Die Russen | Inhalt | Lassalle

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 6, S. 434-443
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1959

Die Debatte über das Plakatgesetz

["Neue Rheinische Zeitung" Nr. 279 vom 22. April 1849, Zweite Ausgabe]

<434> *Köln, 21. April. (Kammerdebatte.) Wir kommen zurück auf die Sitzung vom 13. April. <Siehe "Die Sitzung der zweiten Kammer in Berlin vom 13. April"> Nach Beantwortung der Interpellation des Abg. Lisiecki führte die Tagesordnung auf die Debatte des Plakatengesetzes.

Nach Verlesung des Berichts des Zentralausschusses durch Herrn Rohrscheidt stellt Herr Wesendonck das Amendement, den Regierungsentwurf en bloc zu verwerfen.

Herr Arnim (Graf) erhebt sich. Das Amendement sei unzulässig Es komme einem Antrag auf Tagesordnung gleich. Über Regierungsvorlagen dürfe indes nicht zur Tagesordnung übergegangen werden. So setze es die Geschäftsordnung fest.

Jetzt erst merken die Herren von der Linken, was die Rechte mit dem § 53 der Geschäftsordnung wollte. Über Regierungsvorlagen darf nicht Tagesordnung beschlossen werden. Dieser unschuldig aussehende Satz sollte aber nicht mehr und nicht weniger sagen als: ihr sollt keinen Regierungsvorschlag en bloc verwerfen können, sondern gezwungen sein, jeden einzelnen ihrer Paragraphen, und wären ihrer tausend, durchzudebattieren.

Das ist doch selbst den Zentren zu stark. Nach einer längeren Debatte, in der von beiden Seiten der möglichste exegetische Scharfsinn aufgeboten wird, schreitet der Präsident endlich weiter, indem er das Wesendoncksche Amendement für zulässig erklärt.

Herr Rupp, der große suspendierte, verfolgte, weiland durch alle Zeitungen gehetzte, aus dem seligen Gustav-Adolfs-Verein ausgestoßene Rupp hat das Wort. Herr Rupp hält eine Rede, nach der, wie die nicht minder große und lichtfreundliche Berliner "National-Zeitung" meint, der Linken nicht <435> nur in der allgemeinen, sondern auch in der speziellen Debatte wenig mehr zu sagen blieb. Sehen wir uns diese erschöpfende Rede des Lichtfreundes Rupp aus der reinen Vernunft einmal an.

Diese erschöpfende Rede ist allerdings ein echtes Produkt des lichtfreundlichen Geistes, des Geistes der "freien Gemeinden", d.h., sie erschöpft nichts als etwa die bei Gelegenheit der Plakate an den Mann zu bringenden Gemeinplätze.

Herr Rupp beginnt damit, auf die verschiedene Motivierung des Plakatgesetzes durch die Regierung und durch den Zentralausschuß aufmerksam zu machen. Die Regierung gebe das Gesetz für eine bloße Polizeimaßregel im Interesse des Straßenverkehrs und der Ästhetik aus; der Zentralausschuß, der diesen plumpen preußischen Kniff entfernt, stelle die politischen Motive in den Vordergrund. Damit hat er dem lichtfreundlichen Predigerpathos Tür und Tor geöffnet:

"Auf diese Weise tritt unstreitig dieser Gesetzesvorschlag in die Reihe der gewichtigsten Gegenstände für die Beratungen dieser Versammlung. Nun werden wir nicht sagen wollen" (wir werden nicht sagen wollen!), "es ist uns auch so (!) gleichgültig, ob einige Plakate mehr oder weniger in der Welt sind, denn (!) darin liegt gerade der erhabene Charakter des Rechts und der Freiheit, daß auch das scheinbar Geringfügigste, wenn es mit demselben in Verbindung tritt, sofort selbst eine höhere Bedeutung annimmt"!!

Nachdem Herr Rupp durch diese Pastoral-Einleitung den "erhabenen Charakter" und die "höhere Bedeutung" der Plakate sichergestellt und die Gemüter seiner Hörer andächtig gestimmt hat, kann er dem "ewigklaren, spiegelreinen und ebnen" Fluß seiner reinen Vernunft ruhig freien Lauf lassen.

Zuerst macht Herr Rupp die nur allzu gewiegte Bemerkung, "daß sehr häufig Maßregeln gegen eingebildete Gefahren ergriffen worden sind, durch welche wirkliche Gefahren erst erzeugt werden".

Diesem Gemeinplatz jauchzt die Linke sofort ein entzücktes Bravo zu.

Darauf weist Herr Rupp mit gleicher Geistestiefe nach, daß der Entwurf im Widerspruch stehe mit - der oktroyierten Verfassung, die Herr Rupp gar nicht anerkennt!

Sonderbare Politik der Linken, sich auf die oktroyierte Verfassung zu berufen und gegen fernere Fußtritte die bereits im November erhaltenen Fußtritte als Argumente zu zitieren!

Wenn die Regierung meine, fährt Herr Rupp fort, dieser Gesetzentwurf berühre nicht die Preßfreiheit, sondern nur die Benutzung der Straßen und Plätze zur Verbreitung der Produkte der Presse, so könne man ebensogut <436> sagen, unter der Zensur habe auch Preßfreiheit geherrscht, denn nicht die Benutzung der Presse, sondern nur die Verbreitung ihrer Produkte sei der Kontrolle unterworfen gewesen.

Man muß unter der Zensur in Berlin gelebt haben, um die ganze Neuheit dieses schon vor Jahren bei sämtlichen Winkelliberalen kursierenden, nichtsdestoweniger aber von der Linken abermals mit Bravo und Heiterkeit aufgenommenen Satzes zu würdigen.

Herr Rupp zitiert nun den Preßfreiheitsartikel der Oktroyierten und weist im einzelnen nach, daß Manteuffels Gesetzentwurf mit Manteuffels Verfassung im schreiendsten Widerspruch stehe.

Aber bester Herr .Rupp, tout bonhomme que vous êtes <ein so naiv gutgläubiger Mann Sie auch sein mögen>, haben Sie das noch nicht gewußt, daß Manteuffel die Verfassung nur deswegen oktroyiert hat, um die paar liberalen Phrasen, die sie enthält, hintennach wieder aufzuheben, sei es durch Beibehaltung der alten, sei es durch Einführung neuer Knebelgesetze.

Ja, Herr Rupp geht so weit, daß er der Rechten mit einer gewissen Gründlichkeit auseinandersetzt, wie sie zwar später bei der Revision der Verfassung das Plakatgesetz in diese Verfassung aufnehmen könne, aber jetzt es verwerfen müsse, weil sie sonst der Revision der Verfassung vorgreife!

Als ob es den Herren von der Rechten auf Konsequenz und nicht vielmehr darauf ankäme, der schlechten Presse, den Klubs, der Aufregung, dem kommerziellen Mißtrauen und anderen mehr oder minder revolutionären Errungenschaften baldigst ein Ziel zu setzen!

Herr Rupp knüpft an diese gewichtigen Gründe nun noch folgende Gemeinplätze:

1. Die Plakate werden verdammt, weil sie Aufregung verbreiten. Die Verhütung der Aufregung gehöre aber nicht in den Rechtsstaat, sondern in den Polizeistaat.

2. Ich will eine starke Regierung. Eine Regierung aber, die die Aufregung und die Plakate nicht vertragen kann, ist keine starke Regierung.

3. Der Deutsche folgt gern einem Führer.

4. Die Abwesenheit der Plakate hat den 18. März nicht verhütet. (Nicht Roß, nicht Reisige usw.)

5. Die Revolutionen sind Folge des Despotismus.

Hieraus zieht Herr Rupp den Schluß, daß das Plakatgesetz im Interesse Manteuffels verworfen werden müsse.

<437> "Schützen Sie, meine Herren", ruft er flehentlich, "die Regierung vor Selbsttäuschung, zu welcher dies Gesetz, wie jedes Gesetz des Polizeistaates, sie verführt!"

Die Verwerfung des Manteuffelschen Entwurfs wäre nach Herrn Rupp kein Mißtrauensvotum für Manteuffel, sondern vielmehr ein Vertrauensvotum. Herr Rupp wünscht, daß Manteuffel die erwünschte "starke Regierung" werde, und darum will er ihn nicht durch das Plakatgesetz schwächen. Ihr glaubt, Herr Rupp scherze? Er denkt nicht daran. Herr Rupp ist ein Lichtfreund, und ein Lichtfreund scherzt nie. Die Lichtfreunde können das Lachen ebensowenig ausstehen wie ihr würdiger Vetter Atta Troll.

Der letzte Trumpf aber, den Herr Rupp ausspielt, setzt seiner ganzen Rede die Krone auf:

"Die Verwerfung dieses Gesetzes wird nicht wenig dazu beitragen, denjenigen Teil der Bevölkerung zu beruhigen, welcher mit der Anerkennung der Verfassung vor der Revision sich nicht einverstanden erklären konnte."

Herr Rupp interessiert sich für die "Beruhigung des Teils der Bevölkerung", der noch nicht auf der Stufe Manteuffels steht!

So sind aber die Herren von der Linken! Sie sind der stürmischen Bewegung satt, und da sie einmal Deputierte sind und einsehen, daß sie gegen die Säbeldiktatur nicht ankönnen, so wünschen sie nichts mehr, als daß die leidigen Prinzipienfragen endlich einmal abgetan, die Verfassung behufs der Gültigkeitserklärung pro forma revidiert und beschworen und "die Revolution geschlossen" werde. Dann beginnt für sie das behagliche Leben des konstitutionellen Schlendrians, des Deklamierens aus Nichts von Nichts zu Nichts, des Intrigierens, Protegierens, Ministerveränderns usw.; jenes olympische Schlaraffenleben, das die französischen Odilons <Barrot>, Thiers und Molés achtzehn Jahre lang in Paris verführten und das Guizot mit so viel Vorliebe das "Spiel der konstitutionellen Institutionen" zu nennen pflegte. Ist nur erst die unbequeme revolutionäre Bewegung etwas im Sande verlaufen, so gehört ein Ministerium Waldeck ja gar nicht mehr zu den Unmöglichkeiten! Und für die Republik ist das Volk ja doch noch nicht reif!

Nach der Rede des Herrn Rupp bleibt gerade noch alles zu sagen. Es handelte sich zunächst nicht um die Beschränkung der Preßfreiheit im allgemeinen, es handelte sich vor allem um die Beschränkung der Preßfreiheit in den Plakaten. Es kam darauf an, auf die Wirkungen der Plakate einzugehen, die "Straßenliteratur" zu verteidigen und ganz besonders das Recht der Arbeiter auf die in den Plakaten vertretene kostenfreie Literatur zu wahren. Es <438> kam darauf an, das Recht der Aufregung durch Plakate nicht zu beschönigen, sondern offen zu vertreten. Davon ist aber keine Rede bei Herrn Rupp. Die alten Phrasen über Preßfreiheit, die wir während 33 Jahren Zensur hinreichend Gelegenheit hatten, von vorn und von hinten zu beleuchten, diese alten Phrasen tritt Herr Rupp in trocken-feierlicher Sprache abermals breit, und weil er alles gesagt hat, was die Herren von der "National-Zeitung" über den Gegenstand wissen, glaubt die "National-Zeitung", er habe den Gegenstand erschöpft!

Nach dem "Lichtfreund" Rupp erhebt sich der "Dunkelmann" Riedel. Herrn Riedels Rede ist aber zu schön, als daß wir uns mit ihr übereilen sollten. A demain donc, citoyen Riedel! <Bis morgen also, Bürger Riedel!>

["Neue Rheinische Zeitung" Nr. 233 vom 27. April 1849]

*Köln. 23. April. Der Abgeordnete Riedel hat unbedingt die klassischste Rede in der ganzen Debatte gehalten. Während noch vom Ministertisch aus einige Rücksichten genommen werden, während selbst Manteuffel noch gewisse scheinkonstitutionelle Wendungen gebraucht und höchstens der ungeschickte Parvenü von der Heydt zuweilen aus der konstitutionellen Rolle fällt, geniert sich Herr Riedel aus Barnim-Angermünde keinen Augenblick, als unverfälschter Uckermärker aufzutreten. Noch nie ist ein Wahlkreis so gut vertreten worden, wie der des Herrn Riedel.

Herr Riedel fragt zuerst: Was sind Plakate? und gibt darauf zur Antwort:

"Plakate, im eigentlichen Wortverstande, sind öffentliche Erklärungen, wodurch man beruhigend auf die Gemüter einwirkt."

Das ist, nach Herrn Riedels Etymologie, die "Bestimmung" der Plakate. Wir wollen uns einstweilen mit dem Herrn Riedel nicht über den Stammbaum des Wortes "Plakat" streiten. Wir machen nur darauf aufmerksam, daß er sich seinen gesamten etymologischen Schweiß hätte, ersparen können, wenn er den Gesetzentwurf nachlas. Dieser handelt nicht nur von "Plakaten", sondern von "Anschlagzetteln", und diese haben doch "im eigentlichen Wortverstande" keine andere "Bestimmung", als angeschlagen zu werden.

Statt dessen ergeht sich Herr Riedel in gerechter Entrüstung darüber, daß der Name der Plakate aufs schändlichste gemißbraucht werde:

"Die Plakate dienen in der Regel nur dazu, Leidenschaften zu entzünden und die unreine Glut des Hasses oder der Rache besonders gegen die Obrigkeiten zu entflammen ... <439> Die Plakate sind daher der Regel nach gerade das Gegenteil von dem, was der Name anzeigt. Der Gebrauch der Plakate ist daher gewöhnlich Mißbrauch" (nämlich des Namens), "und daher fragt es sich: Sollen die Ortspolizeibehörden dies Plakatenunwesen" (nämlich diesen Mißbrauch des Namens Plakat) "begünstigen? Soll die Polizei sich gewissermaßen zum Mitschuldigen des Unwesens machen, welches der [Mißbrauch]" (des Namens) "der Plakate" (für Anschläge, welche gar keine Plakate, d.h. Beruhigungszettel sind) "anrichtet?"

Soll, mit einem Wort, durch Plakate fernerhin "bestimmungsmäßig" (d.h. der Bestimmung des Wortes Plakat gemäß) gewirkt werden oder nicht?

Wie sehr hat sich Manteuffel geirrt, als er polizeiliche und Straßenverschönerungs-Motive dem Plakatgesetz unterschob! Wie sehr hat der Zentralausschuß fehlgeschossen, wenn er das Gesetz aus politischen Gründen befürwortete! Das Gesetz ist nötig - aus etymologischen Gründen und müßte eigentlich betitelt sein: Gesetz zur Zurückführung des Gebrauchs des Wortes Plakat auf seinen "eigentlichen Wortverstand".

Dabei hat aber der gründliche Herr Riedel einen gründlichen Bock geschossen. Wollten wir, auf die Gefahr hin, unsere Leser tödlich zu langweilen, uns auf einen etymologischen Diskurs mit Herrn Riedel einlassen, so würden wir ihm, Diez' Grammatik in der Hand, nachweisen können, daß das Wort Plakat keineswegs vom lateinischen placare <beruhigen> herkommt, sondern nur eine Verstümmelung des französischen placard <Aufgelegtes, Angeschlagenes> ist, welches wieder mit plaque <Blatt, Scheibe> zusammenhängt, das selbst wieder deutschen Ursprungs ist. Damit fiele denn Herrn Riedels gesamte Beruhigungstheorie ins Wasser.

Das ist dem Herrn Riedel natürlich gleichgültig, und mit Recht. Die ganze Beruhigungstheorie ist jedoch nur eine schulmeisterliche captatio bene volentiae <Werbung um die Gunst des Hörers>, hinter welcher der Appell an die Furcht der besitzenden Klassen mit der größten [Gewißheit] aufmarschiert.

Die Plakate "entzünden Leidenschaften", sie "entflammen die unreine Glut des Hasses und der Rache, besonders gegen die Obrigkeit", sie "dienen als Aufruf der urteilslosen Masse zu Demonstrationen, welche die Ordnung bedrohlich (!) verletzen und die Grenzen gesetzlicher Freiheit überschreiten". Und darum müssen die Plakate unterdrückt werden.

Mit andern Worten: Die vereinigten Feudalherren, Bürokraten und Bourgeois haben ihren Staatsstreich vom vorigen Herbst mit Gewalt der Waffen glücklich durchgesetzt und wollen uns jetzt vermittelst der Kammern diejenigen Ergänzungsgesetze dazu oktroyieren, welche noch nötig sind, damit die Herren ihren Sieg ruhig genießen können. Sie sind der "Leiden- <440> schaften" herzlich satt, sie werden sich jedes Mittels bedienen, um die "unreine Glut des Hasses und der Rache gegen die Obrigkeit", die ja für sie die erwünschteste Obrigkeit von der Welt ist, zu unterdrücken, die "Ordnung" herzustellen und die "gesetzliche Freiheit" auf dasjenige Maß zurückzuführen, das ihnen bequem ist. Und was das für ein Maß ist, geht daraus hervor, daß Herr Riedel die große Mehrzahl des Volkes als "urteilslose Masse" bezeichnet.

Von dieser "urteilslosen Masse" weiß Herr Riedel nicht Schlechtes genug zu sagen. Er fährt fort:

"Diese" (durch Plakate gemachte) "Mitteilung wird gerade am meisten von derjenigen Volksklasse beachtet, welche an schriftliche Mitteilungen am wenigsten gewöhnt ist, mit der Vorsicht und mit dem Mißtrauen die Glaubwürdigkeit schriftlicher Mitteilungen zu prüfen und zu erwägen, welche das an Lektüre gewöhnte Publikum, über die Täuschungen der Presse belehrt, allerdings dazu mitbringt ... "

Wer ist nun diese urteilslose Masse, diese an schriftliche Mitteilungen am wenigsten gewöhnte Klasse? Sind es die Bauern der Uckermark? Keineswegs; denn erstens sind sie der "Kern der Nation", zweitens lesen sie keine Plakate, und drittens haben sie Herrn Riedel gewählt. Herr Riedel meint niemanden als die Arbeiter der Städte, das Proletariat. Die Plakate sind ein Hauptmittel, auf das Proletariat zu wirken; das Proletariat ist seiner ganzen Stellung nach revolutionär, das Proletariat, die unter dem konstitutionellen Regime ebensogut wie unter dem absoluten unterdrückte Klasse, ist nur zu bereit, abermals zu den Waffen zu greifen; von der Seite des Proletariats droht gerade die Hauptgefahr, und darum fort mit allem, was die revolutionären Leidenschaften im Proletariat lebendig erhalten könnte!

Und was hilft mehr dazu, die revolutionäre Leidenschaft unter den Arbeitern lebendig zu erhalten, als gerade die Plakate, die jede Straßenecke in eine große Zeitung verwandeln, in der die vorbeikommenden Arbeiter die Tagesereignisse verzeichnet und glossiert, die verschiedenen Ansichten dargelegt und debattiert finden, wo sie zu gleicher Zeit Leute aller Klassen und Meinungen versammelt antreffen, mit denen sie die Plakate diskutieren können, kurz, wo sie ein Journal und einen Klub in einem haben, und alles das, ohne daß es sie einen Heller kostet.

Das aber ist es gerade, was die Herren von der Rechten nicht wollen. Und sie haben recht. Von der Seite des Proletariats droht ihnen die größte, ja die einzige Gefahr - warum sollten sie, die die Macht in Händen haben, nicht diese Gefahr mit allen Mitteln zu erdrücken streben?

Dagegen würde kein Mensch etwas einwenden können. Wir leben nun, mit Gottes Hülfe, schon an die sechs Monate unter der Säbeldiktatur. Wir <441> machen uns nicht die mindeste Illusion über den offenen Kriegszustand, in dem wir mit unseren Gegnern stehen, oder über die Mittel, durch die unsere Partei allein zur Herrschaft gelangen kann. Wir werden uns nicht so sehr blamieren, der jetzt herrschenden Tripelallianz von Junkern, Bürokraten und Bourgeois moralische Vorwürfe darüber zu machen, daß sie uns auf jede Weise zu knechten sucht. Wäre der hochmoralische Predigerton, das Heulerpathos der sittlichen Entrüstung uns nicht schon von vornherein zuwider, wir würden schon deshalb uns vor einer solchen hohlen Phrasenpolemik hüten, weil wir an unseren Gegnern noch einmal Revanche zu nehmen gedenken.

Das aber finden wir sonderbar, daß die Herren, die jetzt an der Regierung und in der offiziellen Majorität sind, nicht ebenso offen sprechen wie wir. Herr Riedel z. B. ist ein so echter Uckermärker, wie man ihn nur wünschen kann, und doch kann er sich nicht überwinden, schließlich zu beteuern:

"Es ist gewiß nimmermehr meine Absicht, der freien Meinungsäußerung irgend einen Riegel vorschieben zu wollen. Ich betrachte den geistigen Kampf ... um die Wahrheit als ein Heiligtum freier Völker, das niemand antasten darf."

Und an einer andern Stelle will Herr Riedel

"die Verbreitung der Plakate unter denjenigen Formen freilassen, unter denen überhaupt literarische Produkte verbreitet werden können".

Was sollen, nach allen vorhergegangenen Expukationen, diese Phrasen noch bedeuten? Die bestehende Regierung und überhaupt die konstitutionelle Monarchie kann sich heutzutage in zivilisierten Ländern nicht halten, wenn die Presse frei ist. Die Freiheit der Presse, die freie Konkurrenz der Meinungen, das ist die Freilassung des Klassenkampfes auf dem Gebiete der Presse. Und die vielersehnte Ordnung, das ist eben die Erstickung des Klassenkampfs, die Knebelung der unterdrückten Klassen. Daher muß die Partei der Ruhe und Ordnung die freie Konkurrenz der Meinungen in der Presse aufheben, sie muß sich durch Preßgesetze, Verbote usw. das Monopol des Marktes möglichst sichern, sie muß namentlich die Gratis-Literatur der Plakate und unbezahlten Flugschriften womöglich direkt unterdrücken. Alles das wissen die Herren, warum sagen sie's nicht geradeheraus?

In der Tat, Herr Riedel, warum tragen Sie nicht lieber sogleich auf Wiederherstellung der Zensur an? Es gibt kein besseres Mittel, "Leidenschaften" zurückzudrängen, "die unreine Glut des Hasses und der Rache gegen die Obrigkeit" zu ersticken und die "Grenzen gesetzlicher Freiheit" sicherzustellen! Voyons, citoyen Riedel, soyons francs! <Nun Bürger Riedel, seien wir doch ehrlich!> Es kommt am Ende doch darauf hinaus!

<442> Herr Riedel zieht sich zurück. Der Justizminister, Justizrat Simons aus Elberfeld, Sproß einer der von der Heydt'schen ebenbürtigen Wuppertaler Bourgeoisfamilie, hat das Wort.

Herr Simons geht mit einer gewaltigen Gründlichkeit zu Werke. Man merkt, daß er noch neu im Justizministerium ist.

Plakate werden auf öffentlichen Straßen und Plätzen angeschlagen, sagt der Herr Justizminister. Also - "muß darauf zurückgegangen werden, welche Bestimmung öffentliche Straßen und Plätze haben"!!

Herr Riedel hat zwar die "Bestimmung" und den "eigentlichen Wortlaut" der Plakate auf dankenswerte Weise festgestellt. Aber darum handelt es sich gar nicht. Es kommt vielmehr an auf die "Bestimmung der Straßen und Plätze". Und hier erwirbt sich der Justizminister unsterbliche Lorbeeren.

Kann man sich eine schönere Abc-Schule denken als diese Kammer, worin über die Bestimmung von Straßen und Plätzen, über grammatikalische Schülerhaftigkeiten und dergleichen ernsthaft debattiert wird?

Was ist nun die "Bestimmung der Straßen und öffentlichen Plätze"?

Sie ist die, daß Straßen usw. nicht "einer jeden beliebigen und öffentlichen Benutzung preisgegeben werden können", denn "eine solche Bestimmung der Straßen etc. kann nicht nachgewiesen werden"!!

Dafür also haben wir einen angeblichen Justizminister, daß er uns solche tiefsinnige Aufklärungen gibt. In der Tat, man begreift es jetzt, warum Herr Simons sich genierte, sich der Kammer vorstellen zu lassen.

Der ganze übrige Inhalt der Rede des Ministers ist natürlich neben solchen famosen Leistungen gar nicht der Rede wert. Unter dem Scheine merkwürdiger Belesenheit in der französischen Jurisprudenz bringt Herr Simons einige verschollene Reminiszenzen aus seiner früheren Praxis, als öffentliches Ministerium, an den Mann. Dann folgen Sätze wie folgender:

"Diese Bedürfnisfrage muß aber unbedingt (!) bejaht werden, wenigstens (!!) ist dies meine Meinung (!!!), unter Berücksichtigung der Zweifel (!!!!), welche sich erhoben haben (!!!!!)."

Und endlich will Herr Simons "das gesetzliche Fundament der Beschränkung der Plakate sanktionieren".

Ein Fundament sanktionieren! Wo haben Sie die Sprache gelernt, Herr Simons?

Auf die nun folgende Rede des Herrn Berends können wir nach solchen oratorischen Großtaten, wie die der Herren Riedel und Simons, natürlich nicht weiter eingehen. Herr Berends hat den richtigen Instinkt, daß das Plakatverbot direkt gegen das Proletariat gerichtet sei, führt aber sein Thema nur schwach aus.

<443> Die allgemeine Debatte wird geschlossen. Die Verwerfung en bloc wird von 152 Stimmen bejaht, von 152 verneint. Von der Linken fehlt u. a., ohne beurlaubt zu sein, Herr Kyll von Köln. War Herr Kyll anwesend, so wurde das Plakatgesetz ohne weiteres verworfen. Dem Herrn Kyll verdanken wir also, daß es teilweise angenommen wurde.

Auf die spezielle Debatte gehen wir nicht weiter ein. Das Resultat ist bekannt: Die fliegenden Buchhändler sind unter Polizeiaufsicht gestellt.

Sie mögen sich bei Herrn Kyll dafür bedanken!

Geschrieben von Friedrich Engels.