "Kinkels Vorlesungen".

"Bei Döblers Nebelbildern überraschte mich einmal d. drollige Gedanke, ob man solche chaotische Schöpfungen mit d. 'Worte' hervorbringen, ob man Nebelbilder sprechen könne. Es ist zwar unangenehm, als Kritiker gleich von vornherein gestehn zu müssen, daß in diesem Falle d. kritische Selbständigkeit an d. galvanisierten Nerven einer angeregten Reminiszenz vibriert, wie d. verhallende Ton einer ersterbenden Note auf Saiten nachbebet. Dennoch verzichte ich lieber auf d. perückenfähige, langweilige Analyse gelehrter Unempfindlichkeit, als jenen Ton zu verleugnen, welchen d. reizende Muse d. deutschen Flüchtlings in d. Ideenspiel meiner Empfänglichkeit resonierte. Dieser Grundton d. Kinkelschen Gemälde, dieser Resonanzboden seiner Akkorde ist d. sonore, schöpferische, bildende, allmählich gestaltende 'Wort' - 'der moderne Gedanke'. D. menschliche 'Urteil' d[ie]s[e]s Gedankens entführt d. Wahrheit aus d. Chaos lügenhafter Traditionen und stellt sie als unantastbares Eigentum d. Gesamtheit unter d. Schutz d. geistbewegten, logischen Minoritäten, welche sie aus gläubiger Unwissenheit zu einer ungläubigeren Wissenschaft erziehen. D. Wissenschaft d. Unglaubens kommt es zu, d. Mystizismus d. frommen Betrugs zu profanieren, d. Absolutismus d. verdummten Herkommens zu unterwühlen; d[ur]ch d. Skepsis, diese rastlos arbeitende Guillotine d. Philosophie, d. Autoritäten zu köpfen u. d. Völker aus d. Wolkengeschiebe d. Theokratie mittelst d. Revolution auf d. blühenden Gefilde d. Demokratie" (d. Unsinns) "zu geleiten. D. beharrliche, zähe Forschung in d. Jahrbüchern d. Menschentums, wie d. Erklärung d. Menschen selbst, ist d. große Aufgabe aller Männer d. Umsturzes, u. dies erkannte jener geachtete Dichterrebell, welcher an d. Abenden d. jüngst verfloßnen drei Montage vor einem bourgeoisen Publikum bei d. Geschichte d. modernen Theaters seine 'dissolving views' <'zersetzenden Ansichten'> aussprach."

"Ein Arbeiter"

Man behauptet allgemein, daß ein sehr n[a]h[e]r V[er]w[an]dter v. K[inkel] - Mockel - dieser Arbeiter sei, schon von wegen d. "Resonanzbodens", d. "verhallenden Tons", d. "Akkorde" u. d. "galvanisierten Nerven".

Doch auch diese Periode des sauerverdienten Selbstgenusses sollte nicht ewig dauern. Der jüngste Tag der bestehenden Weltordnung, das demokratische Weltgericht, der vielberühmte Mai 1852 rückte immer näher heran. Um für diesen großen Tag gestiefelt und gespornt dazustehn, mußte Gottfried Kinkel die politische Löwenhaut wieder hervorsuchen, er mußte sich mit der "Emigration" in Rapport setzen.

Wir kommen hiermit auf die Londoner "Emigration", dies Sammelsurium von ehemaligen Mitgliedern des Frankfurter Parlaments, der Berliner <267> Nationalversammlung und Deputiertenkammer, von Herren der badischen Kampagne, Riesen der Reichsverfassungskomödie, Literaten ohne Publikum, Schreiern der demokratischen Klubs und Kongresse, Zeitungsschreibern zwölften Ranges und dgl.

Die großen Männer des 1848er Deutschlands standen im Begriff, ein schäbiges Ende zu nehmen, als der Sieg der "Tyrannen" sie sicherstellte, sie ins Ausland verschlug und zu Märtyrern und Heiligen machte. Die Kontrerevolution hat sie gerettet. Die Entwicklung der kontinentalen Politik brachte die meisten derselben nach London, das so ihr europäischer Zentralpunkt wurde. Es verstand sich bei dieser Sachlage von selbst, daß etwas geschehn, etwas getrieben werden mußte, um die Existenz dieser Weltbefreier täglich aufs neue ins Gedächtnis des Publikums zurückzurufen; es mußte um jeden Preis der Schein verhindert werden, als bewege sich die Weltgeschichte voran auch ohne das Zutun dieser Gewaltigen. Je mehr dieser Menschenkehricht durch eigne Impotenz wie durch die bestehenden Verhältnisse außerstand gesetzt war, irgend etwas Wirkliches zu tun, desto eifriger mußte jene resultatlose Scheintätigkeit betrieben werden, deren eingebildete Handlungen, eingebildete Parteien, eingebildete Kämpfe und eingebildete Interessen von den Beteiligten so pomphaft ausposaunt worden sind. Je ohnmächtiger man war, wirklich eine neue Revolution herbeizuführen, desto mehr mußte man sich diese zukünftige Eventualität im Geiste diskontieren, im voraus die Stellen verteilen und im antizipierten Genuß der Macht schwelgen. Die Form, worin diese wichtigtuende Rührigkeit erschien, war die der gegenseitigen Assekuranzgesellschaft des Großmanntums und der wechselseitigen Garantie der künftigen Regierungsposten.