Die Sitzung der zweiten Kammer in Berlin vom 13. April | Inhalt | Die Debatte über das Plakatgesetz
Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 6, S. 431-433
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1959
Die Russen
["Neue Rheinische Zeitung" Nr. 279 vom 22. April 1849]
<431> *Köln, 21. April. Als vor beinahe elf Monaten die "Neue Rheinische Zeitung zu erscheinen begann, war sie das erste Blatt, das auf die Zusammenziehung der russischen Armeen an unsrer Ostgrenze hinwies. Damals sprach mancher tugendhafte Bürger von Übertreibung, von unnötigem Alarmblasen usw.
Es hat sich gezeigt, ob wir übertrieben hatten oder nicht. Die Russen, im Anfang bloß ihre Grenzen deckend, haben in demselben Maße wie die Kontrerevolution reussierte, sich der Offensive zugewandt. Der Pariser Junisieg brachte sie nach Jassy und Bukarest; der Fall Wiens und Pests nach Herrnannstadt und Kronstadt.
Vor einem Jahre war Rußland ungerüstet; damals, im ersten panischen Schrecken vor der Allgewalt der urplötzlichen Revolution, war es leicht, die 30[.000]-40.000 Russen aus Polen herauszuschlagen und ein freies Polen zu gründen. Man war dazu aufgefordert, aber man wollte nicht. Man ließ den Russen Zelt zu rüsten, und jetzt - umzingelt uns vom Njemen bis zur Donau und Aluta ein russisches Heer von 5[00.000]-600.000 Mann. Längs der preußischen Grenze stehn nach der "Ostsee-Zeitung" allein an 150.000 Mann; der Rest steht im Innern, an der galizischen Grenze, in der Moldau und Walachei, in Litauen, Podolien und Wolhynien, in den Festungen Nowo-Georgiewsk (Modlin), Brest-Litewski, Demblin und Zamose, welche nach der "Osts[ee] Z[ei]t[un]g" Waffen- und Reservedepots für 250.000 Mann haben.
Dasselbe Blatt schreibt:
"Die Anlage von Magazinen für Mundvorräte wird durch Zwangsbons betrieben, wonach jeder Grundbesitzer eine gewisse Quantität Naturalien, welche zur Verpflegung der Armee dienen sollen, einliefern muß. Im künftigen Jahre werden diese Bons in Zahlung für Abgaben angenommen werden. Daher also die vor einiger Zelt ver- <432> breitete Nachricht, als habe die russische Regierung in Polen die Abgaben für ein Jahr im voraus beitreiben lassen."
Was es mit der Annahme dieser Bons für eine Bewandtnis hat, erfahren wir von andrer Seite.
Die Gutsbesitzer in Polen haben Ende des vorigen und Anfang dieses Jahres enorme Lieferungen machen müssen, dieselben sind aber bei den Steuern angerechnet worden; man glaubte, es sei hiermit alles abgemacht, aber jetzt müssen die Steuern bis Ende dieses Jahres im voraus erlegt werden.
Man sieht schon aus dieser Parforce-Verpflegungsmethode, welche furchtbare Massen russischer Truppen in Polen angehäuft sein müssen.
Ein anderes Blatt, die Posener "Z[ei]t[un]g des Osten", meldet aus Posen vom 13. April:
"Die Zahl der russischen Truppen im Westen: Im Königreich steht das Korps Rüdigers - die Hälfte des vierten Rüdigerschen Korps nebst Reserven, im ganzen ungefähr 120.000 Mann. In Litauen steht das sogenannte Grenadierkorps (früher Szachowskis) und ein Teil des ersten Korps. Die Garden sollen später ankommen - man spricht schon seit Monaten von ihrer Ankunft. In Wolhynien, wo das Hauptquartier in Dubno sich befindet, steht der Rest des vierten Czegodajewschen Regiments. Bei Kiew ist ein zweites Hülfskorps, bei Krzemienice ein Mobil-Korps (Pawlow), ungefähr 6[.000]-8.000 Mann stark, in der Moldau endlich und in der Walachei befindet sich das Lüdersche Korps bis 65.000 Mann stark."
Was diese Truppen dort zu suchen haben, gestehen sie selbst sehr naiv ein:
"Die gemeinen Russen sowie die Offiziere sind weniger zurückhaltend in ihren Gesprächen. Bemerkenswert ist es, daß sie auf die Frage, warum sie an der Grenze stehen, alle ein und dieselbe und zwar nachstehende Antwort geben: Unser Kaiser ist der Schwager des preußischen Königs. Nachdem die Franzosen von den Russen im großen Kriege besiegt worden waren, gehörte alles Land bis nach Paris dem Kaiser; er hat die Verwaltung verschiedenen kleinen deutschen Knäsen (Fürsten) übertragen und als obersten Militärgouverneur seinen Schwager, den Knäs von Preußen gesetzt. Nun haben die Franzosen und die Deutschen Rebellion gemacht, und da baten die deutschen Knäse sowie der oberste Gouverneur den Kaiser um Hülfe, und deswegen stehen wir nun hier an der Grenze; wenn nicht bald Ruhe wird, so werden wir hinübergehen und Ordnung machen."
Damit nicht genug. Der Kaiser Nikolaus befiehlt, daß in dem westlichen Strich des Reichs eine neue Rekrutenaushebung von 8 Mann auf Tausend stattfinden soll. Dabei liegt ein Verzeichnis, wonach in 21 Gouvernements die Rekruten ausgehoben werden sollen.
So sieht es aus jenseits der Grenze. Eine halbe Million bewaffneter und organisierter Barbaren wartet nur auf die Gelegenheit, über Deutschland her- <433> zufallen und uns zu Leibeigenen des Prawoslawny-Zar, des rechtgläubigen Zars zu machen.
Gerade wie Siebenbürgen schon einmal von den Russen besetzt wurde, wie jetzt der Einmarsch von 30.000 Mann eben dahin und von andern 30.000 Russen über Galizien direkt verlangt wird, gerade wie die Banater Serben ebenfalls die Hülfe des Prawoslawny-Zar anflehn, gerade so wird es hier gehn. Wir kommen noch dahin, daß die Regierung und die Bourgeoisie die Russen ins Land ruft, wie vor kurzer Zeit dies in Siebenbürgen geschah. Und dahin muß es mit uns kommen. Der Sieg der Wiener und Berliner Kontrerevolution hat für uns noch nicht hingereicht. Aber wenn Deutschland erst einmal die russische Knute gefühlt hat, wird es sich doch etwas anders betragen.
Die Russen sind die wahren Befreier Deutschlands, sagten wir im Juni v. J. <Siehe "Die Vereinbarungsversammlung vom 15. Juni"> Wir wiederholen dies heute noch, und wir sind heute nicht mehr die einzigen, die dies sagen!
Geschrieben von Friedrich Engels.