MLWerke | | | 14. Kapitel | | | Inhalt | | | Anmerkungen | | | Franz Mehring |
Seitenzahlen nach: Franz Mehring - Gesammelte Schriften, Band 3. Berlin/DDR,
1960, S. 509-542.
1. Korrektur
Erstellt am 30.10.1999
|509| Wie sich Marx am Schlusse des Jahres 1853 nach den letzten Zuckungen des Kommunistenbundes in sein Arbeitszimmer zurückzog, so am Schlusse des Jahres 1873 nach den letzten Zuckungen der Internationalen. Aber diesmal geschah es für den Rest seines Lebens.
Man hat sein letztes Jahrzehnt »ein langsames Sterben« genannt, jedoch mit großer Übertreibung. Zwar hatten die Kämpfe seit dem Sturz der Kommune seiner Gesundheit wieder harte Stöße versetzt; er litt im Herbste 1873 sehr am Kopfe und schwebte in großer Gefahr eines Schlaganfalls; dieser chronische gedrückte Hirnzustand machte ihn arbeitsunfähig und schreibunlustig; bei längerer Dauer hätte er schlimme Folgen haben können. Doch erholte sich Marx in der mehrwöchigen Pflege des mit ihm und Engels befreundeten Arztes Gumpert in Manchester, in den er volles Vertrauen setzte.
Auf den Rat Gumperts entschloß er sich, im Jahre 1874 nach Karlsbad zu gehen, und ebenso in den beiden folgenden Jahren; im Jahre 1877 wählte er zur Abwechselung Neuenahr, worauf ihm im Jahre 1878 die beiden Attentate auf den deutschen Kaiser und die Sozialistenjagd, die sich daran schloß, das Festland sperrten. Immerhin war ihm namentlich die dreimalige Kur in Karlsbad »wundervoll« bekommen und hatte ihn von seinem alten Leberleiden fast ganz befreit. Es blieben noch chronische Magenleiden und nervöse Abspannung, die sich in Kopfschmerz, zumeist aber in hartnäckiger Schlaflosigkeit äußerte. Jedoch verschwanden diese Leiden mehr oder weniger nach dem Besuche eines Seebades oder Luftkurorts im Sommer und traten erst nach Neujahr wieder störender auf.
Eine völlige Wiederherstellung seiner Gesundheit wäre freilich nur möglich gewesen, wenn Marx sich die Ruhe gegönnt hätte, die er nach einem arbeits- und opferreichen Leben beim Herannahen des sechzigsten Lebensjahres wohl hätte beanspruchen können. Aber daran war bei ihm nicht zu denken. Er warf sich, um sein wissenschaftliches Hauptwerk zu |510| vollenden, mit allem Feuereifer auf die Studien, deren Feld sich inzwischen sehr erweitert hatte. »Bei einem Manne, der jeden Gegenstand auf seine geschichtliche Entstehung und seine Vorbedingungen prüfte«, sagt darüber Engels, »entsprangen selbstredend aus jeder einzelnen Frage ganze Reihen neuer Fragen. Urgeschichte, Agronomie, russische und amerikanische Grundbesitzverhältnisse, Geologie usw. wurden durchgenommen, um namentlich den Abschnitt des III. Buches des Kapital über Grundrente in einer bisher nie versuchten Vollständigkeit auszuarbeiten. Zu den sämtlichen germanischen und romanischen Sprachen, die er mit Leichtigkeit las, lernte er auch noch Altslawisch, Russisch und Serbisch.«[1] Und das war auch nur erst sein halbes Tagewerk. Obgleich sich Marx aus der öffentlichen Agitation zurückgezogen hatte, blieb er darum nicht minder tätig in der europäischen und amerikanischen Arbeiterbewegung. Er stand im Briefwechsel mit fast allen Führern in den verschiedenen Ländern, die ihn wenn irgend möglich bei wichtigen Anlässen persönlich zu Rate zogen; er wurde mehr und mehr der vielgesuchte und stets bereite Berater des streitbaren Proletariats.
Wie Liebknecht den Marx der fünfziger, so hat Lafargue den Marx der siebziger Jahre anziehend geschildert. Er meint, der Körper seines Schwiegervaters hätte von kräftiger Konstitution sein müssen, um einer ungewöhnlichen Lebensweise und einer aufreibenden geistigen Arbeit gewachsen zu sein. »Er war auch in der Tat sehr kräftig, seine Größe ging über das Mittelmaß, die Schultern waren breit, die Brust gut entwickelt, die Glieder wohl proportioniert, obgleich die Wirbelsäule im Vergleich zu den Beinen etwas zu lang war, wie es bei der jüdischen Rasse häufig zu finden ist.« Und nicht nur bei der jüdischen Rasse; Goethes Körper war ähnlich gebaut; auch er gehörte zu den »Sitzriesen«, wie der Volksmund solche Gestalten zu nennen pflegt, die wegen der verhältnismäßigen Länge ihrer Wirbelsäule im Sitzen größer erscheinen, als sie sind.
Hätte Marx in seiner Jugend viel Gymnastik getrieben, so wäre er nach Lafargues Meinung ein äußerst kräftiger Mensch geworden. Jedoch die einzige Leibesübung, die er regelmäßig betrieben hatte, war das Gehen; er konnte stundenlang plaudernd marschieren oder Hügel ersteigen, ohne die geringste Müdigkeit zu spüren. Aber auch diese Fähigkeit übte er gemeiniglich nur, um in seinem Arbeitszimmer seine Gedanken zu ordnen; von der Tür bis zum Fenster zeigte sich auf dem Teppich ein total abgenützter Streifen wie der Fußpfad auf einer Wiese.
Obgleich er sich immer erst in sehr vorgerückter Stunde zur Ruhe legte, war er morgens zwischen acht und neun Uhr auf den Beinen, trank | 511| seinen schwarzen Kaffee, las seine Zeitungen und ging in sein Arbeitszimmer, das er bis Mitternacht und darüber hinaus nur verließ, um seine Mahlzeiten einzunehmen, oder, wenn es die abendliche Witterung erlaubte, einen Spaziergang nach Hampstead Heath zu machen; unter Tags schlief er wohl ein oder zwei Stunden auf seinem Sofa. Das Arbeiten war ihm so zur Leidenschaft geworden, daß er oft das Essen darüber vergaß. Sein Magen mußte für seine kolossale Gehirntätigkeit büßen. Er war ein sehr schwacher Esser und litt an Appetitlosigkeit, die er durch den Genuß von scharf gesalzenen Speisen, Schinken, geräucherten Fischen, Kaviar und Pickles zu bekämpfen suchte. Ein schwacher Esser, war er doch kein starker Trinker, obgleich er nie ein Mäßigkeitsapostel gewesen ist und als Sohn des Rheinlandes einen guten Tropfen zu schätzen wußte. Dagegen war er ein leidenschaftlicher Raucher und arger Zündhölzchenverschwender; er meinte, das »Kapital« werde ihm nicht einmal so viel einbringen, wie ihn die Zigarren gekostet hätten, die er beim Schreiben geraucht habe. Da er in den langen Jahren der Not sich wohl mit manchem zweifelhaften Kraut hatte begnügen müssen, so ist diese Leidenschaft seiner Gesundheit nicht zuträglich gewesen, und der Arzt mußte ihm wiederholt das Rauchen verbieten.
Seine geistige Erfrischung und Erholung fand Marx in der schönen Literatur. Sie ist ihm all sein Lebtag eine wirksame Trösterin gewesen. Er besaß auf diesem Gebiete die ausgebreitetsten Kenntnisse, ohne je damit zu prunken; seine Werke verraten wenig davon, mit der einzigen Ausnahme der Streitschrift gegen Vogt, wo er zahlreiche Zitate aus allen europäischen Literaturen für seine künstlerischen Zwecke verwertete. Wie sein wissenschaftliches Hauptwerk ein ganzes Zeitalter widerspiegelt, so waren seine literarischen Lieblinge die großen Weltdichter, von deren Schöpfungen das gleiche gilt: von Aschylus und Homer über Dante, Shakespeare, Cervantes bis auf Goethe. Den Aschylus las er, wie Lafargue erzählt, jedes Jahr einmal im Urtext; seinen alten Griechen blieb er immer treu, und die armseligen Krämerseelen, die den Arbeitern die antike Kultur verleiden möchten, hätte er mit Ruten aus dem Tempel gepeitscht.
Die deutsche Literatur kannte er bis hoch ins Mittelalter hinauf. Unter den Modernen stand ihm neben Goethe namentlich Heine nahe; Schiller scheint ihm in seiner Jugend verleidet worden zu sein, zur Zeit, wo sich der deutsche Philister an dem mehr oder minder mißverstandenen »Idealismus« dieses Dichters berauschte, was Marx nur als eine Vertauschung der platten mit der überschwänglichen Misere gelten lassen wollte.[2] Seit seinem endgültigen Abschied von Deutschland hat sich Marx um die |512| deutsche Literatur nicht mehr viel gekümmert; selbst die wenigen, die seiner Aufmerksamkeit wohl wert gewesen wären, wie Hebbel oder Schopenhauer, erwähnt er nie; der Mißhandlung der deutschen Göttersage durch Richard Wagner gilt gelegentlich ein scharfer Hieb.
Unter den Franzosen stellte er Diderot sehr hoch; den »Neffen Rameaus« nannte er ein einziges Meisterwerk. Dies Wohlgefallen erstreckte sich auf die französische Aufklärungsliteratur des achtzehnten Jahrhunderts, von der Engels einmal sagt, daß in ihr der französische Geist nach Form und Inhalt bisher sein Höchstes geleistet habe, daß sie ihrem Inhalt nach, wenn man den damaligen Stand der Wissenschaft berücksichtige, noch heute unendlich hoch stehe und der Form nach nie wieder erreicht worden sei. Dementsprechend lehnte Marx die französischen Romantiker ab; namentlich Chateaubriand mit seiner falschen Tiefe, seiner byzantinischen Übertreibung, seiner buntfarbigen Gefühlskoketterie, kurzum seinem beispiellosen Lügenmischmasch, war ihm von jeher zuwider. Sehr begeistert war er von Balzacs »Menschlicher Komödie«, die ja auch ein ganzes Zeitalter im Spiegel der Dichtung auffängt; er wollte nach Vollendung seines großen Werkes über sie schreiben, doch ist dieser Plan, wie so viele andere, im Keime steckengeblieben.
Seit seiner dauernden Ansiedlung in London trat die englische Literatur in den Vordergrund seiner literarischen Neigungen, und hier überragte alles andere die gewaltige Gestalt Shakespeares, mit dem in der ganzen Familie ein wahrer Kultus getrieben wurde. Leider hat Marx sich niemals über die Stellung Shakespeares zu den Schicksalsfragen seiner Zeit ausgelassen. Dagegen urteilte er über Byron und Shelley, wer diese Dichter liebe und verstehe, müsse es für ein Glück halten, daß Byron im sechsunddreißigsten Lebensjahre gestorben sei, denn er wäre bei längerer Lebensdauer ein reaktionärer Bourgeois geworden, dagegen beklagen, daß Shelley schon mit neunundzwanzig Jahren das Leben verloren habe; er sei durch und durch ein Revolutionär gewesen und würde stets zur Vorhut des Sozialismus gehört haben. Die englischen Romane des achtzehnten Jahrhunderts liebte Marx sehr, namentlich Fieldings »Tom Jones«, der in seiner Art ja ebenfalls ein Welt- und Zeitbild ist, doch erkannte er auch einzelne Romane Walter Scotts als Muster ihrer Gattung an.
In seinem literarischen Urteile war Marx frei von aller politischen und sozialen Voreingenommenheit, wie schon seine Vorliebe für Shakespeare und Walter Scott zeigt, doch huldigte er ebensowenig jener »reinen Ästhetik«, die sich nur allzugern mit politischer Gleichgültigkeit oder gar Knechtseligkeit paart. Er war eben auch hier ein ganzer Mann, |513| ein selbständiger und ursprünglicher Geist, der sich an keiner Schablone messen ließ. Auch darin nicht, daß er durchaus kein Kostverächter war und selbst solche literarische Kost nicht verschmähte, vor der sich der schulmäßige Ästhetiker dreimal bekreuzigt. Marx war ein großer Romanleser wie Darwin und Bismarck; eine besondere Vorliebe hatte er für abenteuerliche und humoristische Erzählungen; da stieg er dann wohl von seinen Cervantes und Balzac und Fielding zu den Paul de Kock und dem älteren Dumas herab, der den »Grafen von Monte Christo« auf dem Gewissen hat.
Noch auf einem ganz anderen Gebiete, als der schönen Literatur, pflegte Marx geistig auszuruhen; namentlich in Tagen seelischen Schmerzes und schwerer Leiden nahm er gern seine Zuflucht zur Mathematik, die eine beruhigende Wirkung auf ihn ausübte. Ob er in ihr selbständige Entdeckungen gemacht hat, wie Engels und Lafargue behaupten, muß hier dahingestellt bleiben; Mathematiker, die seine hinterlassenen Manuskripte eingesehen haben, sollen anderer Ansicht sein.
Bei alledem war Marx kein Wagner, der, in sein Museum gebannt, die Welt kaum einen Feiertag von weitem sah, noch auch nur ein Faust, dem zwei Seelen in seiner Brust wohnten. »Für die Welt arbeiten«, war eins seiner Lieblingsworte; wer so glücklich sei, sich wissenschaftlichen Zwecken widmen zu können, sollte auch seine Kenntnisse in den Dienst der Menschheit stellen. Dadurch erhielt Marx das Blut in seinen Adern und das Mark in seinen Knochen frisch. Im Kreise seiner Familie und seiner Freunde war er immer der heiterste und witzigste Gesellschafter, dem das herzliche Lachen aus breiter Brust klang, und wer den »Roten Schreckens-Doktor« suchte, wie Marx wohl seit den Tagen der Kommune genannt wurde, der fand keinen finstern Fanatiker oder verträumten Stubenhocker vor, sondern einen Mann von Welt, der in allen Sätteln gescheiter Unterhaltung gerecht war.
Was dem Leser seiner Briefe oft so bewundernswert erscheint, nämlich wie dieser reiche Geist aus der prachtvollen Spannung stürmischen Zorns unmerklich hinübergleitet in die tiefe, aber ruhige See philosophischer Betrachtung, scheint nicht minder stark auf seine Hörer gewirkt zu haben. So schreibt Hyndman über seine Gespräche mit Marx: »Als er mit heftiger Entrüstung über die Politik der liberalen Partei, namentlich über ihre irische Politik sprach, da flammten die kleinen, tief eingesunkenen Augen des alten Kriegers auf, seine dichten Augenbrauen zogen sich zusammen, die breite, starke Nase und das Gesicht wurden ersichtlich von Leidenschaft bewegt, und er ließ einen Strom kräftiger Brandmarkung sich ergießen, der gleichzeitig das Feuer seines Temperaments wie seine |514| wunderbare Gewalt über unsere Sprache zur Erscheinung brachte. Der Kontrast zwischen seinem Gebaren, wenn er durch Ärger tief erregt war, und seiner Haltung, wenn er dazu überging, seine Ansichten über die wirtschaftlichen Vorgänge der Zeit darzulegen, war sehr auffällig. Ohne jede ersichtliche Anstrengung ging er von der Rolle des Propheten und heftigen Anklägers zu der Rolle des ruhigen Philosophen über, und ich fühlte von Anfang an, daß manches lange Jahr verstreichen könnte, ehe ich aufgehört haben würde, auf diesem Gebiete als Schüler einem Lehrer gegenüberzustehen.«
Dem Verkehr in der sogenannten Gesellschaft hielt sich Marx nach wie vor fern, obgleich er auch in bürgerlichen Kreisen viel bekannter geworden war als zwanzig Jahre früher; so war Hyndman durch ein konservatives Mitglied des Parlaments auf ihn aufmerksam gemacht worden. Wohl aber war sein eigenes Haus im Anfang der siebziger Jahre der Mittelpunkt eines sehr regen Verkehrs, eine andere »Herberge der Gerechtigkeit« für die Flüchtlinge der Kommune, die hier immer Rat und Hilfe fanden. Freilich brachte das unruhige Völkchen auch viel Ärger und Sorge mit sich; als es allmählich verschwand, konnte Frau Marx bei aller gastlichen Gesinnung doch den Stoßseufzer nicht unterdrücken: Wir hatten genug an ihnen.
Doch gab es auch Ausnahmen. Im Jahre 1872 heiratete Charles Longuet, der im Rate der Kommune gesessen und deren offizielles Blatt redigiert hatte, Jenny Marx. Er verwuchs weder persönlich noch politisch so eng mit der Familie wie Lafargue, aber auch er war ein tüchtiger Mann; »er kocht, schreit und argumentiert wie früher«, schreibt Frau Marx einmal über ihn, »aber zu seiner Ehre muß ich ihm nachsagen, daß er seine Stunden im Kings College regelmäßig und zur Zufriedenheit seiner Vorgesetzten gegeben hat«. Die glückliche Ehe wurde durch den frühen Tod des ersten Kindes getrübt, aber dann wuchs »ein fetter, derber, prächtiger Junge« heran, zur Freude der ganzen Familie und nicht zum mindesten des Großvaters.
Lafargues gehörten auch zu den Verbannten der Kommune und wohnten ganz in der Nachbarschaft. Sie hatten das Unglück gehabt, zwei Kinder in frühem Alter zu verlieren; unter dem Druck dieses Schicksalsschlages hatte Lafargue die ärztliche Praxis aufgegeben, weil sie ohne ein gewisses Maß von Scharlatanerie nicht auszuüben sei. »Ein Jammer, daß er dem alten Vater Äskulap untreu geworden ist«, meinte Frau Marx. Denn mit dem Betrieb eines photographisch-lithographischen Ateliers wollte es nur langsam vorwärtsgehen, obgleich Lafargue, dem der Himmel glücklicherweise immer voll Geigen hing, »eine wahre |515| Niggerarbeit in die Bresche« schickte und an seiner Frau eine mutige und unermüdliche Helferin fand. Jedoch gegen die Konkurrenz des großen Kapitals war schwer anzukämpfen.
Auch die dritte Tochter fand in dieser Zeit einen französischen Bewerber in Lissagaray, der später die Geschichte der Kommune geschrieben hat, in deren Reihen er gekämpft hatte. Eleanor Marx scheint ihm günstig gesinnt gewesen zu sein, aber ihr Vater hegte Bedenken gegen die Solidität des Freiers; nach langem Hin und Her ist aus der Sache nichts geworden.
Im Frühjahr 1875 wechselte die Familie noch einmal die Wohnung, wenn auch nicht den Stadtteil; sie siedelte nach 41 Maitlandpark Road, Haverstock Hill über. Hier hat Marx die letzten Jahre gelebt, und hier ist er gestorben.
Von der Krise, in die alle sonstigen Zweige der alten Internationalen dadurch geraten waren, daß sie sich zu nationalen Arbeiterparteien entwickelten, blieb die deutsche Sozialdemokratie verschont, dank dem Umstande, daß sie sich von vornherein in nationalem Rahmen entwickelt hatte. Wenige Monate nach dem Fiasko des Genfer Kongresses, am 10. Januar 1874, feierte sie bei den Reichstagswahlen ihren ersten großen Wahlsieg, 350.000 Stimmen wurden gewonnen und neun Mandate erobert, von denen drei den Lassalleanern und sechs den Eisenachern zufielen.
Es wirft nun aber das letzte und stärkste Licht auf die Ursachen, die den Niedergang der alten Internationalen verschuldet hatten, daß Marx und Engels, die leitenden Köpfe ihres Generalrats, sich selbst mit derjenigen aufblühenden Arbeiterpartei, die ihnen ihrer Abstammung nach am vertrautesten sein mußte und ihren theoretischen Anschauungen am nächsten stand, doch nur schwer verständigen konnten. Auch sie wandelten nicht ungestraft unter Palmen; die internationale Warte, von der sie die Dinge überschauten, hinderte sie, den einzelnen Nationen in Herz und Nieren zu sehen. Begeisterte Verehrer, die ihnen in England und Frankreich entstanden sind, haben gleichwohl eingeräumt, daß sie die englischen und französischen Zustände niemals bis auf den letzten Grund durchschaut hätten. Auch mit den deutschen Zuständen haben sie niemals wieder eine völlig vertraute Fühlung gewonnen, seitdem sie ihre Heimat verlassen hatten; selbst in den eigentlichen Parteifragen |516| nicht, wo ihr nun einmal unbesiegbares Mißtrauen gegen Lassalle und alles Lassallesche ihr Urteil trübte.
Das trat in recht bezeichnender Weise hervor, als der neugewählte Reichstag zum ersten Male tagte. Von den sechs Eisenacher Vertretern saßen zwei, Bebel und Liebknecht, noch im Gefängnis; das Auftretender anderen vier, Geib, Most, Motteler und Vahlteich, rief aber unter den eigenen Anhängern große Enttäuschung hervor; Bebel berichtet in seinen »Denkwürdigkeiten«, ihm seien von den verschiedensten Seiten bittere Klagen darüber zugekommen, daß sich die vier von den drei Lassalleanern Hasenclever, Hasselmann und Reimer den parlamentarischen Rang hätten ablaufen lassen. Ganz anders sah Engels die Sachlage an; er schrieb an Sorge: »Die Lassalleaner sind durch ihre Repräsentanten im Reichstag so diskreditiert, daß die Regierung Verfolgungen gegen sie einleiten muß, um dieser Bewegung wieder den Schein zu geben, als sei sie ernstlich gemeint. Im übrigen haben die Lassalleaner seit den Wahlen sich in der Notwendigkeit befunden, als Schwanz der Unsrigen aufzutreten. Ein wahres Glück, daß Hasselmann und Hasenclever in den Reichstag gewählt. Sie diskreditieren sich da zusehends; entweder müssen sie mit den Unseren gehen oder aber auf eigene Faust Blödsinn machen. Beides ruiniert sie.« Gründlicher ließen sich die Dinge nicht wohl verkennen.
Die parlamentarischen Vertreter beider Fraktionen vertrugen sich ganz gut miteinander und ließen sich keine grauen Haare darum wachsen, ob auf der Tribüne die einen etwas besser und die anderen etwas schlechter abschnitten. Beide Fraktionen hatten den Wahlkampf so geführt, daß weder den Eisenachern der Vorwurf des Halbsozialismus, noch den Lassalleanern der Vorwurf des Kokettierens mit der Regierung gemacht werden konnte; beide hatten fast die gleiche Stimmenzahl erobert; beide standen im Reichstag denselben Gegnern mit denselben Forderungen gegenüber, und beide waren nach ihren Wahlerfolgen einer gleich heftigen Verfolgung durch die Regierung ausgesetzt. Uneinig waren sie eigentlich nur noch in der Organisationsfrage, aber auch dies letzte Hindernis räumte der streberische Eifer des Staatsanwalts Tessendorff aus dem Wege, indem er von willigen Gerichtshöfen Beschlüsse zu erreichen wußte, die sowohl die losere Organisation der Eisenacher wie die straffere Organisation der Lassalleaner zertrümmerten.
So war die Einigung der beiden Fraktionen von selbst auf dem Marsche. Als schon im Oktober 1874 Tölcke das Friedensangebot der Lassalleaner an Liebknecht überbrachte, der inzwischen aus dem Gefängnis |517|* entlassen worden war, so griff dieser schnell zu, vielleicht etwas eigenmächtig, aber doch mit einem Eifer, der deshalb nicht weniger ein Verdienst war, weil er in London sehr übel vermerkt wurde. Für Marx und Engels blieben die Lassalleaner nun einmal eine absterbende Sekte, die sich über kurz oder lang auf Gnade und Ungnade ergeben mußte. Mit ihnen auf dem Fuße der völligen Gleichberechtigung zu verhandeln, erschien ihnen als ein leichtsinniger Verstoß gegen die Interessen der deutschen Arbeiterklasse, und als nun gar im Frühjahr 1875 der Entwurf des gemeinsamen Programms veröffentlicht wurde, über das sich die Vertreter der beiden Fraktionen geeignet hatten, da brausten beide in hellem Zorn auf.
Am 5. Mai richtete Marx an die Führer der Eisenacher den sogenannten Programmbrief [3], nachdem Engels sich schon vorher mit einem ausführlichen Protest bei Bebel [4] eingefunden hatte. Härter denn je sprang Marx darin mit Lassalle um. Dieser habe das »Kommunistische Manifest« auswendig gekannt, aber es grob verfälscht, um seine Allianz mit den absolutistischen und feudalen Gegnern wider die Bourgeoisie zu beschönigen, indem er alle anderen Klassen für eine reaktionäre Masse gegenüber der Arbeiterklasse erklärt habe. Dabei war das Schlagwort der »reaktionären Masse« gar nicht von Lassalle, sondern erst nach dessen Tode von Schweitzer geprägt worden, und als Schweitzer es aufbrachte, war er dafür von Engels ausdrücklich belobt worden. Wirklich entnommen hatte Lassalle dem »Kommunistischen Manifest« das von ihm so getaufte eherne Lohngesetz; dafür mußte er sich als Anhänger der Malthusischen Bevölkerungstheorie abkanzeln lassen, die er ebenso verworfen hatte, wie Marx und Engels sie verwarfen.
Sah man jedoch von dieser höchst unerquicklichen Seite des Programmbriefs ab, so war er eine sehr lehrreiche Abhandlung über die Grundprinzipien des wissenschaftlichen Sozialismus, und von dem Koalitionsprogramm ließ er freilich keinen Stein auf dem andern. Gleichwohl hatte der wuchtige Brief bekanntlich keine andere Wirkung, als daß er die Empfänger zu ein paar kleinen, ziemlich belanglosen Verbesserungen ihres Entwurfs veranlaßte. Liebknecht hat ein paar Jahrzehnte später gesagt, die meisten, wenn nicht alle, seien zwar mit Marx einverstanden gewesen, und es hätte sich auch vielleicht auf dem Einigungskongreß eine Mehrheit dafür durchsetzen lassen, aber eine Minderheit wäre doch unzufrieden geblieben, und das hätte vermieden werden müssen, da es sich nicht um die Formulierung wissenschaftlicher Lehrsätze, sondern um die Einigung der beiden Fraktionen gehandelt habe.
|518| Eine weniger feierliche, aber dafür triftigere Erklärung findet die schweigende Beseitigung des Programmbriefes darin, daß er über den geistigen Horizont der Eisenacher ging, sogar noch mehr als über den geistigen Horizont der Lassalleaner. Marx hatte zwar wenige Monate vorher darüber geklagt, daß sich im Organ der Eisenacher von Zeit zu Zeit halbgelehrte Philisterphantasien geltend machten; das Zeug komme von Schulmeistern, Doktoren, Studenten, und dem Liebknecht müsse deshalb der Kopf gewaschen werden. Gleichwohl nahm er an, daß die realistische Auffassung, die der Partei so mühevoll beigebracht worden sei, aber nun auch Wurzeln geschlagen habe, von der Sekte der Lassalleaner durch ideologische Rechts- und andere, den Demokraten und französischen Sozialisten geläufige Flausen weggeschwemmt werden solle.
Darin irrte Marx gänzlich. In theoretischen Fragen standen beide Fraktionen ziemlich auf gleicher Stufe, oder wenn ein Unterschied bestand, so waren die Lassalleaner einigermaßen im Vorsprung. Bei den Eisenachern stieß der Entwurf des Einigungsprogramms auf gar keinen Widerspruch, während ein Westdeutscher Arbeitertag, der nahezu ausschließlich von Lassalleanern beschickt worden war, ihn einer Kritik unterzog, die sich mannigfach mit der Kritik berührte, die Marx einige Wochen später an ihm übte. Indessen braucht darauf kein besonderer Nachdruck gelegt zu werden; dem wissenschaftlichen Sozialismus, wie ihn Marx und Engels begründet hatten, standen beide Teile noch fern; von der historisch-materialistischen Denkweise hatten sie kaum eine Ahnung, und auch das Geheimnis der kapitalistischen Produktionsweise blieb ihnen noch verschlossen; die Art, wie sich K. A. Schramm, der damals namhafteste Theoretiker der Eisenacher, mit der Werttheorie herumschlug, lieferte dafür den schlagendsten Beweis.
Praktisch bewährte sich die Einigung, und insofern hatten auch Marx und Engels nichts gegen sie einzuwenden gehabt, es sei denn, daß sie meinten, die Eisenacher hätten sich von den Lassalleanern über das Ohr hauen lassen: hatte doch auch Marx in dem Programmbriefe gesagt: jeder Schritt praktischer Bewegung ist wichtiger als ein Dutzend Programme. Aber da die theoretische Unklarheit in der neuen Gesamtpartei eher zu- als abnahm, so sahen sie darin eine Wirkung der unnatürlichen Verschmelzung, und ihre Unzufriedenheit nahm eher schroffere als gelindere Formen an.
Stutzig hätte sie freilich machen können, daß die ihnen ärgerlichen Dinge viel mehr von den ehemaligen Eisenachern ausgingen als von den ehemaligen Lassalleanern, von denen Engels gelegentlich meinte, |519| sie würden bald die klarsten Köpfe sein, da sie in ihr - noch ein Jahr nach der Einigung fortbestehendes - Blatt am wenigsten Unsinn aufnähmen. Der Fluch der bezahlten Agitatoren, der Halbgebildeten, falle schwer auf ihre eigene Partei. Besonders gereizt war er durch Most, der »das ganze Kapital exzerpiert und doch nichts daraus kapiert habe« und sich gewaltig für den Sozialismus Dührings ins Zeug legte. »Es ist klar«, schrieb Engels am 24. Mai 1876 an Marx, »in der Vorstellung dieser Leute hat sich Dühring durch seine hundskommunen Angriffe gegen Dich uns gegenüber unverletzlich gemacht, denn wenn wir seinen theoretischen Blödsinn lächerlich machen, so ist das Rache gegenüber jenen Personalien.« Aber auch Liebknecht bekam sein Teil. »Es ist W[ilhelms] Sucht, dem Mangel unsrer Theorie abzuhelfen, auf jeden Philistereinwand eine Antwort zu haben und von der zukünftigen Gesellschaft ein Bild zu haben, weil doch auch der Philister sie darüber interpelliert; und daneben auch theoretisch möglichst unabhängig von uns zu sein, was ihm bei seinem totalen Mangel aller Theorie von jeher weit besser gelungen ist, als er selbst weiß.« Mit Lassalle und dessen Überlieferungen hatte alles das nichts zu tun.
Es war das rasche Anwachsen ihrer praktischen Erfolge, das die neue Gesamtpartei gleichgültig gegen die Theorie machte, und selbst das ist noch zuviel gesagt. Nicht die Theorie als solche mißachtete sie, sondern das, was sie in dem Eifer ihres kräftigen Vorwärtsschreitens für theoretische Haarspaltereien hielt. Um ihr aufsteigendes Gestirn sammelten sich verkannte Erfinder und Reformer, Impfgegner, Naturheilkundige und ähnliche schrullenhafte Genies, die in den arbeitenden Klassen, die sich so mächtig regten, die ihnen sonst versagte Anerkennung zu finden hofften. Wer nur guten Willen mitbrachte und irgendein Heilmittel für den kranken Gesellschaftskörper wußte, wurde willkommen geheißen, und zumal der Zustrom aus akademischen Kreisen, der den Bund zwischen Proletariat und Wissenschaft zu besiegeln verhieß. Ein Universitätslehrer nun gar, der sich mit dem Sozialismus, in dieser oder jener Schattierung des vieldeutigen Begriffs, anfreundete oder anzufreunden schien, brauchte keine allzu strenge Kritik seiner geistigen Habe zu befürchten.
Vor allem war Dühring vor solcher Kritik gesichert, da vieles an dem Manne, Persönliches und Sachliches, die geistig regen Elemente der Berliner Sozialdemokratie anziehen mußte. Er besaß ohne Zweifel große Fähigkeiten und Gaben, und die Art, wie er, arm und frühzeitig völlig erblindet, sich lange Jahre in der schwierigen Stellung eines Privatdozenten zu behaupten wußte, ohne jedes Zugeständnis an die herrschenden |520|* Klassen, auch auf dem Katheder seinen politischen Radikalismus bekennend, der nicht davor zurückscheute, Marat, Babeuf und die Männer der Kommune zu feiern, konnte den Arbeitern nur sympathisch sein. Seine Schattenseiten, die Anmaßung, womit er ein halbes Dutzend wissenschaftlicher Gebiete souverän zu beherrschen behauptete, auf deren keinem er schon wegen seines körperlichen Leidens wirklich heimisch war, und der immer wachsende Größenwahn, womit er seine Vorläufer niedersäbelte, auf philosophischem Gebiete die Fichte und Hegel ebenso, wie auf ökonomischem Gebiete die Marx und Lassalle, blieben im Hintergrunde oder wurden als Entgleisungen entschuldigt, die bei der geistigen Vereinsamung und den schweren Lebenskämpfen des Mannes begreiflich wären.
Marx hatte die »hundskommunen« Angriffe Dührings gar nicht beachtet, und inhaltlich waren sie auch nicht dazu geeignet, ihn herauszufordern. Auch die beginnende Schwärmerei der Parteigenossen für Dühring ließ ihn noch lange kalt, obgleich Dühring mit seinem Unfehlbarkeitsbewußtsein und seinem System von »Wahrheiten letzter Instanz« alle Anlagen eines geborenen Sektenstifters besaß. Noch als Liebknecht, der in diesem Falle durchaus auf dem Posten war, durch Einsendung von Arbeiterbriefen sie auf die Gefahr einer Verflachungspropaganda in der Partei aufmerksam machte, lehnten Marx und Engels eine Kritik Dührings als »eine zu subalterne Arbeit« ab, und erst ein anmaßendes Schreiben, das Most im Mai 1876 an Engels richtete, scheint der Tropfen gewesen zu sein, der den Eimer zum Überlaufen brachte.
Seitdem beschäftigte sich Engels eingehend mit dem, was Dühring seine »systemschaffenden Wahrheiten« nannte, und legte seine Kritik in einer Reihe von Aufsätzen nieder, die seit Neujahr 1.877 im »Vorwärts«, dem nunmehrigen Zentralorgan der Gesamtpartei, zu erscheinen begannen. Sie wuchsen sich zu der - nächst dem »Kapital« - bedeutendsten und erfolgreichsten Urkunde des wissenschaftlichen Sozialismus aus, aber ihre Aufnahme durch die Partei zeigte, daß in der Tat Gefahr im Verzuge gewesen war. Es fehlte nicht viel, und der Jahreskongreß der Partei, der im Mai 1877 in Gotha tagte, hätte ein Ketzergericht über Engels gehalten, wie es gleichzeitig der offizielle Universitätsklüngel über Dühring hielt. Most brachte den Antrag ein, die Aufsätze gegen Dühring aus dem Zentralorgan zu verbannen, da sie »für die weitaus größte Mehrheit der Leser des Vorwärts völlig ohne Interesse oder gar höchst anstoßerregend« seien, und Vahlteich, der sonst mit Most spinnefeind war, stieß in dasselbe Horn, indem er sagte, der Ton, den Engels anschlage, müsse zu einer Geschmacksverirrung führen und die |521| geistige Speise des »Vorwärts« ungenießbar machen. Glücklicherweise wurde die ärgste Blamage durch die Annahme des vermittelnden Antrags verhindert, daß die Fortsetzung dieser wissenschaftlichen Polemik aus agitatorisch-praktischen Gründen nicht mehr im Hauptblatt, sondern in einer wissenschaftlichen Beilage des »Vorwärts« erfolgen solle.
Zugleich beschloß dieser Kongreß, vom Oktober des Jahres ab eine wissenschaftliche Halbmonatszeitschrift herauszugeben, auf Anregung und mit finanzieller Unterstützung Karl Höchbergs, eines jener bürgerlichen Adepten des Sozialismus, die damals in Deutschland so zahlreich waren. Er war der Sohn eines Frankfurter Lotteriekollekteurs, ein noch junger, aber sehr wohlhabender, dabei in höchstem Grade opferwilliger und uneigennütziger Mann; alle, die ihn gekannt haben, stellen seinen persönlichen Eigenschaften das vortrefflichste Zeugnis aus. Minder günstig muß man über seine literarisch-politische Persönlichkeit urteilen, so wie sie sich in seinen Veröffentlichungen spiegelt. Da erscheint Höchberg als ein recht farbloser und trockener Geist, dem die Geschichte und die Theorie des Sozialismus unbekannt, dem namentlich die wissenschaftlichen Anschauungen, die Marx und Engels entwickelt hatten, vollkommen fremd waren. Er sah nicht in dem proletarischen Klassenkampf den Hebel zur Emanzipation der Arbeiterklasse, sondern wollte auf dem Wege friedlicher und gesetzlicher Entwicklung die besitzenden Klassen und namentlich ihre gebildeten Elemente für die Arbeitersache gewinnen.
Marx und Engels wußten jedoch noch nichts Näheres über ihn, als sie die Mitarbeit an der »Zukunft«, wie die neue Zeitschrift getauft wurde, an ihrem Teile ablehnten; sie waren übrigens nur durch ein anonymes Rundschreiben wie viele andere auch, um ihre Mitwirkung ersucht worden. Engels meinte, Kongreßbeschlüsse, so respektabel sie auch auf dem Gebiete der praktischen Agitation wären, gälten in der Wissenschaft gleich Null und reichten nicht hin, den wissenschaftlichen Charakter einer Zeitschrift festzustellen, der nicht dekretiert werden könne. Eine sozialistische wissenschaftliche Zeitschrift ohne ganz bestimmte wissenschaftliche Richtung sei ein Unding, und bei der großen jetzt in Deutschland grassierenden Verschiedenheit oder Unbestimmtheit der Richtungen fehle jede Bürgschaft, daß die einzuschlagende Richtung ihnen passe.
Wie richtig ihre Zurückhaltung war, zeigte gleich das erste Heft der »Zukunft«. Der Einführungsartikel Höchbergs war sozusagen ein neuer Aufguß von allem, was sie an dem Sozialismus der vierziger Jahre als entnervend und verweichlichend bekämpft hatten. So blieb ihnen jede peinliche Auseinandersetzung erspart. Als ein deutscher Parteigenosse anfragte, ob sie wegen der Debatte auf dem Gothaer Kongreß grollten, |522| antwortete Marx: »Ich grolle nicht (wie Heine sagt), und Engels ebensowenig. Wir beide geben keinen Pfifferling für Popularität. Beweis z.B. im Widerwillen gegen allen Personenkultus, habe ich während der Zeit der Internationalen die zahlreichen Anerkennungsmanöver, womit ich von verschiednen Ländern aus molestiert ward, nie in den Bereich der Publizität dringen lassen, ich habe auch nie darauf geantwortet, außer hie und da durch Rüffel.« Er fügte nur noch hinzu: »Aber solche Ereignisse, wie sie sich auf dem letzten Parteikongreß zugetragen, sie werden gehörig exploitiert von den Feinden der Partei im Ausland -, haben uns jedenfalls Vorsicht in unsren Verhältnissen zu den Parteigenossen in Deutschland aufgenötigt.« Das war aber nicht schlimm gemeint, denn Engels setzte seine Aufsätze gegen Dühring in der wissenschaftlichen Beilage des »Vorwärts« ruhig fort.
In sachlicher Beziehung wurde Marx aber doch schwer betroffen von dem »faulen Geist«, der sich, nicht so sehr unter den Massen, als unter den Führern geltend mache. Am 19. Oktober schrieb er an Sorge: »Der Kompromiß mit den Lassalleanern hat zum Kompromiß auch mit andern Halbheiten geführt, in Berlin (wie Most) mit Dühring und seinen Bewunderern, außerdem aber mit einer ganzen Bande halbreifer Studiosen und überweiser Doctores, die dem Sozialismus eine höhere, ideale Wendung geben wollen, d.h. die materialistische Basis (die ernstes objektives Studium erheischt, wenn man auf ihr operieren will) zu ersetzen durch moderne Mythologie, mit ihren Göttinnen der Gerechtigkeit, Freiheit und Gleichheit und fraternité. Herr Dr. Höchberg, der die Zukunft herausgibt, ist ein Vertreter dieser Richtung und hat sich in die Partei eingekauft - ich unterstelle mit den edelsten Absichten, aber ich pfeife auf Absichten. Etwas Miserableres wie sein Programm der Zukunft, hat selten mit mehr bescheidner Anmaßung das Licht erblickt.«
Marx und Engels hätten in der Tat ihre ganze Vergangenheit verleugnen müssen, wenn sie sich mit dieser »Richtung« jemals versöhnt hätten.
Auf dem Gothaer Kongreß von 1877 wurde auch beschlossen, einen sozialistischen Weltkongreß zu beschicken, der im September desselben Jahres in Gent stattfinden sollte. Zum Vertreter der deutschen Partei wurde Liebknecht gewählt.
|523| Angeregt war dieser Kongreß durch die Belgier worden, die in den anarchistischen Lehren inzwischen ein Haar gefunden hatten und eine Wiedervereinigung der beiden Richtungen wünschten, die sich auf dem Haager Kongreß getrennt hatten. Die bakunistische Richtung hatte wie 1873 in Genf, so 1874 in Brüssel und 1876 in Bern ihre Kongresse abgehalten, aber mit immer abnehmenden Kräften; sie zerfiel an den praktischen Bedürfnissen des proletarischen Emanzipationskampf es, wie sie aus ihnen entstanden war.
Gleich in dem Ursprunge dieser Wirren, dem Genfer Streit zwischen der fabrique und den gros métiers, offenbarten sich die wirklichen Gegensätze. Hier eine gut gelohnte Arbeiterschaft mit politischen Rechten, die sie zum parlamentarischen Kampfe befähigten, aber auch zu allerlei anfechtbaren Bündnissen mit bürgerlichen Parteien verlockten; dort eine schlecht gelohnte und politisch entrechtete Arbeiterschicht, die auf ihre nackte Kraft angewiesen war. Um diese praktischen Gegensätze handelte es sich, und nicht, wie es in der legendenhaften Überlieferung dargestellt zu werden pflegt, um den theoretischen Gegensatz: Hier Vernunft, dort Unvernunft!
So einfach lagen die Dinge nicht und liegen sie auch heute nicht, wie die immer neue Auferstehung des Anarchismus zeigt, sooft er auch schon mausetot geschlagen worden ist. Man braucht ihn noch lange nicht zu bekennen, wenn man sich davor hütet, ihn zu verkennen. Ebenso wie man das Bekenntnis zur politisch-parlamentarischen Beteiligung noch nicht zu verleugnen braucht, wenn man nicht verkennt, daß sie mit ihren, an sich gewiß annehmbaren Reformen die Arbeiterbewegung auf einen toten Punkt führen kann, wo ihr der revolutionäre Atem ausgeht. Es war doch kein Zufall, daß Bakunin eine Reihe von Anhängern zählte, die sich die größten Verdienste um den proletarischen Emanzipationskampf erworben haben. Liebknecht hat freilich nie zu den Freunden Bakunins gehört, aber mindestens so eifrig wie dieser, zur Zeit des Baseler Kongresses, die politische Enthaltung gefordert. Andere dagegen wie Jules Guesde in Frankreich, Carl Cafiero in Italien, César de Paepe, Pawel Axelrod in Rußland waren zur Zeit des Haager Kongresses und noch lange nachher die eifrigsten Bakunisten; wenn sie dann ebenso eifrige Marxisten wurden, so geschah es, wie der eine und der andere von ihnen ausdrücklich hervorgehoben hat, nicht indem sie ihre bisherige Überzeugung über Bord warfen, sondern nur indem sie an das anknüpften, was Bakunin mit Marx gemeinsam hatte.
Eine proletarische Massenbewegung wollten beide, und ihr Streit ging nur um die Heerstraße, welche eine solche Bewegung zu marschieren |524| hatte. Nun aber zeigten die Kongresse der bakunistischen Internationalen, daß der anarchistische Weg unpassierbar war.
Es würde an dieser Stelle zu weit führen, den schnellen Verfall des Anarchismus an dem Verlauf seiner einzelnen Kongresse nachzuweisen. Das Zertrümmern ging glücklich und gründlich genug vor sich; man schaffte den Generalrat und den Jahresbeitrag ab, man verbot den Kongressen die Abstimmung über prinzipielle Fragen und wehrte gerade noch mit Mühe dem Versuch, geistige Arbeiter von der Internationalen auszuschließen. Aber mit dem Aufbauen, mit dem Entwurf eines neuen Programms und einer neuen Taktik, sah es um so trüber aus. Auf dem Genfer Kongreß stritt man namentlich über die Frage des Generalstreiks als des einzigen und unfehlbaren Mittels der sozialen Umwälzung, kam aber zu keiner Einigung, und noch viel weniger auf dem nächsten Kongreß in Brüssel über die Frage der öffentlichen Dienste, den Hauptgegenstand der Verhandlungen, über den de Paepe in einer Weise berichtete, die ihm den nicht unberechtigten Vorwurf eintrug, daß er überhaupt den anarchistischen Boden verlassen habe. Es liegt auf der Hand, wie notwendig de Paepes Entgleisung war, wenn gerade über diese Frage etwas Greifbares gesagt werden sollte. Nach heftigen Debatten wurde auch sie auf den nächsten Kongreß verschoben, auf dem sie aber auch nicht entschieden wurde. Die Italiener erklärten überhaupt, »die Ära der Kongresse sei abgeschlossen«, und verlangten die »Propaganda der Tat«; innerhalb zweier Jahre brachten sie, gestützt auf eine Hungersnot, auch sechzig Putsche fertig, aber der Erfolg für ihre Sache war gleich Null.
Mehr noch als durch den hoffnungslosen Wirrwarr seiner theoretischen Ansichten verwuchs der Anarchismus dadurch zu einer verknöcherten Sekte, daß er sich ablehnend zu allen praktischen Fragen stellte, die die unmittelbarsten Interessen des modernen Proletariats berührten. Als in der Schweiz eine Massenbewegung zugunsten des gesetzlichen Zehnstundentags sich entwickelte, lehnten die Anarchisten die Beteiligung ab; ebenso als die flämischen Sozialisten einen Petitionsfeldzug unternahmen, um das gesetzliche Verbot der Kinderarbeit in Fabriken durchzudrücken. Natürlich verwarfen sie auch jeden Kampf ums allgemeine Wahlrecht oder, wo dies Wahlrecht schon bestand, seine Benutzung. Gegenüber dieser dürren und hoffnungslosen Politik traten die Erfolge der deutschen Sozialdemokratie in ein um so glänzenderes Licht, und entfremdeten die Massen überall der anarchistischen Propaganda.
Die Berufung eines sozialistischen Weltkongresses nach Gent, die der anarchistische Kongreß in Bern 1876 für das nächste Jahr beschloß, |525| war schon von der Erkenntnis bestimmt, daß es dem Anarchismus mißlungen sei, die Massen für sich zu gewinnen. Der Kongreß tagte vom 9. bis 15. September in Gent. Er war mit 42 Delegierten beschickt, von denen die Anarchisten nur noch über einen festen Kern von 11 Mitgliedern unter Führung von Guillaume und Kropotkin geboten; viele ihrer bisherigen Anhänger, darunter die Mehrzahl der belgischen Delegierten und der Engländer Hales, schwenkten zu dem sozialistischen Flügel über, der von Liebknecht, Greulich und Franckel geführt wurde. Zwischen Liebknecht und Guillaume kam es zu einem scharfen Zusammenstoß, als dieser die deutsche Sozialdemokratie beschuldigte, bei den Reichstagswahlen ihr Programm in die Tasche zu stecken. Im allgemeinen aber verliefen die Verhandlungen ganz friedlich; die Anarchisten hatten die Lust an großen Worten verloren und stimmten ihre Reden auf einen sanften Mollton, wodurch ihren Gegnern ein entgegenkommendes Verhalten ermöglicht wurde. Jedoch zu dem geplanten »Solidaritätsvertrage« kam es nicht; dazu gingen die Meinungen zu weit auseinander.
Marx hatte kaum etwas anderes erwartet; seine gespannte Aufmerksamkeit war jetzt auf einen anderen Wetterwinkel gerichtet, aus dem er einen revolutionären Sturm erwartete: auf den Russisch-Türkischen Krieg. Von zwei Briefen, durch die er Liebknecht beriet, begann der erste, vom 4. Februar 1878: »Wir nehmen die entschiedenste Partei für die Türken, aus zwei Gründen: 1. weil wir den türkischen Bauer - also die türkische Volksmasse - studiert und ihn daher als unbedingt einen der tüchtigsten und sittlichsten Repräsentanten des Bauerntums in Europa kennengelernt haben. 2. Weil die Niederlage der Russen die soziale Umwälzung ... deren Elemente massenhaft vorhanden, sehr beschleunigt haben würde und damit den Umschwung in ganz Europa.« Schon ein Vierteljahr früher hatte Marx an Sorge geschrieben: »Diese Krise ist ein neuer Wendepunkt der europäischen Geschichte, Rußland - und ich habe seine Zustände aus den russischen Originalquellen, inoffiziellen und offiziellen (letztere nur wenigen Menschen zugänglich, aber mir durch Freunde in Petersburg verschafft) studiert - stand schon lang an der Schwelle einer Umwälzung; alle Elemente dazu fertig. Die braven Türken haben die Explosion um Jahre beschleunigt durch die Keile, die sie nicht nur der russischen Armee und den russischen Finanzen, sondern der die Armee kommandierenden Dynastie (Zar, Thronfolger und sechs andre Romanows) höchsteigen persönlich erteilt ... Das dumme Zeug, das die russischen Studenten machen, ist nur Symptom, an sich selbst wertlos. Aber es ist Symptom. Alle Schichten der russischen Gesellschaft sind ökonomisch, moralisch, intellektuell in voller Dekomposition.« Diese |526| Beobachtungen haben sich als vollkommen richtig erwiesen, aber wie es ihm in seiner revolutionären Ungeduld oft passiert ist, so unterschätzte Marx in der Klarheit, womit er die Dinge ihren Weg nehmen sah, die Länge des Weges.
Die anfänglichen Niederlagen der Russen schlugen in Erfolge um; wie Marx annahm, durch die heimliche Unterstützung Bismarcks, durch den Verrat Englands und Österreichs und nicht zuletzt auch durch die Schuld der Türken, die es versäumt hätten, durch eine Revolution in Konstantinopel das alte Serailregiment zu stürzen, das die beste Schutztruppe des Zaren gewesen sei. Ein Volk, das in solchen Momenten der höchsten Krise nicht revolutionär dreinzufahren wisse, sei verloren.
So endete der Russisch-Türkische Krieg nicht mit einer europäischen Revolution, sondern mit einem Diplomatenkongresse, am selben Ort und zur selben Zeit, wo die deutsche Sozialdemokratie durch einen furchtbaren Schlag zerschmettert zu werden schien.
Trotz alledem begann eine neue Morgenröte am Welthorizonte zu dämmern. Das Sozialistengesetz, mit dem Bismarck die deutsche Sozialdemokratie zu zerschmettern gedachte, leitete nur ihr Heldenzeitalter ein, und so räumte es auch mit allen Irrungen und Wirrungen auf, die zwischen ihr und den beiden Alten in London bestanden.
Freilich erst nach einem letzten Kampfe. Die deutsche Partei hatte die Attentatshetze und die Attentatswahlen im Sommer 1878 rühmlich genug bestanden. Aber in ihren Vorbereitungen auf den drohenden Schlag hatte sie nicht genügend erwogen, mit welcher Summe erbitterten Hasses sie zu rechnen hatte. Kaum war das Gesetz rechtskräftig geworden, als alle Versprechungen seiner loyalen Handhabung«, mit denen die Vertreter der Regierung die Bedenken des Reichstags beschwichtigt hatten, vollkommen vergessen waren und alle Einrichtungen der Partei so rücksichtslos zertrümmert wurden, daß Hunderte von Existenzen auf die Straße flogen. Selbst der sogenannte kleine Belagerungszustand wurde schon wenige Wochen später, in handgreiflichem Widerspruch mit dem Wortlaut des Gesetzes, über Berlin und Umgegend verhängt, und einigen sechzig Familienvätern ging sofort der Ausweisungsbefehl zu, der ihnen nicht nur ihr Brot, sondern auch ihre Heimat kostete.
|527| Dadurch allein schon entstand eine begreifliche und kaum vermeidliche Verwirrung. Hatte der Generalrat der Internationalen nach dem Falle der Kommune bereits geklagt, daß ihn die Sorge für die Kommuneflüchtlinge an der Erledigung seiner regelmäßigen Arbeiten monatelang gehindert habe, so hatte die deutsche Parteileitung nunmehr eine noch viel schwierigere Aufgabe zu lösen, auf Schritt und Tritt polizeilich behindert, wie sie war, und inmitten einer furchtbaren Wirtschaftskrise. Es kann auch nicht bestritten werden, daß der Sturm die Spreu von dem Korn sonderte, daß die bürgerlichen Elemente, die der Partei in den letzten Jahren zugeströmt waren, sich vielfach als unzuverlässig erwiesen, daß manche Führer sich nicht bewährten, andere, auch tüchtigere Männer sich durch die schweren Schläge der Reaktion entmutigt fühlten und die Feinde durch einen tatkräftigen Widerstand nur noch mehr zu reizen fürchteten.
Von alledem waren Marx und Engels wenig erbaut, wobei sie gewiß die Schwierigkeiten unterschätzten, die zu überwinden waren. Aber selbst an der Haltung der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion, die in der Zahl von neun Köpfen aus den Attentatswahlen hervorgegangen war, hatten sie berechtigte Ausstellungen zu machen. Einer von diesen, Max Kayser, hielt es für richtig, bei der Beratung eines neuen Zolltarifs für höhere Eisenzölle zu sprechen und zu stimmen, was einen sehr peinlichen Eindruck machen mußte. Denn alle Welt wußte, daß der neue Zolltarif die Aufgabe hatte, ein paar hundert Millionen mehr jährlich in die Reichskasse zu liefern, die Grundrente des landwirtschaftlichen Grundbesitzes gegen die amerikanische Konkurrenz zu schützen und der Großindustrie zu ermöglichen, die Wunden zu heilen, die sie sich selbst im Taumel der Gründerjahre geschlagen hatte, und daß nicht zuletzt deshalb das Sozialistengesetz erlassen worden war, um den Widerstand der Massen gegen die ihnen drohende Auspowerung zu brechen.
Als Bebel die Abstimmung Kaysers mit dessen fleißigen Studien über die Eisenzollfrage rechtfertigen wollte, antwortete Engels kurz und bündig: »Wenn seine Studien einen Pfennig wert, so mußten sie ihn lehren, daß in Deutschland zwei Hüttenwerke sind, Dortmunder Union und Königs- und Laurahütte, deren jedes imstande ist, den ganzen inländischen Bedarf zu decken: daneben auch die vielen kleineren, daß hier also Schutzzoll reiner Unsinn ist, daß hier nur Eroberung des auswärtigen Marktes helfen kann, also absoluter Freihandel oder aber Bankrott; daß die Eisenfabrikanten selbst den Schutzzoll nur wünschen können, wenn sie sich zu einem Ring, einer Verschwörung zusammengetan haben, die dem inneren Markt Monopolpreise aufzwingt, um dagegen |528|* die überschüssigen Produkte auswärts zu Schleuderpreisen loszuschlagen, wie sie dies im Augenblick bereits tatsächlich tun. Im Interesse dieses Ringes, dieser Monopolistenverschwörung, hat K[ayser] gesprochen, und soweit er für Eisenzölle stimmte, auch gestimmt.« Als nun auch Karl Hirsch in der »Laterne« mit Kaysers Taktik unsanft genug ins Gericht ging, verfiel die Fraktion auf den unglücklichen Gedanken, die Beleidigte zu spielen, da Kayser mit ihrer Genehmigung gesprochen habe. Damit verdarb sie es bei Marx und Engels vollends; »sie sind schon so weit vom parlamentarischen Idiotismus angegriffen, daß sie glauben, über der Kritik zu stehn, daß sie die Kritik als ein crime de lésemajesté [Mehring übersetzt: Majestätsverbrechen] verdonnern« meinte Marx.
Karl Hirsch war ein junger Schriftsteller, der sich als stellvertretender Redakteur des »Volksstaats« während Liebknechts mehrjähriger Festungshaft seine Sporen verdient und seither in Paris gelebt hatte, aber von hier nach Erlaß des deutschen Ausnahmegesetzes ausgewiesen war. Er tat nun, was die deutsche Parteileitung von Anfang an hätte tun sollen: er gab seit Mitte Dezember 1878 in Breda in Belgien »Die Laterne« heraus, ein Wochenblättchen im Format und Stil von Rocheforts »Lanterne«, so daß es in einfachen Briefumschlägen nach Deutschland versandt werden konnte, um hier ein Sammel- und Stützpunkt der sozialdemokratischen Bewegung zu werden. Die Absicht war gut und Hirsch prinzipiell ein durchaus klarer Kopf, aber die von ihm gewählte Form, kurze, geistreich pointierte Epigramme, entsprach wenig den Bedürfnissen eines Arbeiterblattes. Darin traf es die »Freiheit« glücklicher, ein Wochenblatt, das Most wenige Wochen später mit Hilfe des Kommunistischen Arbeiterbildungsvereins in London herauszugeben begann; nur daß es sich nach leidlich vernünftigen Anfängen in eine ziellose Revolutionsspielerei verlor.
Für die deutsche Parteileitung wurde mit dem Erscheinen dieser beiden, gewissermaßen wild gewachsenen und von ihr unabhängigen Parteiblätter die Frage eines ausländischen Preßorgans brennend. Bebel und Liebknecht traten mit allem Nachdruck dafür ein, und es gelang ihnen auch, den noch immer sehr zähen Widerstand einflußreicher Parteikreise zu überwinden, die an der Taktik vorsichtiger Zurückhaltung festhalten wollten. Mit Most war schon keine Einigung mehr möglich, aber Hirsch gab die »Laterne« auf und erklärte sich bereit, die Redaktion des neuen Organs zu übernehmen; auch Marx und Engels, die in Hirsch volles Vertrauen setzten, waren zur Mitarbeit bereit. Das neue Blatt sollte als Wochenschrift in Zürich erscheinen, und mit seiner |529| Vorbereitungen wurden drei Parteigenossen beauftragt, die in Zürich, lebten: der Versicherungsbeamte Schramm, der aus Berlin ausgewiesen worden war, Karl Höchberg und Eduard Bernstein, den Höchberg als literarischen Beirat gewonnen hatte.
Sie hatten es aber offenbar nicht eilig mit dem Auftrage, der ihnen erteilt worden war, und der Grund ihres Zögerns wurde offenbar, als sie im Juli 1879 mit einem eigenen »Jahrbuch für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik« hervortraten, das zweimal im Jahre erscheinen sollte. Der Geist, worin es redigiert war, offenbarte sich namentlich in einem Artikel, der »Rückblicke auf die sozialistische Bewegung« warf und mit drei Sternen gezeichnet war. Doch waren seine eigentlichen Verfasser Höchberg und Schramm; Bernstein hatte nur wenige Zeilen beigesteuert.
Inhaltlich aber war der Artikel eine unglaublich geschmack- und taktlose Kapuzinade über die Sünden der Partei, über ihren Mangel an »gutem Ton«, über ihre Sucht zu schimpfen, über ihre Koketterie mit den Massen und ihre Mißachtung der gebildeten Klassen, und was sonst von jeher die Schneiderseele des Philisters an proletarischen Bewegungen zu ärgern pflegt. Ihrer praktischen Weisheit letzter Schluß aber war, die erzwungene Muße des Sozialistengesetzes zur Buße und Einkehr zu benutzen. Marx und Engels waren über das Machwerk empört; in einem privaten Rundschreiben an die leitenden Parteikreise forderten sie kategorisch, daß man Leute mit solchen Gesinnungen, wenn man sie einmal aus praktischen Gründen in der Partei dulden wolle, wenigstens nicht an hervorragender Stelle sprechen lassen solle.[5] Dies Recht hat freilich auch Höchberg nicht eingeräumt erhalten, sondern er hatte es sich einfach genommen, wie er denn auch ganz eigenmächtig verfahren zu sein scheint, als er für das »Dreigestirn« in Zürich ein Überwachungsrecht über die Redaktion Hirsch beanspruchte und sich eine Redaktionsführung im Stil der »Laterne« verbat. Daraufhin sagten sich Hirsch und die beiden Alten in London von jeder Beteiligung an dem neuen Blatte los.
Aus dem vielen Hin- und Hergeschreibe in der Sache haben sich nur Bruchstücke erhalten. Daraus geht freilich hervor, daß Bebel und Liebknecht mit den Ansprüchen des »Dreigestirns« keineswegs einverstanden gewesen, aber man sieht nicht recht, weshalb sie nicht rechtzeitig dazwischengefahren sind. Höchberg selbst war nach London gekommen, wo er jedoch nur Engels antraf, der von seinen konfusen Anschauungen den schlechtesten Eindruck empfing, sowenig er oder Marx je an den guten Absichten des Mannes gezweifelt haben. Die gegenseitige Erbitterung war auch wenig geeignet, ein rechtzeitiges Einvernehmen zu fördern; am 19. September 1879 schrieb Marx an Sorge, würde das neue Wochenblatt |530|* im Stil Höchbergs redigiert werden, so wären sie gezwungen, öffentlich gegen solche »Verluderung« der Partei und der Theorie aufzutreten. »Die Herren sind also vorgewarnt und kennen uns auch genug um zu wissen, daß es hier heißt: Biegen oder Brechen! Wollen sie sich kompromittieren, tant pis! [Mehring übersetzt: um so schlimmer!] Uns zu kompromittieren wird ihnen in keinem Fall gestattet.«
Glücklicherweise ist es nicht zu dem Äußersten gekommen. Vollmar übernahm die Redaktion des Züricher »Sozialdemokraten« und führte sie zwar »miserabel« genug, wie Marx und Engels meinten, aber doch nicht so, daß sie einen Anlaß zum öffentlichen Protest gehabt hätten. Es gab nur »beständige Korrespondenzauseinandersetzungen mit den Leipzigern, wobei 's oft scharf hergeht«. Das »Dreigestirn« erwies sich auch als ungefährlich. Schramm hielt sich völlig zurück; Höchberg war häufig verreist, und Bernstein befreite sich unter dem Druck der Ereignisse von aller katzenjämmerlichen Stimmung, wie es gleichmäßig und gleichzeitig vielen Parteigenossen erging, die bis dahin die Dinge ein wenig hatten an sich herankommen lassen. Nicht zuletzt mochte zur Beruhigung der Gemüter beitragen, daß Marx und Engels den ungeheuren Schwierigkeiten, mit denen die deutsche Parteileitung zu kämpfen hatte, nachgerade in höherem Grade gerecht wurden, als es anfangs wohl geschehen war. Am 5. November 1880 schrieb Marx an Sorge: »Denen, comparativement parlant [Mehring übersetzt: die vergleichsweise] ruhig im Auslande sitzen, ziemt es nicht, den unter den schwierigsten Umständen und mit großen persönlichen Opfern im Inland Wirkenden, zum Gaudium der Bourgeois und der Regierung, ihre Position noch zu erschweren.«Wenige Wochen darauf wurde sogar ein förmlicher Friede geschlossen.
Vollmar hatte seine Redaktionsstelle zum 31. Dezember 1880 gekündigt, und es war in entgegenkommendem Sinne gemeint, daß die deutsche Parteileitung nunmehr Karl Hirsch zu berufen beschloß. Da Hirsch zur Zeit in London lebte, entschloß sich Bebel, hinüberzufahren, um mit ihm zu verhandeln; zugleich wollte er sich, was längst schon geplant war, einmal gründlich mit Marx und Engels aussprechen, und er nahm auch Bernstein mit, um das Vorurteil zu zerstreuen, das gegen diesen, der sich inzwischen durchaus bewährt hatte, noch immer in London bestand. Der Kanossagang nach London, wie er in Parteikreisen genannt wurde, erreichte seine verschiedenen Zwecke durchaus; nur daß Karl Hirsch seine anfängliche Zusage nachträglich dahin einschränkte, er wolle den »Sozialdemokraten« von London aus redigieren. Das wurde abgelehnt, und das Ende vom Liede war, daß Bernstein zunächst vorläufig |531|*, dann aber endgültig mit der Redaktion betraut wurde, die er, nicht zuletzt zur Zufriedenheit der Londoner, mit Ehren führte. Und als ein Jahr darauf die ersten Reichstagswahlen unter dem Sozialistengesetz stattfanden, jubelte Engels: So famos hat sich noch kein Proletariat geschlagen.
Auch in Frankreich leuchteten günstige Sterne. Nach der blutigen Maiwoche des Jahres 1871 hatte Thiers den noch immer zitternden Bourgeois von Versailles verkündigt, daß der Sozialismus für Frankreich tot sei, unbekümmert darum, daß er sich mit der gleichen Versicherung schon einmal, nach den Junitagen von 1848, als falscher Prophet erwiesen hatte. Er mochte glauben, daß der um so kräftigere Aderlaß - man berechnete 1871 den Verlust der Pariser Arbeiterschaft durch die Straßenkämpfe, die Hinrichtungen, die Deportationen, die Galeerenstrafen, die Auswanderung auf 100.000 Köpfe - um so wirksamer sein werde. Aber er täuschte sich nur um so gründlicher. Nach 1848 hatte der Sozialismus immerhin an zwei Jahrzehnte gebraucht, um aus seiner Betäubung und seinem Schweigen zu erwachen; nach 1871 aber brauchte er nur ein halbes Jahrzehnt, um sich wieder anzumelden. Schon 1876, als die Kriegsgerichte noch ihre Blutarbeit verrichteten und Verteidiger der Kommune füsiliert wurden, tagte der erste Arbeiterkongreß in Paris.
Freilich war er zunächst nur eine Anmeldung. Er stand unter der Gönnerschaft der bürgerlichen Republikaner, die an den Arbeitern eine Stütze gegen die monarchistischen Krautjunker suchten, und seine Beschlüsse bewegten sich um das harmlose Genossenschaftswesen, wie es etwa Schulze-Delitzsch in Deutschland vertrat. Aber daß es dabei nicht bleiben würde, ließ sich voraussehen. Die mechanische Großindustrie, die sich seit dem Handelsvertrage mit England vom Jahre 1803 langsam entwickelt hatte, war nach 1870 ungleich schneller gewachsen. Sie hatte hohen Anforderungen gerecht zu werden: die Schäden zu heilen, die der Krieg dem dritten Teile Frankreichs zugefügt hatte, die Mittel für den riesigen Aufbau eines neuen Militarismus zu schaffen, endlich die Lücke auszufüllen, die durch den Verlust des Elsasses entstanden war, derjenigen französischen Provinz, die bis 1870 industriell am entwickeltsten gewesen war. Was von ihr beansprucht wurde, verstand die große Industrie zu leisten. In allen Teilen des Landes schossen Fabriken empor und schufen ein industrielles Proletariat, das in den Blütetagen der alten Internationalen eigentlich doch nur erst in einigen Städten des nordöstlichen Frankreichs vorhanden gewesen war.
Diese Voraussetzung erklärte die schnellen Erfolge, die Jules Guesde errang, als er sich mit seiner zündenden Beredsamkeit in die Arbeiterbewegung |532|* warf, die mit dem Pariser Kongreß von 1876 eingesetzt hatte. Eben erst vom Anarchismus bekehrt, zeichnete sich Guesde nicht durch theoretische Klarheit aus, wie man heute noch in der von ihm 1877 gegründeten »Égalité« erkennen kann; obgleich »Das Kapital« schon ins Französische übersetzt und veröffentlicht worden war, wußte er nichts von Marx, dessen Theorien ihm erst durch Karl Hirsch bekannt wurden. Aber er hatte den Gedanken des Gemeineigentums am Grund und Boden und an den produzierten Produktionsmitteln mit voller Entschiedenheit und Klarheit erfaßt, und mit diesem letzten Worte des proletarischen Emanzipationskampfs, das auf den Kongressen der alten Internationalen auf den heftigsten Widerstand der französischen Delegierten zu stoßen pflegte, wußte Guesde, ein Rednertalent ersten Ranges und ein scharfsinniger Polemiker, die französischen Arbeiter aufzustürmen.
Er hatte den Erfolg, daß bereits auf dem zweiten Arbeiterkongresse, der im Februar 1878 in Lyon tagte und nach der Absicht seiner Veranstalter nur eine neue Auflage des Pariser Kongresses werden sollte, sich eine Minderheit von zwanzig Delegierten um seine Fahne sammelte. Nunmehr wurde die Sache für die Regierung und die Bourgeoisie brenzlich; man begann die Arbeiterbewegung zu verfolgen, und es gelang auch, die »Égalité« durch Geld- und Gefängnisstrafen ihrer Redakteure zu unterdrücken. Aber Guesde und seine Genossen ließen sich nicht entmutigen; sie arbeiteten unverdrossen weiter, und auf dem dritten Arbeiterkongresse, der im Oktober 1879 in Marseille tagte, hatten sie die Mehrheit für sich, die sich sofort als sozialistische Partei auftat und für den politischen Kampf organisierte. Die »Égalité« erstand wieder und gewann an Lafargue einen fleißigen Mitarbeiter, der fast alle ihre theoretischen Artikel schrieb, wenig später begann Malon, auch er ein ehemaliger Bakunist, die »Revue socialiste« herauszugeben, die Marx und Engels mit einzelnen Beiträgen unterstützten.
Dann begab sich Guesde im Frühjahr 1880 nach London, um mit Marx, Engels und Lafargue ein Wahlprogramm für die junge Partei zu entwerfen. Man einigte sich auf das sogenannte Minimalprogramm, das nach einer kurzen Einleitung, die in wenigen Zeilen das kommunistische Ziel erläuterte, in seinem ökonomischen Teil nur aus Forderungen bestand, die aus der Arbeiterbewegung unmittelbar hervorwuchsen. Man einigte sich freilich nicht über jeden einzelnen Punkt; als Guesde darauf drängte, die Forderung eines gesetzlich festgestellten Minimallohns in das Programm aufzunehmen, meinte Marx, wenn das französische Proletariat noch so kindisch sei, solcher Köder zu bedürfen, so sei es nicht erst der Mühe wert, ein Programm aufzustellen.
|533| Indessen war das nicht so schlimm gemeint; im ganzen betrachtete Marx das Programm als einen gewaltsamen Schritt, die französischen Arbeiter aus ihrem Phrasennebel auf den Boden der Wirklichkeit herabzuziehen, und sowohl aus der Opposition wie aus der Zustimmung, die es fand, schloß er, daß die erste wirkliche Arbeiterbewegung in Frankreich entstehe. Bisher hätte es dort nur Sekten gegeben, die natürlich ihr Losungswort vom Sektenstifter erhalten hätten, während die Masse des Proletariats den radikalen oder radikaltuenden Bourgeois folgte und sich am Tage der Entscheidung für sie schlüge, um den Tag darauf von den Leuten, die sie ans Ruder gebracht hätte, niedergemetzelt, deportiert usw. zu werden. Deshalb war Marx auch sehr einverstanden damit, daß seine Schwiegersöhne, sobald ihnen die der französischen Regierung abgetrotzte Amnestie der Kommunards die Rückkehr ermöglichte, nach Frankreich übersiedelten: Lafargue, um gemeinsam mit Guesde zu arbeiten, Longuet, um eine einflußreiche Redakteurstelle in der »Justice« Clemenceaus zu übernehmen, der an der Spitze der äußersten Linken stand.
Anders, aber im Sinne von Marx noch erfreulicher, lagen die Dinge in Rußland. Hier wurde sein Hauptwerk eifriger gelesen und lebhafter anerkannt als irgendwo anders; namentlich in der jüngeren Gelehrtenwelt gewann Marx viele Anhänger und zum Teil auch persönliche Freunde. Aber den beiden Hauptrichtungen der damaligen russischen Massenbewegung, soweit es eine solche gab, der Partei des Volkswillens und der Partei der schwarzen Umteilung, war seine Auffassung und Lehre noch ganz fremd. Beide standen wenigstens insoweit noch ganz auf bakunistischem Boden, als es ihnen vor allen Dingen auf die bäuerliche Klasse ankam. Die Frage, auf die es ihnen in erster Reihe ankam, formulierten Marx und Engels so: Kann die russische Bauerngemeinde, diese allerdings schon sehr zersetzte Form des urwüchsigen Gemeineigentums am Boden, unmittelbar übergehen in eine höhere kommunistische Form des Grundeigentums, oder aber muß sie vorher denselben Auflösungsprozeß durchmachen, der sich in der historischen Entwicklung des Westens darstellt?
Die »einzige, heute mögliche« Antwort auf diese Frage gaben Marx und Engels in der Vorrede zu einer neuen, von Vera Sassulitsch verfaßten Übersetzung des »Kommunistischen Manifestes« ins Russische mit den Worten: »Wird die russische Revolution das Signal zu einer proletarischen Revolution im Westen, so daß beide einander ergänzen, so kann das jetzige russische Gemeineigentum am Boden zum Ausgangspunkt einer kommunistischen Entwicklung dienen.«[6] Diese Auffassung erklärt |534|* die leidenschaftliche Parteinahme, die Marx für die Partei des Volkswillens bekundete, deren terroristische Politik den Zaren zum Gefangenen der Revolution in Gatschina machte, während er mit einer gewissen Härte über die Partei der schwarzen Umteilung urteilte, die alle politisch-revolutionäre Aktion ablehnte und sich auf die Propaganda beschränkte. Gehörten doch gerade dieser Partei Männer wie Axelrod und Plechanow an, die so viel dazu beigetragen haben, die russische Arbeiterbewegung mit marxistischem Geiste zu erfüllen.
Endlich begann es auch in England zu tagen. Im Juni 1881 erschien ein kleines Buch: »England für Alle«; es war von Hyndman verfaßt und sollte das Programm der Demokratischen Föderation darstellen, einer Assoziation, die sich eben aus verschiedenen, englischen und schottischen radikalen Gesellschaften, halb Bourgeois, halb Proletariern, gebildet hatte. Die Kapitel über Arbeit und Kapital waren wörtliche Auszüge oder Umschreibungen aus dem »Kapital« von Marx, doch nannte Hyndman weder das Werk noch dessen Verfasser, sondern bemerkte nur am Schluß der Vorrede, für den Gedankeninhalt, wie für einen großen Teil des stofflichen Inhalts sei er dem Werke eines großen Denkers und selbständigen Schriftstellers verpflichtet. Diese sonderbare Art des Zitierens machte Hyndman noch kränkender durch die Entschuldigungen, durch die er sie vor Marx zu rechtfertigen suchte: dessen Name sei zu verrufen, die Engländer ließen sich ungern von Fremden belehren und was dessen mehr war. Marx brach darauf mit Hyndman, den er zudem für ein »schwaches Gefäß« hielt.
Große Genugtuung bereitete ihm dagegen noch in demselben Jahre ein Aufsatz über ihn, den Belfort Bax im Dezemberheft einer englischen Monatsschrift veröffentlichte. Zwar fand Marx, daß die biographischen Notizen darin meistens unrichtig und auch in der Darstellung seiner ökonomischen Prinzipien vieles falsch und konfus sei, aber es sei die erste englische Veröffentlichung dieser Art, die von einem wirklichen Enthusiasmus für die neuen Ideen selbst durchweht sei und sich kühn gegen britisches Philistertum aufrichte; trotz alledem habe das Erscheinen dieses Artikels, mit großen Lettern in Plakaten auf den Wänden von Westend London angekündigt, großes Aufsehen erregt.
Wenn Marx so an Sorge schrieb, so scheint der eiserne Mann, der für Lob und Tadel so unempfindlich war, einmal einen leichten Anfall von Selbstgefälligkeit gehabt zu haben, und nichts wäre verzeihlicher gewesen. Aber er schrieb nur aus einem tieferschütterten Gemüte, wie aus den Schlußsätzen des Briefes hervorging: »Das wichtigste dabei für mich |535| war, daß ich die betreffende Nummer schon am 30. November erhielt, so daß meiner teuren Gattin noch die letzten Tage ihres Lebens erhellt wurden. Du weißt ja, welch leidenschaftliches Interesse sie an allen solchen Sachen nahm.« Frau Marx war am 2. Dezember 1881 gestorben.
Während sich der politisch-soziale Horizont - und das war für Marx freilich immer die Hauptsache - ringsum erhellte, senkten sich die Abendschatten tiefer und tiefer auf ihn und sein Haus. Seitdem ihm das Festland mit seinen heilkräftigen Bädern gesperrt war, hatten seine körperlichen Leiden wieder zugenommen und ihn mehr oder weniger arbeitsunfähig gemacht; seit 1878 hat er an der Vollendung seines Hauptwerks nicht mehr gearbeitet, und ungefähr zur selben Zeit oder doch wenig nachher begann die nagende Sorge um die Gesundheit seiner Frau,
Sie hatte die sorgenfreieren Tage des Alters mit dem glücklichen Gleichmut einer immer harmonisch gestimmten Seele genossen, so wie sie es selbst in einem Trostbriefe an Sorges schilderte, die zwei Kinder in blühendem Alter verloren hatten: »Ich weiß nur zu gut, wie schwer es wird, und wie lange es dauert, ehe man nach solchen Verlusten sein eigenes Gleichgewicht wiederfindet; da kommt dann das Leben mit seinen kleinen Freuden und seinen großen Sorgen, mit all seinen kleinen tagtäglichen Plackereien und kleinlichen Quälereien zu unserer Hilfe, und der größere Schmerz wird vom stündlichen kleinen Leid übertäubt und, ohne daß wirs merken, mildert sich das heftige Weh; nicht daß die Wunde jemals ausheilte, namentlich nicht im Mutterherzen, aber nach und nach erwacht wieder im Gemüt neue Empfänglichkeit und selbst neue Empfindlichkeit für neues Leid und neue Freude, und so lebt man weiter und weiter mit dem wunden und doch stets hoffenden Herzen, bis es zuletzt ganz stillesteht und ewiger Frieden da ist.« Wer hätte diesen leichten Tod durch das sanft lösende Walten der Natur eher verdient als diese Dulderin und Kämpferin, aber beschieden ist er ihr nicht gewesen: sie hatte Schweres und Schwerstes zu tragen, ehe sie den letzten Atemzug tat.
Im Herbst 1878 meldete Marx zuerst an Sorge, daß seine Frau »sehr unwohl« sei; ein Jahr später hieß es schon: »Meine Frau ist immer noch gefährlich krank, und ich selbst immer noch nicht auf dem |536| Strumpf.« Nach, wie es scheint, längerer Ungewißheit erwies sich die Krankheit von Frau Marx als ein Krebsleiden, das unter qualvollen Schmerzen ihren langsamen, aber unaufhaltsamen Tod herbeiführen mußte. Was Marx darunter litt, läßt sich nur an dem ermessen, was ihm diese Frau ein langes Leben hindurch gewesen war. Sie selbst blieb gefaßter als ihr Mann und ihre ganze Umgebung; mit unvergleichlichem Mute unterdrückte sie alle Schmerzen, um den Ihrigen immer ein heiteres Gesicht zu zeigen. Als das Übel schon weit vorgeschritten war, im Sommer 1881, hatte sie noch den Mut, eine Reise nach Paris zu unternehmen, um ihre verheirateten Töchter wiederzusehen; da doch keine Hilfe mehr möglich war, fügten sich die Ärzte dem Wagnis. In einem Briefe an Frau Longuet vom 22. Juli 1881 kündigte Marx den gemeinsamen Besuch an: »Antworte, bitte, sofort, denn Mama wird nicht wegfahren, bis Du ihr schreibst, was sie Dir aus London mitbringen soll. Du weißt, sie hat solche Aufträge wahnsinnig gern.« Der Ausflug verlief für die Kranke so günstig, wie unter den Umständen noch möglich war, dagegen wurde Marx nach der Rückkehr von einer heftigen Brustfellentzündung ergriffen, verbunden mit Bronchitis (Entzündung der Luftröhrenäste) und beginnender Lungenentzündung. Die Erkrankung war sehr gefährlich, aber sie wurde überwunden, dank der aufopfernden Pflege Eleanors und Lenchen Demuths. Es waren traurige Tage, über die Eleanor schreibt: »In der großen Vorderstube lag unser Mütterchen, in der kleinen Stube daneben lag Mohr. Und diese beiden, die so aneinander gewöhnt, so miteinander verwachsen waren, konnten nicht mehr in demselben Raume zusammen sein... Mohr überwand noch einmal die Krankheit. Nie werde ich den Morgen vergessen, an welchem er sich stark genug fühlte, in Mütterchens Stube zu gehen. Sie waren zusammen wieder jung - sie ein liebendes Mädchen und er ein liebender Jüngling, die zusammen ins Leben eintraten, und nicht ein von Krankheit zerrütteter alter Mann und eine sterbende alte Frau, die fürs Leben voneinander Abschied nahmen.«
Als Frau Marx am 2. Dezember 1881 starb, war Marx noch immer so schwach, daß ihm der Arzt verbot, die geliebte Frau auf ihrem letzten Gange zu geleiten. »Ich habe mich diesem Gebot gefügt«, schrieb Marx an Frau Longuet, »weil die teure Verstorbene noch einige Tage vor ihrem Tode den Wunsch aussprach, es möchte bei ihrem Begräbnis kein Zeremoniell stattfinden: wir legen keinen Wert auf die Außenseite. Es ist für mich ein großer Trost, daß ihre Kräfte so schnell abnahmen. Wie der Arzt vorhergesagt hatte, nahm die Krankheit den Charakter eines allgemeinen Absterbens an, als ob sie von Altersschwäche herrühre. |537| Sogar in den letzten Stunden - kein Kampf mit dem Tode, ein langsames Einschlafen, und selbst die Augen größer, schöner, strahlender als je.«
Am Grabe von Jenny Marx sprach Engels. Er rühmte sie als die treueste Kameradin ihres Gatten und schloß mit den Worten: »Ich habe nicht nötig, von ihren persönlichen Eigenschaften zu sprechen. Ihre Freunde kennen sie und werden sie nicht vergessen. Wenn es je eine Frau gegeben, die ihr größtes Glück darein gesetzt hat, andere glücklich zu machen, so war es diese Frau.«[7]
Marx hat seine Frau nur etwa fünf Vierteljahre überlebt. Aber dies Leben ist in der Tat nur ein »langsames Sterben« gewesen, und Engels hatte die richtige Empfindung, als er am Todestage von Frau Marx sagte: »Der Mohr ist auch gestorben.«
Da die beiden Freunde in dieser kurzen Spanne Zeit meist getrennt waren, so nahm ihr Briefwechsel noch einen letzten Aufschwung, und in ihm gleitet das letzte Lebensjahr von Marx in düsterer Erhabenheit vorüber, erschütternd durch die schmerzlichen Einzelheiten, in denen das unerbittliche Menschenlos auch diesen mächtigen Geist auflöste.
Was ihn noch ans Leben fesselte, war sein brennendes Verlangen, seine letzte Kraft der großen Sache zu widmen, der sein ganzes Leben gewidmet gewesen war. »Ich komme«, schrieb er am 15. Dezember 1881 an Sorge, »aus der letzten Krankheit doppelt verkrüppelt heraus, moralisch durch den Tod meiner Frau, physisch dadurch, daß eine Verdickung der Pleura und größere Reizbarkeit der Luftröhrenäste geblieben. Einige Zeit werde ich total verlieren müssen mit Gesundheitsherstellungsmanövern.« Diese Zeit hat bis an seinen Todestag gewährt, denn alle Versuche, seine Gesundheit wiederherzustellen, scheiterten.
Die Ärzte schickten ihn zunächst nach Ventnor auf der Insel Wight, und dann nach Algier. Hier traf er am 20. Februar 1882 ein, doch nach der kalten Reise mit einer neuen Brustfellentzündung. Noch bedenklicher war, daß Winter und Frühjahr in Algier so regnerisch und unfreundlich waren wie nie. Nicht bessere Erfahrungen machte Marx in Monte Carlo, wohin er am 2. Mai übersiedelte; auch hier traf er infolge der naßkalten Überfahrt mit einer Brustfellentzündung ein, auch hier fand er anhaltend schlechtes Wetter vor.
|538| Erst als er Anfang Juni seinen Aufenthalt in Argenteuil bei Longuets nahm, besserte sich sein Gesundheitszustand. Nicht wenig mochte dazu das Familienleben beitragen; dann aber gebrauchte Marx auch mit Erfolg die Schwefelquellen des benachbarten Enghien gegen seine eingewurzelte Bronchitis. Ein Aufenthalt von sechs Wochen, den er darauf mit seiner Tochter Laura in Vevey am Genfer See nahm, trug ebenfalls wesentlich dazu bei, ihn gesunder zu machen. Als er im September nach London zurückkehrte, sah er kräftig aus und erstieg oft mit Engels den Hügel von Hampstead, etwa 300 Fuß höher als seine Wohnung, ohne Beschwerde.
Marx gedachte jetzt seine Arbeiten wieder aufzunehmen, da die Ärzte ihm den Winteraufenthalt zwar nicht in London, aber doch an der englischen Südküste gestattet hatten. Als die Novembernebel drohten, ging er nach Ventnor, fand es hier jedoch, wie im Frühjahr in Algier und in Monte Carlo: Nebel und nasses Wetter, die ihm erneute Erkältungen zuzogen und ihn, statt stärkender Bewegung in freier Luft, zu schwächendem Stubenarrest zwangen. An wissenschaftliche Arbeiten war nicht zu denken, so reges Interesse Marx an allen wissenschaftlichen Entdeckungen bekundete, auch an solchen, die seinem engeren Arbeitsgebiete ferner lagen, so an den Experimenten von Deprez auf der Münchner Elektrizitäts-Ausstellung. Im allgemeinen machte sich in seinen Briefen eine gedrückte und mißmutige Stimmung geltend; als sich in der jungen Arbeiterpartei Frankreichs die unausbleiblichen Kinderkrankheiten meldeten, war er unzufrieden mit der Vertretung seiner Gedanken durch seine Schwiegersöhne: »Longuet als letzter Proudhonist und Lafargue als letzter Bakuninenist! que le diable les importe [Mehring übersetzt: Hole sie der Teufel]!« Damals ist ihm auch das geflügelte Wort entfahren, das seitdem die Philisterwelt so seltsam erleuchtet hat, daß er für seine Person jedenfalls kein Marxist sei.
Dann kam am 11. Januar 1883 der entscheidende Schlag: der plötzliche Tod seiner Tochter Jenny. Schon am nächsten Tage kehrte Marx nach London zurück, mit einer entschiedenen Bronchitis, zu der sich bald eine Kehlkopfentzündung gesellte, die ihm das Schlucken fast unmöglich machte. »Er, der die größten Schmerzen mit dem stoischsten Gleichmut zu ertragen wußte, trank lieber einen Liter Milch (die ihm sein Lebtag ein Greuel gewesen), als daß er die entsprechende feste Nahrung verzehrte.«[8] Im Februar entwickelte sich ein Geschwür in der Lunge. Die Arzneien versagten jede Wirkung auf den seit fünfzehn Monaten mit Medizin überfüllten Körper; sie schwächten höchstens den Appetit und störten die Verdauungstätigkeit. Fast von Tag zu Tag magerte der |539| Kranke sichtbar ab. Doch gaben die Ärzte noch nicht die Hoffnung auf, da die Bronchitis fast gehoben war und das Schlucken leichter wurde. So trat das Ende dennoch unerwartet ein. Am 14. März um die Mittagsstunde ist Karl Marx sanft und schmerzlos in seinem Lehnstuhl entschlafen.
In allem Schmerz um den unersetzlichen Verlust fand Engels doch, daß er seinen Trost in sich selbst trage. »Die Doktorenkunst hätte ihm vielleicht noch auf einige Jahre eine vegetierende Existenz sichern können, das Leben eines hilflosen, von den Ärzten zum Triumph ihrer Künste nicht plötzlich, sondern zollweise absterbenden Wesens. Das aber hätte unser Marx nie ausgehalten. Zu leben mit den vielen unvollendeten Arbeiten vor sich, mit dem Tantalusgelüst, sie zu vollenden, und der Unmöglichkeit, es zu tun - das wäre ihm tausendmal bitterer gewesen als der sanfte Tod, der ihn ereilt. Der Tod ist kein Unglück für den, der stirbt, sondern für den, der überlebt, pflegte er mit Epikur zu sagen. Und diesen gewaltigen, genialen Mann als Ruine fortvegetieren zu sehen, zum größeren Ruhme der Medizin und zum Spotte für die Philister, die er in seiner Vollkraft so oft zusammengeschmettert - nein, tausendmal besser wie es ist, tausendmal besser wir tragen ihn ... in das Grab, wo seine Frau schläft.«
Am 17. März, einem Sonnabend, wurde Karl Marx im Grabe seiner Frau beigesetzt. Mit gutem Takte hatte die Familie »alles Zeremoniell« abgelehnt, das dies Leben mit einem schrillen Mißklang beschlossen haben würde. Nur wenige Getreue standen um die offene Gruft: Engels nebst Leßner und Lochner, den alten Gefährten noch vom Kommunistenbunde her; aus Frankreich waren Lafargue und Longuet, aus Deutschland Liebknecht gekommen; die Wissenschaft war durch zwei Männer ersten Ranges vertreten, den Chemiker Schorlemmer und den Zoologen Ray Lankester.
So aber lautete der letzte Gruß, den Engels in englischer Sprache dem toten Freunde widmete, so aufrichtig und wahrhaftig in schlichten Worten zusammenfassend, was Karl Marx der Menschheit gewesen ist und bleiben wird, daß ihm auch an dieser Stelle das abschließende Wort gebührt:
»Am 14. März, nachmittags ein Viertel vor drei, hat der größte lebende Denker aufgehört zu denken. Kaum zwei Minuten allein gelassen, fanden wir ihn beim Eintreten in seinem Sessel ruhig entschlummert - aber für immer.
Was das streitbare europäische und amerikanische Proletariat, was die historische Wissenschaft an diesem Mann verloren haben, das ist |540| gar nicht zu ermessen. Bald genug wird sich die Lücke fühlbar machen die der Tod dieses Gewaltigen gerissen hat.
Wie Darwin das Gesetz der Entwicklung der organischen Natur, so entdeckte Marx das Entwicklungsgesetz der menschlichen Geschichte: die bisher unter ideologischen Überwucherungen verdeckte einfache Tatsache, daß die Menschen vor allen Dingen zuerst essen, trinken, wohnen und sich kleiden müssen, ehe sie Politik, Wissenschaft, Kunst, Religion usw. treiben können; daß also die Produktion der unmittelbaren materiellen Lebensmittel und damit die jedesmalige ökonomische Entwicklungsstufe eines Volkes oder eines Zeitabschnitts die Grundlage bildet, aus der sich die Staatseinrichtungen, die Rechtsanschauungen, die Kunst und selbst die religiösen Vorstellungen der betreffenden Menschen entwickelt haben und aus der sie daher auch erklärt werden müssen - nicht wie bisher geschehen, umgekehrt.
Damit nicht genug. Marx entdeckte auch das spezielle Bewegungsgesetz der heutigen kapitalistischen Produktionsweise und der von ihr erzeugten bürgerlichen Gesellschaft. Mit der Entdeckung des Mehrwerts war hier plötzlich Licht geschaffen, während alle früheren Untersuchungen sowohl der bürgerlichen Ökonomen wie der sozialistischen Kritiker im Dunkel sich verirrt hatten.
Zwei solche Entdeckungen sollten für ein Leben genügen. Glücklich schon der, dem es vergönnt ist, nur eine solche zu machen. Aber auf jedem einzelnen Gebiet, das Marx der Untersuchung unterwarf, und dieser Gebiete waren sehr viele und keines hat er bloß flüchtig berührt - auf jedem, selbst auf dem der Mathematik, hat er selbständige Entdeckungen gemacht.
So war der Mann der Wissenschaft. Aber das war noch lange nicht der halbe Mann. Die Wissenschaft war für Marx eine geschichtlich bewegende, eine revolutionäre Kraft. So reine Freude er haben konnte an einer neuen Entdeckung in irgendeiner theoretischen Wissenschaft, deren praktische Anwendung vielleicht noch gar nicht abzusehen - eine ganz andere Freude empfand er, wenn es sich um eine Entdeckung handelte, die sofort revolutionär eingriff in die Industrie, in die geschichtliche Entwicklung überhaupt. So hat er die Entwicklung der Entdeckungen auf dem Gebiet der Elektrizität und zuletzt noch die von Marc[el] Deprez genau verfolgt.
Denn Marx war vor allem Revolutionär. Mitzuwirken, in dieser oder jener Weise, am Sturz der kapitalistischen Gesellschaft und der durch sie geschaffenen Staatseinrichtungen, mitzuwirken an der Befreiung des modernen Proletariats, dem er zuerst das Bewußtsein seiner eigenen |541| Lage und seiner Bedürfnisse, das Bewußtsein der Bedingungen seiner Emanzipation gegeben hatte - das war sein wirklicher Lebensberuf. Der Kampf war sein Element. Und er hat gekämpft mit einer Leidenschaft, einer Zähigkeit, einem Erfolg wie wenige. Erste Rheinische Zeitung 1842, Pariser Vorwärts! 1844, Brüsseler-Deutsche-Zeitung 1847, Neue Rheinische Zeitung 1848/49, New-York Daily Tribune 1852 bis 1861 - dazu Kampfbroschüren die Menge, Arbeit in Vereinen in Paris, Brüssel und London, bis endlich die große Internationale Arbeiterassoziation als Krönung des Ganzen entstand - wahrlich, das war wieder ein Resultat, worauf sein Urheber stolz sein konnte, hätte er sonst auch nichts geleistet.
Und deswegen war Marx der bestgehaßte und bestverleumdete Mann seiner Zeit. Regierungen, absolute wie republikanische, wiesen ihn aus, Bourgeois, konservative wie extrem-demokratische, logen ihm um die Wette Verlästerungen nach. Er schob das alles beiseite wie Spinnweb, achtete dessen nicht, antwortete nur, wenn äußerster Zwang da war. Und er ist gestorben, verehrt, geliebt, betrauert von Millionen revolutionärer Mitarbeiter, die von den sibirischen Bergwerken an über ganz Europa und Amerika bis Kalifornien hin wohnen, und ich kann es kühn sagen: Er mochte noch manchen Gegner haben, aber kaum noch einen persönlichen Feind.
Sein Name wird durch die Jahrhunderte fortleben und so auch sein Werk!«[9]
[1] Friedrich Engels: Marx, Heinrich Karl, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 22, S. 342. <=
[2] Friedrich Engels: Deutscher Sozialismus in Versen und Prosa, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 4, S. 232. <=
[3] Karl Marx: Brief an Wilhelm Bracke, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 19, S. 13/14. <=
[4] Friedrich Engels: Brief an Bebel, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 19, S. 3-9. <=
[5] Karl Marx/Friedrich Engels: Zirkularbrief an Bebel, Liebknecht, Bracke u.a., in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 19, S. 165. <=
[6] Karl Marx/Friedrich Engels: [Vorrede zur zweiten russischen Ausgabe des »Manifests der Kommunistischen Partei«], in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 19, S. 296. <=
[7] Friedrich Engels: Rede am Grabe von Jenny Marx, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 19, S. 294. <=
[8] Friedrich Engels: Zum Tode von Karl Marx, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 19, S. 342. <=
[9] Friedrich Engels: Das Begräbnis von Karl Marx, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 19, S. 335-335. <=
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