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Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 4, S. 207 - 247
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1972

[Friedrich Engels]

Deutscher Sozialismus in Versen und Prosa

Geschrieben Ende 1846 bis Anfang 1847.

["Deutsche-Brüsseler-Zeitung" Nr. 73 vom 12. September 1847]

1

Karl Beck: "'Lieder Vom armen Mann'
oder die Poesie des wahren Sozialismus"

<207> Die "Lieder vom armen Mann" beginnen mit einem Liede an ein reiches Haus.

An das Haus Rothschild

Um Mißverständnissen vorzubeugen, redet der Dichter Gott mit "HERR" und das Haus Rothschild mit Herr an.

Gleich in der Ouvertüre konstatiert er seine kleinbürgerliche Illusion, daß das Gold nach Rothschilds "Launen herrscht"; eine Illusion, die eine ganze Reihe von Einbildungen über die Macht des Hauses Rothschild nach sich zieht.

Nicht die Vernichtung der wirklichen Macht Rothschilds, der gesellschaftlichen Zustände, worauf sie beruht, droht der Dichter; er wünscht nur ihre menschenfreundliche Anwendung. Er jammert, daß die Bankiers keine sozialistischen Philanthropen sind, keine Schwärmer, keine Menschheitsbeglücker, sondern eben Bankiers. Bock besingt die feige kleinbürgerliche Misère, den "armen Mann", den pauvre honteux <verschämten Armen> mit seinen armen, frommen und inkonsequenten Wünschen, den "kleinen Mann" in allen seinen Formen, nicht den stolzen, drohenden und revolutionären Proletarier. Die Drohungen und Vorwürfe, womit Beck das Haus Rothschild überschüttet, wirken allem guten Willen zum Trotz noch burlesker auf den Leser als eine Kapuzinerpredigt. Sie beruhen auf der kindlichsten Illusion über die Macht <208> der Rothschilde, auf einer gänzlichen Unkenntnis des Zusammenhangs dieser Macht mit den bestehenden Zuständen, auf einer vollkommenen Täuschung über die Mittel, welche die Rothschilde anwenden mußten, um eine Macht zu werden und um eine Macht zu bleiben. Der Kleinmut und der Unverstand, die weibliche Sentimentalität, die jämmerliche, prosaisch-nüchterne Kleinbürgerlichkeit, welche die Musen dieser Leier sind, tun sich vergebens Gewalt an, um fürchterlich zu werden. Sie werden nur lächerlich. Ihr forcierter Baß schlägt beständig in ein komisches Falsett um, ihre dramatische Darstellung des gigantischen Ringens eines Enceladus bringt es nur zu den possierlichen Gliederverrenkungen eines Hampelmanns.

Nach deinen Launen herrscht das Gold
.....................................................................
O wär' dein Werk so schön! O wäre
Dein Herz so groß wie deine Macht! p. 4.

Es ist schade, daß Rothschild die Macht und unser Dichter das Herz hat. "Wären sie beide vereint, wär's für die Erde zuviel." (Herr Ludwig von Baierland .)

Die erste Gestalt, die Rothschild gegenübergestellt wird, ist natürlich der Sänger selbst, und zwar der deutsche Sänger, der in "hohen, heiligen Mansarden" wohnt.

Es tönt von Recht und Licht und Freiheit,
Vom echten GOTT in seiner Dreiheit,
Die liedergesegnete Laute der Barden:
Da folgt das horchende Menschenkind
Den Geistern. p. 5.

Dieser dem Motto der "Leipziger Allgemeinen Zeitung" entlehnte "GOTT", der auf den Juden Rothschild, schon weil er dreieinig ist, keinen Effekt macht, übt dagegen auf die deutsche Jugend ganz magische Wirkungen aus.

Es mahnt die wiedergenesene Jugend
...................................................................
Und der Begeisterung zeugender Samen
Geht auf in hundert herrlichen Namen. p. 6.

Rothschild urteilt anders über die deutschen Poeten:

Das Lied, was uns die Geister geboten,
Du nennst es Hunger nach Ruhm und Broten. [p. 6.]

Trotzdem, daß die Jugend mahnt und ihre hundert herrlichen Namen aufgehen, deren Herrlichkeit eben darin besteht, daß sie bei der bloßen Begei- <209> sterung stehenbleiben, trotzdem, daß "mutig zum Kampf die Hörner blasen", daß "das Herz so laut in der Nacht pocht".

Das törichte Herz, es fühlt die Bedrängnis
Von einer göttlichen Empfängnis. p. 7.

Dies törichte Herz, diese Jungfrau Maria! - trotzdem,

daß Die Jugend, ein finstrer Saul (von Karl Beck,
Leipzig bei Engelmann 1840),
Mit GOTT und mit sich selber grollt [p. 8],

trotz alledem und alledem hält Rothschild den bewaffneten Frieden aufrecht, der nach Becks Glauben von ihm allein abhängt.

Die Zeitungsnachricht, daß der heilige Kirchenstaat Rothschild den Erlöserorden geschickt hat, bietet unserem Dichter Gelegenheit nachzuweisen, daß Rothschild kein Erlöser ist, wie sie ebensogut zu dem gleich interessanten Beweis Anlaß geben konnte, daß Christus zwar ein Erlöser, aber dennoch kein Ritter des Erlöserordens war.

Du ein Erlöser? p. 11.

Und er beweist ihm nun, daß er nicht in bitterer Nacht, wie Christus, rang, daß er nie hingeopfert habe die stolze, die irdische Macht

Für eine milde, beglückende Sendung,
Vom großen GEIST dir anvertraut. p. 11.

Man muß dem großen GEIST nachsagen, daß er nicht viel Geist in der Auswahl seiner Missionäre beweist und sich wegen milden Stiftungen an den unrechten Mann adressiert. Das einzig Große an ihm sind die Buchstaben.

Das wenige Talent Rothschilds zum Erlöser wird ihm nun an drei Fällen ausführlich nachgewiesen: an seinem Benehmen gegenüber der Julirevolution, den Polen und den Juden.

Auf stand das mutige Frankenkind, p. 12,

mit einem Wort, die Julirevolution brach aus.

Warst du bereit? Erklang dein Gold
Wie Lerchengezwitscher jubelnd und hold
Zum Lenz, der in der Welt sich rührte?
Der, was an sehnlichen Wünschen tief
In unsrer Brust verschüttet schlief,
Verjüngt zurück ins Leben führte? p. 12.

<210> Der Lenz, der sich rührte, war der Lenz der Bourgeois, dem allerdings das Gold, Rothschilds Gold so gut wie jedes andere, wie Lerchengezwitscher jubelnd und hold erklingt. Allerdings, die Wünsche, die während der Restauration nicht nur in der Brust, sondern auch in den Carbonari-Venten verschüttet schliefen, wurden damals verjüngt ins Leben geführt, und Becks armer Mann hatte das Nachsehen. Sobald übrigens Rothschild von den soliden Basen der neuen Regierung sich überzeugt hatte, ließ er unbedenklich seine Lerchen zwitschern - gegen übliche Zinsen - versteht sich.

Becks gänzliche Befangenheit in den kleinbürgerlichen Illusionen beweist die Apotheose Laffittes gegenüber Rothschild:

Dicht rankt sich an deine beneideten Hallen
Ein heiliggesprochenes Bürgerhaus, p. 13,

nämlich das Laffittes. Der begeisterte Kleinbürger ist stolz auf die Bürgerlichkeit seines Hauses gegenüber den beneideten Hallen des Hotel Rothschild. Sein Ideal, der Laffitte seiner Einbildung, muß natürlich auch recht einfach bürgerlich wohnen; das Hotel Laffitte schrumpft zusammen zu einem deutschen Bürgerhaus. Laffitte selbst wird geschildert als ein segnend Waltender, Herzensreiner, wird verglichen mit Mucius Scävola, soll sein Vermögen geopfert haben, um den Menschen und das Jahrhundert (denkt Beck vielleicht an den Pariser "Siècle"?) auf den Strumpf zu bringen. Ein schwärmender Knabe wird er genannt, schließlich ein Bettler. Sein Begräbnis wird rührend geschildert:

Es ging im Leichenzuge mit
Gedämpften Schritts die Marseillaise. p. 14.

Neben der Marseillaise marschierten die Wagen der königlichen Familie und dicht hinter ihnen Herr Sauzet, Herr Duchâtel und sämtliche ventrus und loups-cerviers <Bäuche und habgierige Wucherer> der Deputiertenkammer.

Wie aber muß die Marseillaise erst ihren Schritt gedämpft haben, als Laffitte nach der Julirevolution seinen Kompère <vom Französischen "compère", doppelsinnig: einerseits Gevatter, andererseits Komplice>, den Herzog von Orleans, im Triumph auf das Hotel de Ville <Pariser Rathaus> führte und das frappante Wort aussprach, daß von nun an die Bankiers herrschen würden?

Bei den Polen beschränken sich die Vorwürfe ganz darauf, daß Rothschild nicht wohltätig genug gegen die Emigration gewesen sei. Hier wird der Angriff auf Rothschild zu einer ganz kleinstädtischen Anekdote und verliert allen Schein eines Angriffs auf die in Rothschild repräsentierte Geldmacht <211> überhaupt. Die Bourgeois haben bekanntlich überall, wo sie herrschen, die Polen sehr liebreich und sogar enthusiastisch empfangen.

Ein Beispiel des Katzenjammers: Ein Pole tritt auf, bettelt und betet. Rothschild gibt ihm einen Silberling, der Pole

Nimmt freudezitternd das Silberstück
Und segnet dich und deinen Samen [p. 16],

eine Lage, wovor das Polen-Comité in Paris die Polen bisher im ganzen sichergestellt hat. Der ganze Auftritt mit den Polen dient unserm Poeten nur dazu, sich selbst in Positur zu werfen:

Ich aber schleudre des Bettlers Glück
Verächtlich in deinen Beutel zurück.
In der beleidigten Menschheit Namen! p. 16.

zu welchem Treffer in den Beutel große Übung und Geschicklichkeit im Werfen gehört. Schließlich stellt sich Beck von einer Klage wegen Realinjurie sicher, indem er nicht im eigenen Namen, sondern in dem der Menschheit funktioniert.

Schon p. 9 wurde Rothschild aufgemutzt, daß er den Bürgerbrief aus Österreichs fetter Kaiserstadt angenommen hat,

Wo dein gehetzter Glaubensgenosse
Sein Licht und seine Luft bezahlt.

Ja, Beck glaubt, daß Rothschild mit diesem Wiener Bürgerbrief der Freien Glück erworben hat.

Jetzt wird p. 19 die Frage an ihn gestellt:

Hast du den eignen Stamm befreit,
Der ewig hofft und ewig duldet?

Rothschild hätte also der Erlöser der Juden werden sollen. Und wie sollte Rothschild dies anfangen? Die Juden hatten ihn zum König gewählt, weil er das schwerste Gold besaß. Er hätte sie lehren sollen, wie man das Gold verachtet, "wie man fürs Wohl der Welt entbehrt". p. 21.

Er hätte die Eigenliebe, die List und den Wucher aus ihrem Gedächtnis streichen, mit einem Wort, er hätte als Moral- und Bußprediger im Sack und in der Asche auftreten sollen. Die brave Forderung unseres Poeten ist dieselbe, als wenn er von Louis-Philippe verlangte, er solle den Bourgeois der Julirevolution lehren, das Eigentum abzuschaffen. Wenn beide so verrückt wären, so würden sie alsbald ihre Macht verlieren, aber weder die Juden den <212> Schacher, noch die Bourgeois das Eigentum sich aus dem Gedächtnis streichen.

p. 24 wird dem Rothschild vorgeworfen, daß er des Bürgers Mark aussaugt, als wäre es nicht wünschenswert, daß dem Bürger das Mark ausgesogen wird.

p. 25 soll er die Fürsten verführt haben. Sollen sie nicht verführt werden?

Wir haben schon Beweise genug gehabt von der märchenhaften Macht, die Beck dem Rothschild andichtet. Aber es geht immer crescendo <ansteigend>. Nachdem er sich p. 26 in Phantasien ergangen hat, was er (Beck) nicht alles tun würde, wenn er Propriétaire <Eigentümer> der Sonne wäre, nämlich noch nicht den hundertsten Teil von dem, was die Sonne ohne ihn tut - fällt ihm plötzlich ein, daß Rothschild nicht allein der Sünder ist, sondern neben ihm auch noch andere Reiche existieren. Allein:

Du saßest beredt im Lehrerstuhle,
Es lernten die Reichen in deiner Schule;
Du mußtest sie führen ins Leben hinein,
Du konntest ihr Gewissen sein.
Sie sind verwildert - du hast es geduldet,
Sie sind verworfen - du hast es verschuldet. p. 27.

Also die Entwickelung des Handels und der Industrie, die Konkurrenz, die Konzentration des Eigentums, die Staatsschulden und Agiotage <das Börsenspiel>, kurz die ganze Entwickelung der modernen bürgerlichen Gesellschaft hätte Herr von Rothschild verhindern können, wenn er nur etwas gewissenhafter gewesen wäre. Es gehört wirklich toute la désolante naiveté de la poésie allemande <die ganze trostlose Naivität der deutschen Dichtkunst> dazu, um zu wagen, solche Ammenmärchen drucken zu lassen. Rothschild wird förmlich in Aladdin verwandelt.

Noch nicht zufrieden, verleiht Beck dem Rothschild

Der Sendung schwindelnde Größe,
.............................................................
zu lindern der Welt gesamte Leiden [p. 28],

eine Sendung, welche alle Kapitalisten der ganzen Welt zusammen nicht im entferntesten zu erfüllen vermögen. Sieht unser Dichter denn nicht, daß er um so lächerlicher wird, je erhabener und gewaltiger er werden will? daß alle seine Vorwürfe gegen Rothschild in die hündischsten Schmeicheleien umschlagen? daß er die Macht Rothschilds auf eine Weise feiert, wie sie der <213> durchtriebenste Panegyriker nicht feiern könnte? Rothschild muß sich selbst Beifall zuklatschen, wenn er sieht, als welche gigantische Schreckgestalt seine kleine Persönlichkeit im Hirn eines deutschen Poeten sich widerspiegelt.

Nachdem unser Poet sich bisher die romanhaften und unwissenden Phantasien eines deutschen Kleinbürgers über die Macht eines großen Kapitalisten, wenn er nur guten Willen hätte, versifiziert hat, nachdem er die Phantasie dieser Macht aufs Höchste geschwindelt hat in seiner Sendung schwindelnder Größe, spricht er die moralische Entrüstung des Kleinbürgers über den Abstand zwischen Ideal und Wirklichkeit in einem pathetischen Paroxysmus aus, der sogar die Lachmuskeln eines pennsylvanischen Quäkers in krampfhafte Aktion setzen würde:

Weh mir, wenn ich in langer Nacht (21. Dezember)
Mit heißer Stirn es durchgedacht
..........................................................
Dann hob sich bäumend meine Locke,
Mir war's, als riß ich an GOTTES Herzen,
Ein Glöckner an der Feuerglocke p. 28,

was dem alten Mann gewiß der letzte Nagel an seinem Sarge war. Er glaubt, die "Geister der Geschichte" hätten ihm da Gedanken anvertraut, die er noch leise noch laut sagen dürfe. Ja, er kommt zu dem verzweifelten Entschluß, in seinem Grabe noch den Cancan zu tanzen:

Doch einst im modernden Leichentuch
Wird wonnig schaudern mein Gerippe,
Wenn nieder zu mir (dem Gerippe) die Kunde taucht,
Daß auf den Altären das Opfer raucht. p. 29.

Der Knabe Karl fängt an, mir fürchterlich zu werden

Der Gesang über das Haus Rothschild wäre geschlossen. Folgt nun, wie gewöhnlich bei den modernen Lyrikern, eine gereimte Reflektion über diesen Gesang und die Rolle, die der Dichter in ihm gespielt hat.

Ich weiß, es kann
Dein mächtiger Arm mich blutig schlagen p. 30,

d.h. ihm fünfzig aufzählen lassen. Der Österreicher vergißt den Haselstock nie. Dieser Gefahr gegenüber stärkt ihn das Hochgefühl:

Wie's GOTT befahl und sonder Zagen,
So sang ich offen, was ich sann. [p. 30.]

<214> Der deutsche Poet singt immer auf Befehl. Natürlich, der Herr ist verantwortlich, nicht der Knecht, und so hat Rothschild es mit GOTT zu tun, nicht mit Beck, seinem Knecht. Es ist überhaupt die Methode der modernen Lyriker:

1. mit der Gefahr zu renommieren, der sie sich in ihren harmlosen Gesängen auszusetzen glauben;

2. Prügel zu bekommen und sich dann Gott zu befehlen.

Das Lied "An das Haus Rothschild" schließt mit einigen Hochgefühlen über eben dasselbe Lied, dem hier verleumderisch nachgesagt wird:

Frei ist's und stolz, es darf dich meistern,
Dir sagen, worauf es gläubig schwört p. 32,

nämlich auf seine eigene, in diesem Schluß nachgewiesene Vortrefflichkeit. Wir fürchten, daß Rothschild den Beck nicht wegen des Liedes, sondern wegen dieses Meineides den Gerichten denunzieren wird.

["Deutsche-Brüsseler-Zeitung" Nr. 74 vom 16. September 1847]

O, streutet Ihr den goldenen Segen!

Die Reichen werden aufgefordert, dem Dürftigen eine Unterstützung angedeihen zu lassen,

Bis dir der Fleiß ein sicheres Habe
Für Weib und Kind gewann. [p. 35.]

Und alles dies geschehe:

Daß du gut verbleiben könnest,
Ein Bürger und ein Mann, [p .35]

also summa summarum ein guter Bürgersmann. Beck ist hiermit auf sein Ideal reduziert.

Knecht und Magd

Der Poet besingt zwei gottgefällige Seelen, die, wie höchst langweilig beschrieben wird, erst nach vieljährigem Knickern und moralischem Lebenswandel dazu kommen, ein keusches Ehebett zu besteigen.

Sich küssen? sie täten es schämig! Sich necken? sie täten es leise!
Ach, Blumen waren es wohl, doch waren es Blumen im Eise;
<215> Ein Tanz auf Krücken, O Gott! ein armer verspäteter Falter,
Der halb ein blühendes Kind und halb ein verwelkender Alter. [p. 50.]

Statt mit dieser einzigen guten Strophe im ganzen Gedicht zu schließen, läßt er sie hinterher noch jauchzen und beben, und zwar aus Freude am kleinen Eigentum, daß "am eigenen Herd die eigenen Pfühle sich heben", eine Phrase, die nicht ironisch, sondern mit ernsten Wehmutstränen ausgesprochen wird. Aber auch damit noch nicht:

Nur Gott ist ihr Herr, der die Sterne beruft, zu leuchten, wenn's nachtet,
Den Knecht, der die Kette zerbricht, mit seligem Auge betrachtet. [p. 50.]

Somit wäre denn alle Pointe glücklich abgebrochen. Der Kleinmut und die Unsicherheit Becks verraten sich immer darin, daß er jedes Gedicht möglichst lang ausspinnt und nie enden kann, bis er durch eine Sentimentalität seine Kleinbürgerei dokumentiert hat. Die Kleistschen Hexameter scheinen absichtlich gewählt zu sein, um den Leser dieselbe Langeweile ertragen zu lassen, die die beiden Liebenden während ihrer langen Prüfungszeit sich durch ihre feige Moralität zuziehen.

Der Trödeljude

In der Beschreibung des Trödeljuden finden sich einige naive, nette Sachen, z.B.:

Die Woche flieht, die Woche bietet
Nur fünf der Tage deinem Fleiß.
O, spute dich, du Atemloser,
Wirb, wirb um deinen Tagelohn.
Am Samstag will es nicht der Vater,
Am Sonntag will es nicht der Sohn. [p. 55]

Später aber verfällt Beck ganz in den liberal-jugdeutschen Judensabbel. Die Poesie hört so sehr auf, daß man glauben könnte, eine skrofulöse Rede der skrofulösen sächsischen Stände-Kammer zu hören: Du kannst nicht Handwerker werden, nicht "Krämermeister", nicht Ackerbauer, nicht Professor, aber die medizinische Karriere steht dir frei. Dies wird poetisch so ausgedrückt:

Sie gönnen dir kein Handgewerke,
Sie gönnen dir kein Ackerfeld.
Du darfst ja nicht zur Jugend sprechen
Von eines Lehrers hohem Pfühl;
........................................................
Du darfst im Land die Kranken heilen. [p. 57.]

<216> Könnte man in dieser Weise nicht die preußische Gesetzsammlung in Verse setzen und Herrn Ludewigs von Baierland Verse in Musik?

Nachdem der Jude seinem Sohn vordeklamiert:

Du mußt ja schaffen, mußt erraffen
In steter Gier nach Gut und Geld, [p. 57]

tröstet er ihn:

Doch ehrlich bleibst du fort und fort. [p. 58.]

Lorelei

Diese Lorelei ist niemand anders als das Gold.

Da trat in des Gemütes Reinheit
Mit breiten Wogen die Gemeinheit,
Und jedes Heil ertrank. [p. 64.]

In dieser Gemütssündflut und dem Ertrinken des Heils liegt eine höchst niederschlagende Mischung von Plattheit und Bombast. Folgen triviale Tiraden über die Verwerflichkeit und Immoralität des Geldes.

Sie (die Minne) späht nach Talern, nach Juwelen,
Nach Herzen nicht und gleichen Seelen,
Und eines Hüttleins Raum. [p. 67.]

Hätte das Geld nicht mehr getan, als das deutsche Spähen nach Herzen und gleichen Seelen und der Schillerschen kleinsten Hütte, in der für ein glücklich liebend Paar Raum ist, um den Kredit zu bringen, so wären seine revolutionären Wirkungen schon anzuerkennen.

Trommellied

In diesem Gedicht zeigt unser sozialistischer Poet wieder, wie er durch seine Befangenheit in der deutschen Kleinbürgermisère fortwährend gezwungen wird, den wenigen Effekt zu verderben, den er hervorbringt.

Es zieht ein Regiment mit klingendem Spiele aus. Das Volk fordert die Soldaten auf, mit ihm gemeinschaftliche Sache zu machen. Man freut sich, daß der Dichter endlich Mut faßt. Aber, o weh, schließlich erfährt man, daß es sich bloß um Kaisers Namenstag handelt und die Anrede des Volks nur die träumerische, verheimlichte Improvisation eines Jünglings bei der Parade ist. Wahrscheinlich eines Gymnasiasten:

So träumt ein Jüngling, dem's Herze brennt. [p. 76.]

<217> Während derselbe Stoff mit derselben Pointe, von Heine behandelt, die bitterste Satire auf das deutsche Volk enthalten würde, kommt bei Beck nur eine Satire auf den Dichter selbst heraus, der sich selbst mit dem ohnmächtig schwärmenden Jüngling identifiziert. Bei Heine werden die Schwärmereien des Bürgers absichtlich in die Höhe geschraubt, um sie nachher ebenso absichtlich in die Wirklichkeit herabfallen zu lassen, bei Beck ist es der Dichter selbst, der sich diesen Phantasien assoziiert und natürlich auch den Schaden mit trägt, wenn er in die Wirklichkeit herunterstürzt. Bei dem einen fühlt sich der Bürger empört über die Keckheit des Dichters, bei dem andern beruhigt durch seine Seelenverwandtschaft mit ihm. Die Prager Insurrektion bot ihm übrigens Gelegenheit, ganz andere Dinge als diese Farce zu reproduzieren.

Der Auswanderer

Ich brach den Zweig vom Stamme,
Der Förster gab Rapport,
Da band der Herr mich stramme
Und schlug mir diese Schramme. [p. 86.]

Fehlt nur noch, daß auch der Rapport in ähnlichen Versen vorgetragen wird.

Der Stelzfuß

Hier sucht der Dichter zu erzählen und scheitert auf eine wirklich jämmerliche Weise. Diese vollendete Ohnmacht zu erzählen und darzustellen, die sich in dem ganzen Buch zeigt, ist charakteristisch für die Poesie des wahren Sozialismus. Der wahre Sozialismus bietet in seiner Unbestimmtheit keine Gelegenheit, einzelne zu erzählende Fakta an allgemeine Verhältnisse anzuknüpfen und ihnen dadurch die frappante, bedeutende Seite abzugewinnen. Die wahren Sozialisten hüten sich deshalb auch in ihrer Prosa sehr vor der Geschichte. Wo sie ihr nicht entgehen können, begnügen sie sich damit, entweder philosophisch zu konstruieren oder einzelne Unglücksfälle und soziale Casus in ein trockenes und langweiliges Register einzutragen. Auch geht ihnen allen in Prosa und Poesie das zum Erzählen nötige Talent ab, was mit der Unbestimmtheit ihrer ganzen Anschauungsweise zusammenhängt.

Die Kartoffel

Melodie: "Morgenrot, Morgenrot!"

<218> Heilig Brot!
Daß du kamst für unsre Not.
Daß du kamst um Himmels Willen
In die Welt, das Volk zu stillen -
Fahre wohl, du bist nun tot! [p. 105.]

In der zweiten Strophe heißt er die Kartoffel:

... den kleinen Rest,
Der aus Eden uns geblieben,

und charakterisiert die Kartoffelkrankheit:

Unter Engeln tobt die Pest!

 In der dritten Strophe rät Beck dem armen Mann, Trauer anzulegen:

Armer Mann!
Gehe hin, leg Trauer an.
Völlig bist du nun gerichtet,
Ach, dein Letztes ist vernichtet.
Weine, wer noch weinen kann!

Tot im Sand
Liegt dein Gott, du trauernd Land.
Laß jedoch den Trost dir sagen:
Kein Erlöser ward erschlagen,
Der nicht wieder auferstand! [p. 106.]

Weine, wer da weinen kann, mit dem Dichter! Wäre er nicht so arm an Energie, wie sein armer Mann an gesunden Kartoffeln, so würde er sich über den Stoff gefreut haben, den die Kartoffel, dieser Bourgeoisgott, einer der Pivots <Drehpunkte> der bestehenden bürgerlichen Gesellschaft, vorigen Herbst erhielt. Die Grundbesitzer und Bürgersleute Deutschlands hätten dies Gedicht ohne Schaden in den Kirchen absingen lassen können.

Beck verdient für diesen Effort einen Kranz von Kartoffelblüten.

Die alte Jungfer

Wir gehen auf dies Gedicht nicht näher ein, da es gar kein Ende nimmt und sich in unsäglich langweiliger Breite über volle neunzig Seiten ausdehnt.

<219> Die alte Jungfer, die in zivilisierten Ländern meist nur nominell vorkommt, ist in Deutschland allerdings ein bedeutender "sozialer Casus".

Die allergewöhnlichste Manier, sozialistisch.selbstgefällig zu reflektieren, besteht darin, zu sagen, es sei alles gut, wenn nur nicht auf der andern Seite die Armen wären. Bei jedem beliebigen Stoff kann diese Reflexion angestellt werden. Der eigentliche Gehalt dieser Reflexion ist die philanthropisch-heuchlerische Kleinbürgerlichkeit, die mit den positiven Seiten der bestehenden Gesellschaft vollkommen einverstanden ist und nur darüber jammert, daß auch die negative Seite der Armut daneben besteht, die über und über in der gegenwärtigen Gesellschaft befangen ist und nur wünscht, daß diese Gesellschaft ohne ihre Existenzbedingungen fortexistieren möge.

Beck stellt in diesem Gedicht diese Reflexion oft möglichst trivial an, z.B. bei Gelegenheit des Christfestes:

O Zeit, die mild des Menschen Herz erbaut,
Du wärest milder und doppelt traut -
Wenn nicht in der Brust des armen Buben,
Der elternlos in die festlichen Stuben
Des reichen Spielgenossen schaut,
Der Neid mit seiner ersten Sünde
Bei wüster Gotteslästerung stünde!
Ja .........................................................
.... süßer, klänge beim Weihnachtslicht
Der Kinder Jubel in meinem Gehöre,
Wenn nur in feuchten Höhlen nicht
Auf schlechter Streu das Elend fröre. [p. 49.]

Er finden sich übrigens schöne Einzelheiten in diesem formlosen und endlosen Gedicht, z.B. die Darstellung des Lumpenproletariats:

Was täglich und unverdrossen
Nach Kehricht sucht in verpesteten Gossen;
Was wie der Spatz nach Futter schweift,
Was Töpfe flickt und Scheren schleift,
Was starren Fingers die Wäsche steift,
Was keuchend schiebt des Karrens Wucht,
Beladen mit kaum gereifter Frucht,
Und weinerlich singt: Wer kauft, wer kauft?
Was um den Heller im Schmutze rauft;
Was täglich an den Steinen der Ecken
Den Gott besingt, an den es glaubt,
Kaum wagt die Hände hinzustrecken,
<220> Dieweil das Betteln nicht erlaubt;
Was tauben Ohrs in Hungers Nöten
Die Harfen spielt und bläst die Flöten,
Jahraus, jahrein denselben Chor -
Vor allen Fenstern, an jedem Tor -
Die Kindermagd zum Tanze stimmt,
Doch selber nicht das Lied vernimmt;
Was nachts die große Stadt erhellt
Und selbst kein Licht im Hause hat;
Was Lasten trägt, was Holz zerspellt,
Was herrenlos, was herrensatt;
Was beten und kuppeln und stehlen läuft,
Den Rest des Gewissens wüst versäuft. [p. 158-160.]

Beck erhebt sich hier zum ersten Male über die gewöhnliche deutschbürgerliche Moralität, indem er diese Verse einem alten Bettler in den Mund legt, dessen Tochter seine Einwilligung zu einem Rendezvous mit einem Offizier verlangt. Er gibt ihr darauf in obigen Versen eine erbitterte Schilderung der Klassen, wozu ihr Kind dann gehören würde, greift seine Einwendungen aus ihrer unmittelbaren Lebenslage und hält ihr keine Moralpredigt, was anzuerkennen ist.

Du sollst nicht stehlen

Der moralische Bediente eines Russen, den der Bediente selbst als braven Gebieter qualifiziert, bestiehlt seinen scheinbar schlummernden Herrn in der Nacht, um seinen alten Vater zu unterstützen. Der Russe schleicht ihm nach und sieht über seine Schultern, da er eben das nachfolgende Brieflein an denselbigen Alten richtet:

Nimm das Geld! Ich hab' gestohlen!
Vater, bete zum Erlöser,
Daß er mir von seinem Throne
Einst Verzeihung senden möge!
Schaffen will ich und verdienen,
Von der Streu den Schlummer hetzen,
Bis ich meinem braven Gebieter
Das Geraubte kann ersetzen. [p. 241.]

Der brave Gebieter des moralischen Dienstboten ist so gerührt über diese furchtbaren Entdeckungen, daß er nicht sprechen kann, jedoch segnend seine Hand auf das Haupt des Knechtes legt.

<221> Aber der ist eine Leiche -
Und es brach sein Herz im Schrecken. [p. 242.]

Kann man etwas Komischeres schreiben? Beck sinkt hier unter Kotzebue und Iffland herab, die Bediententragödie übertrifft noch das bürgerliche Trauerspiel.

Neue Götter und alte Leiden

In diesem Gedicht werden Ronge, die Lichtfreunde, die Neujuden, der Barbier, die Wäscherin, der Leipziger Bürger mit seiner gelinden Freiheit oft treffend verhöhnt. Zum Schluß verteidigt sich der Poet gegen die Philister, die ihn deshalb anklagen werden, obgleich auch er

Das Lied vom Licht
In Sturm und Nacht hinausgesungen. [p. 298.]

Er trägt dann selbst eine sozialistisch modifizierte, auf eine Art von Naturdeismus begründete Lehre der Bruderliebe und praktischen Religion vor und macht so eine Seite seiner Gegner gegen die andere geltend. So kann Beck nie enden, bis er sich selbst wieder verdorben hat, weil er selbst zu sehr in der deutschen Misere befangen ist und zuviel auf sich, auf den Dichter in seinem Dichten reflektiert. Der Sänger ist überhaupt wieder eine fabelhaft zugestutzte, abenteuerlich sich aufspreizende Figur bei den modernen Lyrikern. Er ist keine aktive, in der wirklichen Gesellschaft stehende Person, welche dichtet, sondern "der Dichter", der in den Wolken schwebt, welche Wolken aber nichts anderes sind als die nebelhaften Phantasien des deutschen Bürgers. - Beck fällt immer vom abenteuerlichsten Bombast in die allernüchternste Bürgerprosa und von einem kleinen kriegerischen Humor gegen die bestehenden Zustände in ein sentimentales Abfinden mit ihnen. Jeden Augenblick ertappt er sich, daß er selbst es ist, de quo fabula narratur <über den die Geschichte erzählt wird>. Seine Lieder wirken daher nicht revolutionär, sondern wie

Drei Brausepülverchen,
Das Blut zu stillen. [p. 293.]

Den Schluß des ganzen Bandes bildet daher auch ganz passend der folgende schlaffe Jammer der Resignation:

Wann soll es auf der Erden,
O Gott, erträglich werden?
<222> Ich bin an Sehnsucht doppelt frisch,
Drum an Geduld ein doppelt Müder. [p. 324.]

Beck hat unstreitig mehr Talent und ursprünglich auch mehr Energie als die Mehrzahl des deutschen Literatenpacks. Sein einziges Leiden ist die deutsche Misere, zu deren theoretischen Formen auch der pomphaft-weinerliche Sozialismus und die jungdeutschen Reminiszenzen Becks gehören. Ehe nicht in Deutschland die gesellschaftlichen Gegensätze eine schärfere Form erhalten haben durch eine bestimmtere Sonderung der Klassen und momentane Eroberung der politischen Herrschaft durch [die] Bourgeoisie, ist für einen deutschen Poeten in Deutschland selbst wenig zu hoffen. Einerseits ist es ihm in der deutschen Gesellschaft unmöglich, revolutionär aufzutreten, weil die revolutionären Elemente selbst noch zu unentwickelt sind, andererseits wirkt die ihn von allen Seiten umgehende chronische Misere zu erschlaffend, als daß er sich darüber erheben, sich frei zu ihr verhalten und sie verspotten könnte, ohne selbst wieder in sie zurückzufallen. Einstweilen kann man allen deutschen Poeten, die noch einiges Talent haben, nichts raten, als auszuwandern in zivilisierte Länder.

["Deutsche-Brüsseler-Zeitung" Nr. 93 vom 2l. November 1847]

2

Karl Grün: "Über Goethe vom menschlichen Standpunkte".
Darmstadt, 1846.

Herr Grün erholt sich von den Strapazen seiner "Sozialen Bewegung in Frankreich und Belgien", indem er einen Blick auf den sozialen Stillstand seines Vaterlandes wirft. Er sieht sich zur Abwechselung einmal den alten Goethe "vom menschlichen Standpunkte" an. Er hat seine Siebenmeilenstiefel mit Pantoffeln vertauscht, sich in den Schlafrock geworfen und dehnt sich selbstzufrieden in seinem Armsessel:

"Wir schreiben keinen Kommentar, nur was auf der Hand liegt, nehmen wir mit." p. 244.

Er hat sich's recht behaglich gemacht:

"Rosen und Kamelien hatte ich mir ins Zimmer gesetzt, Reseda und Veilchen ins offene Fenster", p. III. "Und vor allem keine Kommentare! ... Sondern hier, die sämtlichen Werke auf den Tisch und etwas Rosen- und Resedaduft ins Zimmer! Wir wollen sehen, wie weit wir damit kommen ... Ein Schuft gibt mehr als er hat!" p. IV, V.

<223> Bei aller Nonchalance verrichtet Herr Grün indes die größten Heldentaten in diesem Buche. Aber das wird uns nicht wundern, nachdem wir von ihm selbst gehört haben, daß er der Mann ist, der "an der Nichtigkeit der öffentlichen und Privatverhältnisse verzweifeln wollte" (p. III), der "Goethes Zügel empfand, wenn er sich im Überschwenglichen und Unförmlichen zu verlieren drohte" (ibid.), der "das Vollgefühl menschlicher Bestimmung" in sich trägt, "der unsere Seele gehört - und ging' es in die Hölle!" (p. IV.) Wir wundern uns über nichts mehr, nachdem wir erfahren haben, daß er schon früher "einmal eine Frage an den Feuerbachschen Menschen gerichtet" hat, die zwar "leicht zu beantworten" war, aber doch für den besagten Menschen zu schwierig gewesen zu sein scheint (p. 277); wenn wir sehen, wie Herr Grün p. 198 das "Selbstbewußtsein aus einer Sackgasse holt", p. 102 sogar "an den Hof des russischen Kaisers" gehen will und p. 305 mit Donnerstimme in die Welt hinausruft: "Wer durch ein Gesetz einen neuen Zustand aussprechen will, welcher dauern soll, der sei Anathema!" Wir sind aufs äußerste gefaßt, wenn Herr Grün p. 187 unternimmt, "seine Nasenspitze an den Idealismus zu legen" und ihn "zum Straßenjungen zu machen", wenn er darauf spekuliert, "Eigentümer zu werden", ein "reicher, reicher Eigentümer, den Zensus zahlen zu können, um in die Repräsentantenkammer der Menschheit einzurücken, um auf die Liste der Geschwornen zu kommen, welche über menschlich und unmenschlich entscheiden".

Wie sollte ihm das nicht gelingen, ihm, der "auf dem namenlosen Grund des allgemeinen Menschlichen" steht? (p. 182.) Ihn schrecken nicht einmal "die Nacht und ihre Greuel" (p. 312), als da sind Mord, Ehebruch, Dieberei, Hurerei, Unzucht und hoffärtiges Wesen. Freilich gesteht er p. 99 ein, er habe auch schon "den unendlichen Schmerz empfunden, wenn der Mensch sich auf dem Punkte seiner Nichtigkeit ertappt", freilich "ertappt" er sich vor den Augen des Publikums auf diesem "Punkte", bei Gelegenheit des Satzes:

Du gleichst dem Geist, den Du begreifst,
Nicht mir -

und zwar folgendermaßen:

"Dies Wort ist, wie wenn Blitz und Donner zusammenfallen und zu gleicher Zeit Erde sich auftäte. In diesem Wort ist der Vorhang am Tempel zerrissen, die Gräber tun sich auf ... die Götterdämmerung ist hereingebrochen und das alte Chaos ... die Sterne fahren widereinander, ein einziger Kometenschwanz brennt im Nu die kleine Erde weg, und alles, was ist, ist nur noch Qualm und Rauch und Dunst. Und wenn man sich die gräßlichste Zerstörung denkt, ... so ist das alles noch gar nichts gegen die Vernichtung. die in diesen neun Wörtern liegt!" p. 235, 236.]

<224> Freilich, "an der alleräußersten Grenze der Theorie", nämlich auf p. 295, "läuft es" dem Herrn Grün "wie eiskaltes Wasser den Rücken hinab, ein wahrer Schrecken durchzittert seine Glieder" - aber in dem allen überwindet er weit, denn er ist ja Mitglied "des großen Freimaurerordens der Menschheit"! (p. 317.)

Take it all in all <Alles in allem genommen>, so wird Herr Grün mit solchen Eigenschaften auf jedem Felde sich bewähren. Ehe wir zu seiner ergiebigen Betrachtung Goethes übergehen, wollen wir ihn auf einige Nebenschauplätze seiner Tätigkeit begleiten.

Zuerst auf das Feld der Naturwissenschaft, denn "das Wissen von der Natur" ist nach p. 247 "die einzig positive Wissenschaft" und zugleich "nicht minder die Vollendung des humanistischen" (vulgo <gemeinhin> menschlichen) "Menschen". Sammeln wir sorgfältig, was uns Herr Grün von dieser einzig positiven Wissenschaft Positives verkündigt. Er läßt sich zwar nicht weitläuftig auf sie ein, er läßt nur, so zwischen Tag und Dunkel in seinem Zimmer auf und ab gehend, einiges fallen, aber er verrichtet darum "nicht minder" die "positivsten" Mirakel.

Bei Gelegenheit des Holbach zugeschriebenen "Système de la nature" enthüllt er:

"Es kann hier nicht auseinandergesetzt werden, wie das System der Natur auf der Hälfte des Weges abbricht, wie es an dem Punkte abbricht, wo aus der Notwendigkeit des Zerebralsystems die Freiheit und die Selbstbestimmung herausschlagen müßten." p. 70.

Herr Grün könnte ganz genau den Punkt angehen, wo "aus der Notwendigkeit des Zerebralsystems" dies und jenes "herausschlägt" und der Mensch also auch auf die innere Seite seines Schädels Ohrfeigen bekommt. Herr Grün könnte die sichersten und detailliertesten Nachrichten geben über einen Punkt, der sich bisher den Beobachtungen gänzlich entzog, nämlich über den Produktionsprozeß des Bewußtseins im Gehirn. Aber leider! in einem Buche über Goethe vom menschlichen Standpunkte "kann dies nicht auseinandergesetzt werden".

Dumas, Playfair, Faraday und Liebig huldigten bisher arglos der Ansicht, der Sauerstoff sei ein ebenso geschmackloses wie geruchloses Gas. Herr Grün aber, der da weiß, daß alles Saure auf der Zunge beißt, erklärt p. 75 den "Sauerstoff" für "beißend". Desgleichen bereichert er p. 229 die Akustik und Optik mit neuen Tatsachen; indem er dort "ein reinigendes Tosen und <225> Leuchten" vor sich gehen läßt, stellt er die reinigende Kraft des Schalls und des Lichtes außer Zweifel.

Nicht zufrieden mit diesen glänzenden Bereicherungen der "einzig positiven Wissenschaft", nicht zufrieden mit der Theorie der inwendigen Ohrfeigen, entdeckt Herr Grün p. 94 einen neuen Knochen:

"Werther ist der Mensch, dem der Wirbelknochen fehlt, der noch nicht Subjekt geworden ist."

Die bisherige falsche Ansicht war, der Mensch habe an die zwei Dutzend Wirbelknochen. Herr Grün reduziert diese vielen Knochen nicht nur auf ihre normale Einheit, sondern entdeckt auch noch, daß dieser Exklusiv-Wirbelknochen die merkwürdige Eigenschaft hat, den Menschen zum "Subjekt" zu machen. Das "Subjekt" Herr Grün verdient für diese Entdeckung einen Extra-Wirbelknochen.

Unser beiläufiger Naturforscher faßt schließlich seine "einzig positive Wissenschaft" von der Natur folgendermaßen zusammen:

"Ist nicht der Kern der Natur
Menschen im Herzen?

Der Kern der Natur ist Menschen im Herzen. Im Menschenherzen ist der Kern der Natur. Die Natur hat ihren Kern im Herzen des Menschen." p. 250.

Und wir setzen hinzu mit Herrn Grüns Erlaubnis: Menschen im Herzen ist der Kern der Natur. Im Herzen ist der Kern der Natur Menschen. In des Menschen Herzen hat die Natur ihren Kern.

Mit dieser eminenten "positiven" Aufklärung verlassen wir das naturwissenschaftliche Feld, um zur Ökonomie überzugehen, die leider nach dem Obigen keine "positive Wissenschaft" ist. Dessenungeachtet verfährt Herr Grün auch hier auf gut Glück äußerst "positiv".

"Individuum setzte sich wider Individuum, und so entstand die allgemeine Konkurrenz." p. 211.

Das heißt, die düstre und mysteriöse Vorstellung der deutschen Sozialisten von der "allgemeinen Konkurrenz" trat ins Leben, "und so entstand die Konkurrenz". Gründe werden nicht angegeben, ohne Zweifel, weil die Ökonomie keine positive Wissenschaft ist.

"Im Mittelalter war das schnöde Metall noch gebunden durch Treue, Minne und Devotieren; diese Fessel zersprengte das sechzehnte Jahrhundert, und das Geld wurde frei." p. 241.

MacCulloch und Blanqui, die bisher in dem Irrtum befangen waren, das Geld sei "im Mittelalter gebunden" gewesen durch die mangelnde Kommuni- <226> kation mit Amerika und die Granitmassen, welche die Adern des "schnöden Metalls" in den Andes bedeckten, MacCulloch und Blanqui werden Herrn Grün für diese Enthüllung eine Dankadresse votieren.

Der Geschichte, die ebenfalls keine "positive Wissenschaft" ist, sucht Herr Grün einen positiven Charakter zu geben, indem er den Tatsachen der Tradition eine Reihe von Tatsachen seiner Imagination gegenüberstellt.

Pag. 91 "erdolcht sich Addisons Cato ein Jahrhundert vor Werther auf der englischen Bühne" und beweist dadurch einen merkwürdigen Lebensüberdruß. Er "erdolcht" sich hiernach nämlich, als sein 1672 geborner Verfasser noch ein Säugling war.

Pag. 175 berichtigt Herr Grün Goethes "Tag- und Jahreshefte" dahin, daß 1815 von den deutschen Regierungen die Preßfreiheit keineswegs "ausgesprochen", sondern nur "versprochen" wurde. Er ist also alles nur ein Traum, was uns die sauerländischen und sonstigen Spießbürger Erschreckliches von den vier Jahren Preßfreiheit 1815 bis 1819 zu erzählen wissen, wie damals alle ihre kleinen Schmutzereien und Skandalosa durch die Presse ans Licht gezogen wurden und wie endlich die Bundesbeschlüsse von 1819 dieser Schreckensherrschaft der Öffentlichkeit ein Ende machten.

Herr Grün erzählt uns ferner, daß die freie Reichsstadt Frankfurt gar kein Staat war, sondern "nichts als ein Stück bürgerlicher Gesellschaft". p. 19. Überhaupt gehe es in Deutschland keine Staaten, und man fange endlich "mehr und mehr an, die eigentümlichen Vorzüge dieser Staatslosigkeit Deutschlands einzusehen", p. 257, welche Vorzüge besonders in der großen Wohlfeilheit der Stockprügel bestehen. Die deutschen Selbstherrscher werden also sagen müssen: "la société civile, c'est moi" <"die bürgerliche Gesellschaft bin ich"> - wobei sie sich aber schlecht stehen, denn nach p. 101 ist die bürgerliche Gesellschaft nur "eine Abstraktion".

Wenn aber die Deutschen keinen Staat haben, so haben sie dafür "einen ungeheuren Wechsel auf die Wahrheit, und dieser Wechsel muß realisiert werden, ausgezahlt, in klingende Münze umgesetzt". p. 5. Dieser Wechsel ist ohne Zweifel auf demselben Büro zahlbar, wo Herr Grün den "Zensus" zahlt, "um in die Repräsentantenkammer der Menschheit einzurücken".

!"Deutsche-Brüsseler-Zeitung" Nr. 94 vom 25. November 1847]

Die wichtigsten "positiven" Aufschlüsse erhalten wir indes über die französische Revolution, über deren "Bedeutung" er eine eigne "Zwischen- <227> rede" hält. Er beginnt mit dem Orakelspruch, der Gegensatz zwischen historischem Recht und Vernunftrecht sei ein durchaus wichtiger, denn beide seien historischen Ursprungs. Ohne Herrn Grüns ebenso neue wie wichtige Entdeckung, daß auch das Vernunftrecht im Laufe der Geschichte entstanden sei, irgendwie herabsetzen zu wollen, wagen wir die bescheidne Bemerkung, daß ein stilles Zwiegespräch im stillen Kämmerlein mit den ersten Bänden der "Histoire parlementaire" von Buchez ihm zeigen dürfte, welche Rolle dieser Gegensatz in der Revolution gespielt hat.

Herr Grün zieht es indes vor, uns einen ausführlichen Beweis von der Schlechtigkeit der Revolution zu geben, der sich schließlich auf den einzigen, aber zentnerschweren Vorwurf reduziert: daß sie den "Begriff des Menschen nicht untersucht habe". In der Tat ist eine so grobe Unterlassungssünde unverzeihlich. Hätte die Revolution nur den Begriff des Menschen untersucht, so wäre <In "Deutsche-Brüsseler-Zeitung": war> von einem neunten Thermidor, von einem achtzehnten Brumaire keine Rede; Napoleon begnügte sich mit der Generals-Charge und schrieb vielleicht auf seine alten Tage ein Exerzierreglement "vom menschlichen Standpunkte". - Weiter erfahren wir zur Aufklärung "über die Bedeutung der Revolution", daß der Deismus sich im Grunde vom Materialismus nicht unterscheide, und warum nicht. Wir sehen daraus mit Vergnügen, daß Herr Grün seinen Hegel noch nicht ganz vergessen hat. Vergl. z.B. Hegels "Geschichte der Philosophie", III., p. 458, 459, 463 der zweiten Ausgabe. - Dann wird, ebenfalls zur Aufklärung "über die Bedeutung der Revolution", mehres über Konkurrenz mitgeteilt, wovon wir oben die Hauptsache vorwegnahmen, ferner lange Auszüge aus Holbachs Schriften gegeben, um zu beweisen, daß er die Verbrechen aus dem Staat erklärte; nicht minder wird "die Bedeutung der Revolution" durch eine reichliche Blumenlese aus des Thomas Morus' "Utopia" erläutert, welche "Utopia" wieder dahin erläutert wird, daß sie Anno 1516 nichts Geringeres als - "das heutige England" p. 225 bis in die geringsten Einzelheiten prophetisch darstellte. Und endlich, nach allen diesen auf beiläufig 36 Seiten breitgetretenen Vues und Considérants <Ansichten und Erwägungen> folgt das Schlußurteil p. 226: "Die Revolution ist die Verwirklichung des Machiavellismus." Warnendes Exempel für alle, die den Begriff des" Menschen" noch nicht untersucht haben!

Zum Trost für die armen Franzosen, die nichts erreicht haben als die Verwirklichung des Machiavellismus, läßt Herr Grün p. 73 ein Balsamtröpflein fallen:

<228> "Das französische Volk war im l8. Jahrhundert der Prometheus unter den Völkern, der die menschlichen Rechte denen der Götter gegenüber geltend machte."

Heften wir uns nicht daran, daß es also doch wohl "den Begriff des Menschen untersucht" haben mußte, oder daran, daß es die menschlichen Rechte nicht "denen der Götter", sondern denen des Königs, des Adels und der Pfaffen "gegenüber geltend machte", lassen wir diese Bagatellen und verhüllen wir in stiller Trauer unser Haupt: denn dem Herrn Grün selbst passiert hier etwas "Menschliches".

Herr Grün vergißt nämlich, daß er in früheren Schriften (vgl. z.B. den Artikel im 1. Bande der "Rheinischen Jahrbücher", die "soziale Bewegung" usw.) eine gewisse Entwicklung über die Menschenrechte aus den "Deutsch-Französischen Jahrbüchern" nicht nur breitgetreten, "popularisiert", sondern sogar mit dem echtesten Plagiarien-Eifer ins Unsinnige outriert hatte. Er vergißt, daß er dort die Menschenrechte als die Rechte des Epiciers <Krämers>, des Spießbürgers usw. an den Pranger gestellt hatte, und macht sie hier plötzlich zu "den menschlichen Rechten", zu den Rechten des "Menschen". Dasselbe passiert dem Herrn Grün p. 251, 252, wo "das Recht, das mit uns geboren und von dem leider keine Frage ist", aus dem "Faust" in "dein Naturrecht, dein Menschenrecht, das Recht, von innen heraus zu wirken und sein eigenes Werk zu genießen" verwandelt wird; obwohl Goethe es direkt in Gegensatz bringt mit "Gesetz und Rechten", die "sich wie eine ew'ge Krankheit forterben", d.h. mit dem traditionellen Recht des ancien régime <der alten Ordnung>, zu dem nur die "angebornen, unverjährbaren und unveräußerlichen Menschenrechte" der Revolution, keineswegs aber die Rechte "des Menschen" den Gegensatz bilden. Diesmal freilich mußte Herr Grün seine Antezedentien vergessen, damit Goethe nicht den menschlichen Standpunkt verliere.

Ganz übrigens hat Herr Grün noch nicht vergessen, was er aus den "Deutsch-Französischen Jahrbüchern" und andern Schriften derselben Richtung gelernt hat. Pag. 210 definiert er z.B. die dermalige französische Freiheit als "die Freiheit von unfreien (!), allgemeinen (!!) Wesen (!!!)". Dies Unwesen ist entstanden aus dem Gemeinwesen von p. 204 und 205 der "Deutsch-Französischen Jahrbücher" und den Übersetzungen dieser Seiten in die kurrente Sprache des dermaligen deutschen Sozialismus. Die wahren Sozialisten haben überhaupt die Gewohnheit, Entwicklungen, die ihnen unverständlich bleiben, weil sie von der Philosophie abstrahieren und juristische, ökonomische usw. Ausdrücke enthalten, im Handumdrehen in eine einzige kurze, mit philosophischen Ausdrücken versetzte Phrase zu- <229> sammenzufassen und diesen Unsinn zu beliebigem Gebrauch auswendig [zu] lernen. Auf diese Weise ist das juristische "Gemeinwesen" der "Deutsch-Französischen Jahrbücher" in obiges philosophisch-unsinnige "allgemein Wesen" verwandelt worden, die politische Befreiung, die Demokratie hat in der "Befreiung vom unfreien allgemeinen Wesen" ihre philosophische kurze Formel erhalten, und diese kann der wahre Sozialist in die Tasche stecken, ohne befürchten zu müssen, daß seine Gelehrsamkeit ihm zu schwer falle.

Auf p. XXVI exploitiert Herr Grün in ähnlicher Weise, was in der "Heiligen Familie" über Sensualismus und Materialismus gesagt ist, wie er den Wink jener Schrift, daß in den Materialisten des vorigen Jahrhunderts, u.a. in Holbach, Anknüpfungspunkte für die sozialistische Bewegung der Gegenwart zu finden seien, zu obenerwähnten Zitaten aus Holbach nebst sozialistischer Interpretation derselben benutzt.

Gehen wir über zur Philosophie. Gegen diese hegt Herr Grün eine gründliche Verachtung. Er verkündigt uns schon p. VII, daß er "fürder nichts mehr mit Religion, Philosophie und Politik zu schaffen hat", daß diese drei "gewesen sind und sich nie wieder aus ihrer Auflösung erheben werden" und daß er von ihnen allen und namentlich von der Philosophie "weiter nichts übrigbehält als den Menschen und das gesellschaftsfähige, soziale Wesen". Das gesellschaftsfähige, gesellschaftliche Wesen und der obige menschliche Mensch sind allerdings hinreichend, um uns über den unrettbaren Untergang von Religion, Philosophie und Politik zu trösten. Aber Herr Grün ist viel zu bescheiden. Er hat nicht nur den "humanistischen Menschen" und diverse "Wesen" von der Philosophie "übrigbehalten", sondern erfreut sich auch des Besitzes einer, wenn auch verworrenen, doch beträchtlichen Masse Hegelscher Tradition. Wie wäre das Gegenteil auch möglich, nachdem er vor verschiedenen Jahren vor Hegels Büste zu wiederholten Malen andächtig gekniet hat? Man wird uns bitten, dergleichen skurrile und skandalöse Personalia <persönliche Dinge> aus dem Spiele zu lassen; aber Herr Grün selbst hat dies Geheimnis dem Preßbengel anvertraut. Wir werden diesmal nicht sagen, wo. Wir haben dem Herrn Grün bereits so häufig seine Quellen mit Kapitel und Vers zitiert, daß wir auch einmal den gleichen Dienst von Herrn Grün verlangen können. Um ihm gleich wieder einen Beweis von unserer Gefälligkeit zu geben, wollen wir ihm vertrauen, daß er die schließliche Entscheidung in der Streitfrage vom freien Willen, die er p. 8 gibt, aus Fouriers "Traité de l'Association", Abschnitt "du libre arbitre", genommen hat. Nur, daß die Theorie vom <230> freien Willen eine "Verirrung des deutschen Geistes" sei, ist eine eigentümliche "Verirrung" des Herrn Grün selbst.

Wir kommen Goethe endlich näher. Auf p. 15 weist Herr Grün das Recht Goethes nach zu existieren. Goethe und Schiller sind nämlich die Aufhebung des Gegensatzes zwischen "tatlosem Genuß", d.h. Wieland, und "genußloser Tat", d.h. Klopstock. "Lessing stellte den Menschen zuerst auf sich selbst." (Ob ihm Herr Grün dies akrobatische Kunststück wohl nachmachen kann?) - In dieser philosophischen Konstruktion haben wir alle Quellen des Herrn Grün zusammen. Die Form der Konstruktion, die Grundlage des Ganzen - der weltbekannte Hegelsche Kunstgriff der Vermittelung der Gegensätze. "Der auf sich selbst gestellte Mensch" - Hegelsche Terminologie, angewandt auf Feuerbach. "Tatloser Genuß" und "Genußlose Tat", dieser Gegensatz, über den Herr Grün Wieland und Klopstock obige Variationen spielen läßt, ist entlehnt aus den Sämtlichen Werken von M[oses] Heß. Die einzige Quelle, die wir vermissen, ist die Literaturgeschichte selbst, die von den obigen Siebensachen nicht das Geringste weiß und dafür von Herrn Grün mit Recht ignoriert wird.

Da wir gerade von Schiller sprechen, dürfte folgende Bemerkung des Herrn Grün an ihrem Orte sein: "Schiller war alles, was man sein kann, wofern man nicht Goethe ist." p. 311. Pardon, man kann auch Monsieur Grün sein. - Übrigens pflügt unser Autor hier mit dem Kalbe Ludewigs von Baierland:

Rom, Dir fehlt das, was Neapel hat, diesem just, was Du besitzest;
Wäret ihr beide vereint, wär's für die Erde zu viel.

Durch diese Geschichtskonstruktion ist Goethes Auftreten in der deutschen Literatur vorbereitet. "Der Mensch", von Lessing "auf sich selbst gestellt", kann nur unter den Händen Goethes zu weiteren Evolutionen fortschreiten. Herrn Grün gebührt nämlich das Verdienst, "den Menschen" in Goethe entdeckt zu haben, nicht den natürlichen, von Mann und Weib vergnüglich und fleischlich erzeugten Menschen, sondern den Menschen im höheren Sinne, den dialektischen Menschen, das Caput mortuum <Destillationsprodukt> im Tiegel, in welchem Gott Vater, Sohn und heiliger Geist kalziniert worden, den cousin germain <das Geschwisterkind> des Homunculus aus dem "Faust" - kurz, nicht den Menschen, von dem Goethe spricht, sondern "den Menschen", von dem Herr Grün spricht. Wer ist nun "der Mensch", von dem Herr Grün spricht?

"Es ist nichts als menschlicher Inhalt in Goethe". [p. XVI.] - Pag. XXI hören wir, "daß Goethe den Menschen so darstellte und dachte, wie wir ihn heute verwirklichen <231> wollen". - Pag. XXII: "Der heutige Goethe, und das sind seine Werke, ist ein wahrer Kodex des Menschentums". - Goethe "ist die vollendete Menschlichkeit". Pag. XXV. -"Goethes Dichtungen sind (!) das Ideal der menschlichen Gesellschaft." Pag. 12. -"Goethe konnte kein nationaler Dichter werden, weil er zum Dichter des Menschlichen bestimmt war." Pag. 25. - Trotzdem aber soll nach p. 14 "unser Volk" - also die Deutschen - in Goethe "sein eigenes Wesen verklärt erblicken".

Hier haben wir den ersten Aufschluß über "das Wesen des Menschen", und wir dürfen uns dabei um so mehr auf Herrn Grün verlassen, als er ohne Zweifel "den Begriff des Menschen" aufs gründlichste "untersucht hat". Goethe stellt "den Menschen" so dar, wie Herr Grün ihn verwirklichen will, und zugleich stellt er das deutsche Volk verklärt dar - hiernach ist "der Mensch" niemand anders als "der verklärte Deutsche". Dies wird überall bestätigt. Wie Goethe "kein nationaler Dichter", sondern "der Dichter des Menschlichen" ist, so ist auch das deutsche Volk "kein nationales" Volk, sondern das Volk "des Menschlichen". Darum heißt es auch p. XVI: "Goethes Dichtungen, aus dem Leben hervorgegangen, ... hatten und haben mit der Wirklichkeit nichts zu schaffen." Gerade wie "der Mensch", gerade wie die Deutschen. Und p. 4: "Noch zur Stunde will der französische Sozialismus Frankreich beglücken, die deutschen Schriftsteller haben das menschliche Geschlecht vor Augen." (Während "das menschliche Geschlecht" sie mehrenteils nicht "vor Augen", sondern vor einer ziemlich entgegengesetzten Körperstelle zu "haben" pflegt.) So freut sich Herr Grün auch an zahllosen Stellen darüber, daß Goethe "den Menschen von innen heraus befreien" wollte (z.B. p. 225), welche echt germanische Befreiung noch immer nicht "heraus" kommen will.

Konstatieren wir also diesen ersten Aufschluß: "Der Mensch" ist der "verklärte" Deutsche.

["Deutsche-Brüsseler-Zeitung" Nr. 95 vom 28. November 1847]

Verfolgen wir nun den Herrn Grün in der Anerkennung, die er "dem Dichter des Menschlichen", dem "menschlichen Inhalt in Goethe" zollt. Sie wird uns am besten enthüllen, wer "der Mensch" ist, von dem Herr Grün spricht. Wir werden finden, daß Herr Grün hier die geheimsten Gedanken des wahren Sozialismus enthüllt, wie er denn überhaupt durch seine Sucht, alle seine Kumpane zu überschreien, dazu verleitet wird, Dinge in die Welt hinauszututen, die die übrige Genossenschaft lieber verschwiege. Es war ihm übrigens um so leichter, Goethe in den "Dichter des Menschlichen" zu verwandeln, als Goethe selbst die Worte: Mensch und menschlich in einem gewissen emphatischen Sinne zu gebrauchen pflegt. Goethe gebrauchte sie <232> freilich nur in dem Sinne, wie sie zu seiner Zeit und später auch von Hegel angewandt, wie das Prädikat menschlich besonders den Griechen im Gegensatz zu heidnischen und christlichen Barbaren beigelegt wurde, lange bevor diese Ausdrücke durch Feuerbach ihren mysteriös-philosophischen Inhalt erhielten. Bei Goethe namentlich haben sie meist eine sehr unphilosophische, fleischliche Bedeutung. Erst Herrn Grün gebührt das Verdienst, Goethe zum Schüler Feuerbachs und zum wahren Sozialisten gemacht zu haben.

Wir können hier natürlich über Goethe selbst nicht ausführlich sprechen. Wir machen nur auf einen Punkt aufmerksam. - Goethe verhält sich in seinen Werken auf eine zweifache Weise zur deutschen Gesellschaft seiner Zeit. Bald ist er ihr feindselig; er sucht der ihm widerwärtigen zu entfliehen, wie in der "Iphigenie" und überhaupt während der italienischen Reise, er rebelliert gegen sie als Götz, Prometheus und Faust, er schüttet als Mephistopheles seinen bittersten Spott über sie aus. Bald dagegen ist er ihr befreundet, "schickt" sich in sie, wie in der Mehrzahl der "Zahmen Xenien" und vielen prosaischen Schriften, feiert sie, wie in den "Maskenzügen", ja verteidigt sie gegen die andrängende geschichtliche Bewegung, wie namentlich in allen Schriften, wo er auf die französische Revolution zu sprechen kommt. Es sind nicht nur einzelne Seiten des deutschen Lebens, die Goethe anerkannt, gegen andre, die ihm widerstreben. Es sind häufiger verschiedene Stimmungen, in denen er sich befindet; es ist ein fortwährender Kampf in ihm zwischen dem genialen Dichter, den die Misere seiner Umgebung anekelt, und dem behutsamen Frankfurter Ratsherrnkind, resp. Weimarschen Geheimrat, der sich genötigt sieht, Waffenstillstand mit ihr zu schließen und sich an sie zu gewöhnen. So ist Goethe bald kolossal, bald kleinlich; bald trotziges, spottendes, weltverachtendes Genie, bald rücksichtsvoller, genügsamer, enger Philister. Auch Goethe war nicht imstande, die deutsche Misère zu besiegen; im Gegenteil, sie besiegte ihn, und dieser Sieg der Misère über den größten Deutschen ist der beste Beweis dafür, daß sie "von innen heraus" gar nicht zu überwinden ist. Goethe war zu universell, zu aktiver Natur, zu fleischlich, um in einer Schillerschen Flucht ins Kantsche Ideal Rettung vor der Misère zu suchen; er war zu scharfblickend, um nicht zu sehen, wie diese Flucht sich schließlich auf die Vertauschung der platten mit der überschwenglichen Misère reduzierte. Sein Temperament, seine Kräfte, seine ganze geistige Richtung wiesen ihn aufs praktische Leben an, und das praktische Leben, das er vorfand, war miserabel. In diesem Dilemma, in einer Lebenssphäre zu existieren, die er verachten mußte, und doch an diese Sphäre als die einzige, in welcher er sich betätigen konnte, gefesselt zu sein, in diesem Dilemma hat sich Goethe fortwährend befunden, und je älter er wurde, desto mehr zog <233> sich der gewaltige Poet, de guerre lasse <des Haders müde>, hinter den unbedeutenden Weimarschen Minister zurück. Wir werfen Goethe nicht à la Börne und Menzel vor, daß er nicht liberal war, sondern daß er zu Zeiten auch Philister sein konnte, nicht, daß er keines Enthusiasmus für deutsche Freiheit fähig war, sondern daß er einer spießbürgerlichen Scheu vor aller gegenwärtigen großen Geschichtsbewegung sein stellenweise hervorbrechendes, richtigeres ästhetisches Gefühl opferte; nicht, daß er Hofmann war, sondern daß er zur Zeit, wo ein Napoleon den großen deutschen Augiasstall ausschwemmte, die winzigsten Angelegenheiten und menus plaisirs <kleinen Vergnügungen (die mit Nebenausgaben verbunden sind)> eines der winzigsten deutschen Höflein mit feierlichem Ernst betreiben konnte. Wir machen überhaupt weder vom moralischen, noch vom Parteistandpunkte, sondern höchstens vom ästhetischen und historischen Standpunkte aus Vorwürfe; wir messen Goethe weder am moralischen, noch am politischen, noch am "menschlichen" Maßstab. Wir können uns hier nicht darauf einlassen, Goethe im Zusammenhange mit seiner ganzen Zeit, mit seinen literarischen Vorgängern und Zeitgenossen, in seinem Entwicklungsgange und in seiner Lebensstellung darzustellen. Wir beschränken uns daher darauf, einfach das Faktum zu konstatieren.

Wir werden sehen, nach welcher dieser Seiten hin Goethes Werke "ein wahrer Kodex des Menschentums", "die vollendete Menschlichkeit", das "Ideal der menschlichen Gesellschaft" sind.

Nehmen wir zuerst die Kritik der bestehenden Gesellschaft durch Goethe vor, um dann zu der positiven Darstellung des "Ideals der menschlichen Gesellschaft" überzugehen. Es versteht sich bei der Reichhaltigkeit des Grünschen Buchs von selbst, daß wir bei beiden nur einige charakteristische Glanzstellen hervorheben.

In der Tat verrichtet Goethe als Kritiker der Gesellschaft Wunder. Er "verdammt die Zivilisation" p. 34-36, indem er einige romantische Klagen darüber verlauten läßt, daß sie alles Charakteristische, Unterscheidende an den Menschen verwische. Er "weissagt die Welt der Bourgeoisie" p. 78, indem er im "Prometheus" tout honnement <ganz einfach> die Entstehung des Privateigentums schildert. Er ist p. 229 "der Weltrichter ..., der Minos der Zivilisation". Aber das alles sind nur Bagatellen.

Pag. 253 zitiert Herr Grün: "Katechisation":

Bedenk, o Kind, woher sind diese Gaben?
Du kannst nichts von dir selber haben. -
<234> Ei, alles hab' ich vom Papa.
Und der, woher hat's der? - Vom Großpapa. -
Nicht doch! Woher hat's denn der Großpapa bekommen?
Der hat's genommen.

Hurra! schmettert Herr Grün aus vollem Halse, la propriété c'est le vol - leibhaftiger Proudhon!

Leverrier mit seinem Planeten mag nach Hause gehen und seinen Orden an Herrn Grün abtreten - denn hier ist mehr denn Leverrier, hier ist sogar mehr denn Jackson und Schwefelätherrausch. Wer den für viele friedliche Bourgeois allerdings beunruhigenden Diebstahlsatz Proudhons auf die ungefährlichen Dimensionen des obigen Goetheschen Epigramms reduziert hat, den lohnt nur der grand cordon <Großkordon (Ordensband)> der Ehrenlegion.

Der "Bürgergeneral" macht schon mehr Schwierigkeiten. Herr Grün besieht ihn einige Zeit von allen Seiten, schneidet wider Gewohnheit einige zweifelhafte Grimassen, wird bedenklich: "allerdings ... ziemlich fade ... die Revolution ist damit nicht verurteilt" p. 150 ... Halt! jetzt hat er's! was ist der Gegenstand, um den es sich handelt? Ein Topf Milch und so: "Vergessen wir nicht, daß es hier wieder ... die Eigentumsfrage ist, welche in den Vordergrund gerückt wird" p. 151.

Wenn sich in der Straße des Herrn Grün zwei alte Weiber um einen gesalzenen Heringskopf zanken, so lasse Herr Grün sich die Mühe nicht verdrießen, aus seinem "rosen-" und resedaduftenden Zimmer herabzusteigen und sie zu benachrichtigen, daß auch bei ihnen "die Eigentumsfrage es ist, welche in den Vordergrund gerückt wird". Der Dank aller Wohldenkenden wird ihm die schönste Belohnung sein.

"Deutsche-Brüsseler-Zeitung" Nr. 96 vom 2. Dezember 1847]

Eine der größten kritischen Taten hat Goethe verrichtet, als er den "Werther" schrieb. "Werther" ist keineswegs, wie die bisherigen Leser Goethes "vom menschlichen Standpunkte" glaubten, ein bloßer sentimentaler Liebesroman.

Im "Werther" "hat der menschliche Inhalt eine so adäquate Form gefunden, daß in keiner Literatur der Welt etwas gefunden werden kann, was ihm such nur im entferntesten an die Seite gesetzt zu werden verdiente" p. 96. "Die Liebe Werthers zu Lotten ist ein bloßer Hebel, ein Vehikel der Tragödie des radikalen Gefühlapantheismus ... Werther ist der Mensch, dem der Wirbelknochen fehlt, der noch nicht Subjekt <235> geworden ist" p .93, 94. Werther erschießt sich nicht aus Verliebtheit, sondern "weil er, das unglückselige pantheistische Bewußtsein, mit der Welt nicht aufs reine kommen konnte" p. 94. "'Werther' stellt den ganzen verrotteten Zustand der Gesellschaft mit künstlerischer Meisterschaft dar, er faßt die sozialen Mißstände bei ihrer tiefsten Wurzel, bei dem religiös-philosophischen Fundament" (welches "Fundament" bekanntlich viel jünger ist als die "Mißstände"), "bei der unklaren, nebulösen Erkenntnis ... Reine, durchlüftete Begriffe vom wahren Menschentum" (und vor allem Wirbelknochen, Herr Grün, Wirbelknochen!), "das wäre auch der Tod jener Misere, jener wurmstichigen, durchlöcherten Zustände, die man das bürgerliche Leben nennt!" [p. 95.]

Ein Beispiel, wie "'Werther' den verrotteten Zustand der Gesellschaft mit künstlerischer Meisterschaft" darstellt. Werther schreibt:

"Abenteuer? warum brauche ich das alberne Wort ... unsre bürgerlichen, unsre falschen Verhältnisse, das sind die Abenteuer, das sind die Ungeheuer!"

Dieser Jammerschrei eines schwärmerischen Tränensacks über den Abstand zwischen der bürgerlichen Wirklichkeit und seinen nicht minder bürgerlichen Illusionen über diese Wirklichkeit, dieser mattherzige, einzig auf Mangel an der ordinärsten Erfahrung beruhende Stoßseufzer wird von Herrn Grün auf p. 84 für tiefschneidende Kritik der Gesellschaft ausgegeben. Herr Grün behauptet sogar, die in obigen Worten ausgesprochene "verzweiflungsvolle Qual des Lebens, dieser krankhafte Reiz, die Dinge auf den Kopf zu stellen, damit sie wenigstens einmal ein andres Ansehen bekämen"(!), habe "sich zuletzt das Bette der französischen Revolution gegraben". Die Revolution, oben die Verwirklichung des Machiavellismus, wird hier zur bloßen Verwirklichung der Leiden des jungen Werthers. Die Guillotine vom Revolutionsplatz ist nur das matte Plagiat von Werthers Pistole.

Hiernach versteht es sich ganz von selbst, daß Goethe auch in "Stella" nach p. 108 "einen sozialen Stoff" behandelt, obgleich hier nur "höchst lumpige Zustände" (p. 107) geschildert werden. Der wahre Sozialismus ist viel kulanter als unser Herr Jesus. Wo zwei oder drei beisammen sind, sie brauchen es gar nicht einmal in seinem Namen zu sein, so ist er mitten unter ihnen und hat "einen sozialen Stoff". Er wie sein Jünger Herr Grün hat überhaupt eine frappante Ähnlichkeit mit "jenem platten, selbstzufriedenen Schnüffelwesen, das sich um alles bekümmert, ohne etwas zu ergründen" (p. 47).

Unsere Leser erinnern sich vielleicht eines Briefes, den Wilhelm Meister im letzten Bande der "Lehrjahre" an seinen Schwager schreibt, worin nach einigen ziemlich platten Glossen über den Vorteil, in wohlhabenden Verhältnissen heranzuwachsen, die Superiorität des Adels über die Spießbürger anerkannt und die ungeordnete Stellung der letzteren wie aller übrigen nicht- <236> adligen Klassen als einstweilen unabänderlich sanktioniert wird. Nur dem einzelnen soll es möglich sein, unter gewissen Umständen sich mit dem Adel auf gleiches Niveau zu stellen. Herr Grün bemerkt hierzu:

"Was Goethe von den Vorzügen der höheren Klassen der Gesellschaft sagt, ist durchaus wahr, wenn man höhere Klasse mit gebildeter Klasse für identisch nimmt, und dies ist bei Goethe der Fall" (p. 264).

Wobei es fernerhin sein Bewenden hat.

Kommen wir zu dem vielbesprochenen Hauptpunkt: dem Verhältnis Goethes zur Politik und zur französischen Revolution. Hier kann man aus dem Buche des Herrn Grün lernen, was es heißt, durch dick und dünn waten; hier bewährt sich die Treue des Herrn Grün.

Damit Goethes Verhalten gegenüber der Revolution gerechtfertigt erscheine, muß Goethe natürlich über der Revolution stehen, sie schon, ehe sie existierte, überwunden haben. Wir erfahren daher schon p. XXI:

"Goethe war der praktischen Entwicklung seiner Zeit so weit vorausgeeilt, daß er sich gegen sie nur abweisend, nur abwehrend verhalten zu können glaubte."

Und p. 84, bei Gelegenheit "Werthers", der, wie wir sahen, schon die ganze Revolution in nuce <im Keim> enthält: "Die Geschichte steht auf 1789, Goethe steht auf 1889." Desgleichen muß Goethe p. 28, 29 "das ganze Freiheitsgeschrei in wenigen Worten gründlich abtun", indem er bereits in den siebziger Jahren in den "Frankfurter gelehrten Anzeigen" einen Artikel drucken läßt, der gar nicht von der Freiheit spricht, die die "Schreier" verlangen, sondern nur über die Freiheit als solche, den Begriff der Freiheit einige allgemeine und ziemlich nüchterne Reflektionen anstellt. Ferner: Weil Goethe in seiner Doktordissertation die These aufstellte, jeder Gesetzgeber sei sogar verpflichtet, einen bestimmten Kultus einzuführen - eine These, die Goethe selbst als ein bloßes amüsantes Paradoxon, veranlaßt durch allerlei kleinstädtischen Frankfurter Pfaffenkrakeel, behandelt (was Herr Grün selbst zitiert) - so "lief der Student Goethe den ganzen Dualismus der Revolution und des heutigen französischen Staats an den Schuhsohlen ab" p. 26, 27. Es scheint, als wenn Herr Grün die "abgelaufenen Schuhsohlen" des "Studenten Goethe" geerbt und damit die Siebenmeilenstiefel seiner "sozialen Bewegung" versohlt habe.

Jetzt geht uns natürlich ein neues Licht auf über Goethes Aussprüche in bezug auf die Revolution. Jetzt ist es klar, daß er, der hoch über ihr stand, der sie schon vor fünfzehn Jahren "abgetan", "an den Schuhsohlen ab- <237> gelaufen", sie um ein Jahrhundert devanciert hatte, keine Sympathie für sie haben, sich nicht für ein Volk von "Freiheitsschreiern" interessieren konnte, mit dem er bereits Anno dreiundsiebenzig im reinen war. Jetzt hat Herr Grün leichtes Spiel. Goethe mag noch so banale Erbweisheit in zierliche Distichen setzen, noch so philisterhaft borniert über sie räsonieren, noch so spießbürgerlich zurückschaudern vor dem großen Eisgang, der sein friedfertiges Poeten-Winkelchen bedroht, er mag sich so kleinlich, so feig, so lakaienhaft benehmen, wie er will, er kann es seinem geduldigen Scholiasten nicht zu arg machen. Herr Grün hebt ihn auf seine unermüdlichen Schultern und trägt ihn durch den Dreck; ja, er übernimmt den ganzen Dreck auf Rechnung des wahren Sozialismus, damit nur Goethes Stiefel rein bleiben. Von der "Campagne in Frankreich" bis zur "Natürlichen Tochter" übernimmt Herr Grün p. 133-170 alles, alles ohne Ausnahme, er beweist ein Devouement, das einen Buchez zu Tränen rühren könnte. Und wenn alles nicht hilft, wenn der Dreck gar zu tief ist, dann wird die höhere soziale Exegese vorgespannt, dann paraphrasiert Herr Grün wie folgt:

Frankreichs traurig Geschick, die Großen mögen's bedenken,
Aber bedenken fürwahr sollen es Kleine noch mehr.
Große gingen zugrunde; doch wer beschützte die Menge
Wider <Bei Goethe: gegen> die Menge? Da war Menge der Menge Tyrann.

"Wer beschützt", schreit Herr Grün aus Leibeskräften, mit Sperrschrift, Fragezeichen und allen "Vehikeln der Tragödie des radikalen Gefühlspantheismus" [p. 93], "wer beschützt namentlich die besitzlose Menge, den sogenannten Pöbel, wider die besitzende Menge, den gesetzgebenden Pöbel?" p. 137. "Wer beschützt namentlich" Goethe gegen Herrn Grün?

In dieser Weise erklärt Herr Grün die ganze Reihe altkluger Bürgerregeln aus den venezianischen "Epigrammen", welche "wie von der Hand des Herkules Ohrfeigen austeilen, die uns erst jetzt recht behaglich" (nachdem die Gefahr für den Spießbürger vorüber ist) "zu klatschen scheinen, da wir eine große und bittre Erfahrung" (allerdings sehr bitter für den Spießbürger) "hinter uns haben" p. 136.

Aus der "Belagerung von Mainz"

"mochte" Herr Grün "um alles in der Welt die folgende Stelle nicht übergehen: 'Dienstag ... eilte ich, meinen Fürsten ... zu verehren, wobei mir das Glück ward, dem Prinzen usw. ... meinem immer gnädigen Herrn, aufzuwarten'" usw.

Die Stelle, wo Goethe dem Leibkammerdiener, Leibhahnrei und Leib- <238> kuppler des Königs von Preußen, Herrn Rietz, seine untertänige Devotion zu Füßen legt, findet Herr Grün nicht angemessen zu zitieren.

["Deutsche-Brüsseler-Zeitung" Nr. 97 vom 5. Dezember 1847]

Bei Gelegenheit des "Bürgergenerals" und der "Ausgewanderten" erfahren wir:

"Goethes ganze Antipathie gegen die Revolution, sooft sie sich in dichterischer Weise äußerte, betraf dieses ewige Weh und Ach, daß er die Menschen aus wohlverdienten und wohlerlebten Besitzzuständen vertrieben sah, welche von Intriganten, Neidischen usw. in Anspruch genommen wurden ... dieses selbe Unrecht der Beraubung ... Seine häusliche, friedliche Natur empörte sich gegen eine Verletzung des Besitzrechts, die, von der Willkür ausgeübt, ganze Menschenmassen in Flucht und Elend jagte" p. 151.

Schreiben wir diese Stelle ohne weiteres auf Rechnung "des Menschen", dessen "friedliche, häusliche Natur" sich in "wohlverdienten und wohlerlebten", also, gerade herausgesagt, wohlerworbenen "Besitzzuständen" so behaglich fühlt, daß sie die Sturmflut der Revolution, die diese Zustände sans facon <ohne Umstände> wegschwemmt, für "Willkür", für das Werk von "Intriganten, Neidischen" usw. erklärt.

Daß Herr Grün die bürgerliche Idylle "Hermann und Dorothea", ihre zaghaften und altklugen Kleinstädter, ihre jammernden Bauern, die mit abergläubischer Furcht vor der sanskülottischen Armee und vor den Greueln des Kriegs ausreißen, "mit der reinsten Freude genießt" (p. 165), das wundert uns hiernach nicht. Herr Grün

"nimmt sogar beruhigt vorlieb mit der engherzigen Mission, welche am Ende dem deutschen Volke ... zugeteilt wird:

Nicht dem Deutschen geziemt es, die fürchterliche Bewegung
Fortzuleiten und auch zu schwanken <bei Goethe: wanken> hierhin und dorthin".

Herr Grün tut recht daran, mitleidige Tränen zu vergießen für die Opfer der schweren Zeitläufte und in patriotischer Verzweiflung über solche Schicksalsschläge gegen Himmel zu blicken. Es gibt ohnehin der Verderbten und Entarteten genug, die kein "menschliches" Herz im Busen tragen, die lieber im republikanischen Lager in die Marseillaise einstimmen, ja wohl gar in Dorotheens verlassenem Kämmerlein laszive Witze reißen. Herr Grün ist ein Biedermann, den die Gefühllosigkeit entrüstet, mit welcher z.B. ein <239> Hegel auf die im Sturmschritt der Geschichte zertretenen "stillen Blümlein" herabsieht und über "die Litanei von Privattugenden der Bescheidenheit, Demut, Menschenliebe und Mildtätigkeit" spottet, die "gegen welthistorische Taten und deren Vollbringer" erhoben wird. Herr Grün tut recht daran. Es wird ihm im Himmel wohl belohnet werden.

Schließen wir die "menschlichen" Glossen über die Revolution mit folgendem: "Ein wirklicher Komiker dürfte es sich herausnehmen, den Konvent selbst unendlich lächerlich zu finden", und bis dieser "wirkliche Komiker" sich finde, gibt Herr Grün einstweilen die nötigen Instruktionen dazu, p. 151, 152.

Über Goethes Verhältnis zur Politik nach der Revolution gibt Herr Grün ebenfalls überraschende Aufschlüsse. Nur ein Beispiel. Wir wissen bereits, welchen tiefgefühlten Groll "der Mensch" gegen die Liberalen in seinem Herzen trägt. Der "Dichter des Menschlichen" darf natürlich nicht in die Grube fahren, ohne sich ganz speziell mit ihnen auseinandergesetzt, ohne den Herren Welcker, Itzstein und Konsorten einen ausdrücklichen Denkzettel angehangen zu haben. Diesen Denkzettel spürt unser "selbstzufriedenes Schnüffelwesen" in folgender "Zahmen Xenie" auf (p. 319):

Das ist doch nur der alte Dreck.
Werdet doch gescheiter!
Tretet nicht immer denselben Fleck,
So geht doch weiter!

Goethes Urteil: "Nichts ist widerwärtiger als die Majorität, denn sie besteht aus wenigen kräftigen Vorgängern, aus Schelmen, die sich akkommodieren, aus Schwachen, die sich assimilieren, und der Masse, die nachtrollt, ohne nur im mindesten zu wissen, was sie will" - dies echte Spießbürgerurteil, dessen Unwissenheit und Kurzsichtigkeit nur auf dem beschränkten Terrain eines deutschen Sedezstaats möglich ist, gilt Herrn Grün für "die Kritik des späteren" (d.h. modernen) "Gesetzesstaats". Wie wichtig es sei, erfahre man "z.B. in jeder beliebigen Deputiertenkammer" (p. 268). Hiernach sorge der "Bauch" der französischen Kammer nur aus Unwissenheit so vortrefflich für sich und seinesgleichen. Ein paar Seiten weiter, p. 271, ist dem Herrn Grün "die Julirevolution" "fatal", und schon p. 34 wird der Zollverein scharf getadelt, weil er "dem Nackten, Frierenden die Lappen zur Bedeckung seiner Blöße noch verteuert, um die Stützen des Throns (!!), die freisinnigen Geldherren" (die bekanntlich im ganzen Zollverein "dem Thron" opponieren) "etwas wurmfester zu machen". Die "Nackten" und "Frierenden" werden bekanntlich in Deutschland überall von den Spieß- <240> bürgern vorgeschoben, wo es gilt, die Schutzzölle oder irgendeine andre progressive Bourgeoismaßregel zu bekämpfen" und "der Mensch" schließt sich ihnen an.

Welche Aufschlüsse gibt uns nun Goethes Kritik der Gesellschaft und des Staats durch Herrn Grün über "das Wesen des Menschen"?

Zuerst besitzt "der Mensch" nach p. 264 einen ganz entschiedenen Respekt vor den "gebildeten Ständen" im allgemeinen und eine geziemende Deferenz gegen einen hohen Adel im besondern. Dann aber zeichnet er sich durch eine gewaltige Furcht vor jeder großen Massenbewegung, vor aller energischen gesellschaftlichen Aktion aus, bei deren Herannahen er sich entweder schüchtern in seinen Ofenwinkel verkriecht oder mit Sack und Pack eiligst davonläuft. Solange sie dauert, ist die Bewegung "eine bittere Erfahrung" für ihn, kaum ist sie vorbei, so pflanzt er sich breit aufs Proszenium und teilt mit der Hand des Herkules Ohrfeigen aus, die ihm erst jetzt recht behaglich zu klatschen scheinen, und findet die ganze Geschichte "unendlich lächerlich". Dabei hängt er mit ganzer Seele an "wohlverdienten und wohlerlebten Besitzzuständen"; im übrigen besitzt er eine sehr "häusliche und friedliche Natur", ist genügsam und bescheiden und wünscht, in seinen kleinen, stillen Genüssen durch keine Stürme gestört zu werden. "Der Mensch weilt gern im Beschränkten" (p. 191, lautet so der erste Satz des "zweiten Teils"); er beneidet niemanden und dankt seinem Schöpfer, wenn man ihn in Ruhe läßt. Kurz, "der Mensch", von dem wir schon sahen, daß er ein geborner Deutscher ist, fängt allmählich an, einem deutschen Kleinbürger aufs Haar zu gleichen.

In der Tat, worauf reduziert sich Goethes durch Herrn Grün vermittelte Kritik der Gesellschaft? Was findet "der Mensch" an der Gesellschaft auszusetzen? Erstens, daß sie seinen Illusionen nicht entspricht. Aber diese Illusionen sind gerade die Illusionen des ideologisierenden, besonders des jugendlichen Spießbürgers - und wenn die spießbürgerliche Wirklichkeit diesen Illusionen nicht entspricht, so kommt das nur daher, weil sie Illusionen sind. Sie entsprechen dafür um so vollständiger der spießbürgerlichen Wirklichkeit. Sie unterscheiden sich von ihr nur, wie sich überhaupt der ideologisierende Ausdruck eines Zustandes von diesem Zustande unterscheidet, und von ihrer Realisierung kann daher weiter keine Rede sein. Ein schlagendes Exempel hierfür liefern Herrn Grüns Glossen zu "Werther".

Zweitens richtet sich die Polemik "des Menschen" gegen alles, was das deutsche Spießbürgerregime bedroht. Seine ganze Polemik gegen die Revolution ist die eines Spießbürgers. Sein Haß gegen die Liberalen, die Julirevolution, die Schutzzölle spricht sich aufs unverkennbarste als der Haß des <241> gedrückten, stabilen Kleinbürgers gegen den unabhängigen, progressiven Bourgeois aus. Geben wir hierfür noch zwei Beispiele.

Die Blüte der Kleinbürgerei war bekanntlich das Zunftwesen. Pag. 40 sagt Herr Grün, im Sinne Goethes, also "des Menschen", sprechend: "Im Mittelalter verband die Korporation den starken Mann schützend mit andern Starken. Die Zunftbürger jener Zeit sind "starke Männer" vor "dem Menschen".

Aber das Zunftregime war zu Goethes Zeit bereits im Verfall, die Konkurrenz brach von allen Seiten herein. Goethe ergießt sich als echter Spießbürger in einer Stelle seiner Memoiren, die Herr Grün p. 88 zitiert, in herzzerreißenden Klagen über die anfangende Verfaulung der Kleinbürgerei, über den Ruin wohlhabender Familien, über den damit verbundenen Verfall des Familienlebens, Lockerung der häuslichen Bande und sonstigen Bürgerjammer, der in zivilisierten Ländern mit verdienter Verachtung behandelt wird. Herr Grün, der in dieser Stelle eine famose Kritik der modernen Gesellschaft wittert, kann seine Freude so wenig mäßigen, daß er ihren ganzen "menschlichen Inhalt" mit Sperrschrift drucken läßt.

Gehen wir jetzt zum positiven "menschlichen Inhalt" in Goethe über. Wir können jetzt rascher gehen, da wir "dem Menschen" einmal auf der Fährte sind.

Berichten wir vor allen Dingen die erfreuliche Wahrnehmung, daß "Wilhelm Meister das elterliche Haus desertiert" und im "Egmont" "die Brüsseler Bürger auf Privilegien und Freiheiten bestehen", aus keinem andern Grunde, als um "Menschen zu werden" p. XVII.

Herr Grün ertappte schon einmal den alten Goethe auf Proudhonschen Wegen. Er hat dies Vergnügen p. 320 noch einmal:

"Was er wollte, was wir alle wollen, unsre Persönlichkeit retten, die Anarchie im wahren Sinne des Worts, darüber spricht Goethe also:

Warum mir aber in neuster Welt
Anarchie gar so wohl gefällt?
Ein jeder lebt nach seinem Sinn,
Das ist nun also auch mein Gewinn" usw.

Herr Grün ist überselig, die echt "menschliche" gesellschaftliche Anarchie, die von Proudhon zuerst verkündigt und von den deutschen wahren Sozialisten durch Akklamation adoptiert worden ist, bei Goethe wiederzufinden. Diesmal versieht er sich indes. Goethe spricht von der schon existierenden "Anarchie in neuster Welt", die sein Gewinn schon "ist", und wonach jeder nach seinem Sinn lebt, d.h. von der durch die Auflösung des <242> Feudal- und Zunftwesens, durch das Emporkommen der Bourgeoisie, die Verbannung des Patriarchalismus aus dem gesellschaftlichen Leben der gebildeten Klassen herbeigeführten Unabhängigkeit im geselligen Verkehr. Von des Herrn Grün beliebter zukünftiger Anarchie im höhern Sinne kann also schon aus grammatischen Gründen keine Rede sein. Goethe spricht hier überhaupt nicht von dem, "was er wollte", sondern von dem, was er vorfand.

Doch so ein kleines Versehen darf nicht stören. Dafür haben wir ja das Gedicht: "Eigentum".

Ich weiß, daß mir nichts angehört
Als der Gedanke, der ungestört
Aus meiner Seele will fließen,
Und jeder günstige Augenblick,
Den mich ein liebendes Geschick
Von Grund aus läßt genießen.

Wenn es nicht klar ist, daß in diesem Gedicht "das bisherige Eigentum in Rauch aufgeht" (p. 320), so steht Herrn Grün der Verstand, still.

["Deutsche-Brüsseler-Zeitung" Nr. 98 vom 9. Dezember 1847]

Doch überlassen wir diese kleinen exegetischen Nebenbelustigungen des Herrn Grün ihrem Schicksal. Ihre Zahl ist ohnehin Legion, und die eine führt immer zu noch überraschenderen als die andere. Sehen wir uns lieber wieder nach "dem Menschen" um.

"Der Mensch weilt gern im Beschränkten", hörten wir. Der Spießbürger tut desgleichen.

"Goethes Erstlinge waren rein sozialer" (d.h. menschlicher) "Natur ... Goethe hielt sich ans Allernächste, Kleinste, Häuslichste" p. 88.

Das erste, was wir Positives am Menschen entdecken, ist die Freude am "kleinsten, häuslichen" Stilleben des Kleinbürgers.

"Wenn wir einen Platz in der Welt finden", sagt Goethe von Herrn Grün resümiert, "da mit unsern Besitztümern zu ruhen, ein Feld, uns zu nähren, ein Haus, uns zu decken, haben wir da nicht ein Vaterland?"

Und, ruft Herr Grün aus,

"wie ist uns heute das Wort aus der Seele geschrieben?" p. 32.

"Der Mensch" trägt wesentlich eine redingote à la propriétaire <einen gehrock des Wohlhabenden> und gibt sich auch dadurch als Vollblut-Epicier <Vollblut-Spießbürger> zu erkennen.

Der deutsche Bürger ist höchstens momentan, in seiner Jugend Frei- <243> heitsschwärmer, wie jedermann weiß. "Der Mensch" hat dieselbe Eigenschaft. Herr Grün erwähnt mit Wohlgefallen, wie Goethe in seinen späteren Jahren den noch im "Götz", diesem "Produkt eines freien und ungezogenen Knaben", spukenden "Freiheitsdrang" "verdammt", und zitiert sogar den feigen Widerruf in extenso <ausführlich> p. 43. Was Herr Grün sich unter Freiheit vorstellt, mag man daraus abnehmen, daß er ebendaselbst die Freiheit der Französischen Revolution mit der fryen Schwyzer zur Zeit von Goethes Schweizerreise, also die moderne konstitutionelle und demokratische Freiheit mit der Patrizier- und Zunftherrschaft mittelalterlicher Reichsstädte und vollends mit der urgermanischen Roheit viehzüchtender Alpenstämme identifiziert. Die Montagnards des Berner Oberlandes unterscheiden sich ja nicht einmal dem Namen nach von den Montagnards des Nationalkonvents! <Wortspiel:" montagnards" - wörtlich "Bergbewohner" so nannten sich such die Jakobiner, die Vertreter der Bergpartei im Konvent während der Französischen Revolution>

Der ehrsame Bürger ist ein großer Feind aller Frivolität und Religionsspötterei: "Der Mensch" desgleichen. Wenn Goethe sich in dieser Beziehung an diversen Stellen echt bürgerlich aussprach, so gehört dies Herrn Grün auch zum "menschlichen Inhalt in Goethe". Und damit man es recht glauben möge, sammelt Herr Grün nicht nur diese Goldkörner, sondern setzt p. 62 noch gar manches Beherzigenswerte von seinem Eignen hinzu, daß die "Religionsspötter ... hohle Töpfe und Tröpfe" seien usw. Was seinem Herzen als "Menschen" und Bürger alle Ehre macht.

Der Bürger kann nicht ohne einen "lieben König", einen teuren Landesvater leben. "Der Mensch" auch nicht. Daher hat Goethe p. 129 an Karl August einen "vortrefflichen Fürsten". Der wackre Herr Grün, der Anno 1846 noch für "vortreffliche Fürsten" schwärmt!

Den Bürger interessiert eine Begebenheit insofern, als sie direkt auf seine Privatverhältnisse einwirkt.

"Selbst die Begebenheiten des Tages werden Goethe zu fremden Objekten, die ihn in der bürgerlichen Behäbigkeit entweder stören oder fördern, die ihm ein ästhetisches oder menschliches Interesse abgewinnen können, nie aber ein politisches" p. 20.

Herr Grün "gewinnt hiernach einer Sache ein menschliches Interesse ab", wenn er merkt, daß sie ihn "in der bürgerlichen Behäbigkeit entweder stört oder fördert". Herr Grün gesteht hier möglichst geradeheraus, daß die bürgerliche Behäbigkeit die Hauptsache für "den Menschen" ist.

"Faust" und "Wilhelm Meister" geben Herrn Grün zu besondern Kapiteln Anlaß. Nehmen wir zuerst den "Faust".

<244> Pag. 116 erfahren wir:

"Dadurch, daß Goethe dem Geheimnis der Pflanzen-Organisation auf die Spur kam", wird er "erst in den Stand gesetzt, seinen humanistischen Menschen" (gibt es denn kein Mittel, dem "menschlichen" Menschen aus dem Wege zu gehen), "den Faust, fertig zu gestalten. Denn Faust wird ebensowohl ... als auch durch die Naturwissenschaft auf den Gipfel seiner eigenen Natur (!) geführt."

Wir haben unsre Exempel davon gehabt, wie auch "der humanistische Mensch" Herr Grün "durch die Naturwissenschaft auf den Gipfel seiner eigenen Natur geführt wird". Man sieht, wie dies in der Rasse liegt.

Wir hören dann p. 231 ,daß das "Tiergeripp' und Totenbein" in der ersten Szene "die Abstraktion unsres ganzen Lebens" bedeutet - überhaupt verfährt Herr Grün mit dem "Faust" geradeso, als ob er die Offenbarung Sankt Johannis' des Theologen vor sich hätte. Der Makrokosmus bedeutet "die Hegelsche Philosophie", die damals, als Goethe diese Szene schrieb (1806), zufällig nur noch im Kopfe Hegels und höchstens im Manuskripte der "Phänomenologie" existierte, das Hegel zu derselben Zeit ausarbeitete. Was geht den "menschlichen Inhalt" die Zeitrechnung an?

Die Schilderung des heruntergekommenen Heiligen Römischen Reichs im zweiten Teil des "Faust" versteht Herr Grün p. 240 ohne weiteres für eine Schilderung der Monarchie Ludwigs XIV., "womit", fügt er hinzu, "wir von selbst die Konstitution und die Republik haben!" "Der Mensch" "hat" natürlich alles "von selbst", was andre Leute sich erst mit Mühe und Arbeit herstellen müssen.

Pag. 246 vertraut uns Herr Grün, daß der zweite Teil des "Faust" nach seiner naturwissenschaftlichen Seite hin "der moderne Kanon geworden, wie Dantes 'Göttliche Komödie' der Kanon des Mittelalters war". Zur Nachahmung für die Naturforscher, die bisher hinter dem zweiten Teil des "Faust" sehr wenig, und für die Historiker, die hinter dem ghibellinischen Parteigedicht des Florentiners ganz etwas andres als einen "Kanon des Mittelalters" gesucht hatten! Es scheint, als ob Herr Grün die Geschichte mit ähnlichen Augen ansieht, wie Goethe nach p. 49 seine eigne Vergangenheit: "In Italien überschaute Goethe seine Vergangenheit aus den Augen des belvederischen Apoll", welche Augen pour comble de malheur <um das Unglück voll zu machen> nicht einmal Augäpfel haben.

Wilhelm Meister ist "Kommunist", d.h. "in der Theorie, auf dem Boden der ästhetischen Anschauung" (!!) p. 254.

<245> Er hat sein' Sach' auf nichts gestellt,
Und sein gehört die ganze Welt p. 257.

Natürlich, er hat Geld genug, und die Welt gehört ihm, wie sie jedem Bourgeois gehört, ohne daß er sich die Mühe zu geben braucht, "Kommunist auf dem Boden der ästhetischen Anschauung" zu werden. - Unter den Auspizien des Nichts, worauf Wilhelm Meister sein' Sach' gestellt hat und welches, wie p. 256 zu ersehen, ein gar weitläuftiges und inhaltsschweres, "Nichts" ist, wird auch der Katzenjammer abgeschafft. Herr Grün "trinkt alle Neigen aus, ohne Nachwehen, ohne Kopfschmerz". Desto besser für "den Menschen", der nun ungestraft dem stillen Trunke huldigen darf. Für die Zeit, wo dieses alles erfüllet wird, entdeckt Herr Grün inzwischen schon das Kommerslied des "wahren Menschen" in dem: "Ich hab mein' Sach' auf nichts gestellt" - "dieses Lied wird man singen, wenn die Menschheit sich ihrer würdig eingerichtet hat"; nur hat Herr Grün es auf drei Strophen reduziert und die für die Jugend und "den Menschen" unpassenden Stellen ausgemerzt.

Goethe stellt im "W[ilhelm] M[eister]"

"das Ideal der menschlichen Gesellschaft auf". "Der Mensch ist kein lehrendes, sondern ein lebendes, handelndes und wirkendes Wesen." "Wilhelm Meister ist dieser Mensch." "Das Wesen des Menschen ist die Tätigkeit"

(ein Wesen, das er mit jedem Floh teilt) p. 257, 258, 261.

Zum Schluß die "Wahlverwandtschaften". Diesen ohnehin moralischen Roman moralisiert Herr Grün noch mehr, so daß es fast scheint, als ob es ihm darum zu tun wäre, die "Wahlverwandtschaften" als passendes Schulbuch für höhere Töchterschulen zu empfehlen. Herr Grün erklärt, Goethe habe

"unterschieden zwischen Liebe und Ehe, und zwar so, daß ihm die Liebe das Suchen der Ehe war und die Ehe die gefundene, vollendete Liebe", p. 286.

Wonach also die Liebe das Suchen "der gefundenen Liebe" ist. Dies wird weiter dahin erläutert, daß nach "der Freiheit der Jugendliebe" die Ehe als "Schlußverhältnis der Liebe" einzutreten hat (p. 287). Gerade wie in zivilisierten Ländern ein weiser Familienvater seinen Sohn erst einige Jahre austoben läßt und ihm dann als "Schlußverhältnis" eine passende Ehefrau aussucht. Während man aber in zivilisierten Ländern längst darüber hinweg ist, in diesem "Schlußverhältnis" etwas moralisch Bindendes zu sehen, während dort im Gegenteil der Mann sich Maitressen hält und die Frau ihm dafür Hörner aufsetzt, rettet den Herrn Grün wieder der Spießbürger:

<246> "Hat der Mensch wirklich freie Wahl gehabt, ... gründen zwei Menschen ihren Bund auf ihren beiderseitigen vernünftigen Willen" (von Leidenschaft, Fleisch und Blut ist dabei keine Rede), "so hört die Weltansicht eines Libertin <Lüstlings> dazu, die Störung dieses Verhältnisses als eine Kleinigkeit, als nicht so leid- und unglücksvoll zu betrachten, wie Goethe es getan hat. Von Libertinage <Ausschweifung> aber kann bei Goethe keine Rede sein" p. 288.

Diese Stelle qualifiziert die schüchterne Polemik gegen die Moral, die sich Herr Grün von Zeit zu Zeit erlaubt. Der Spießbürger ist zu der Einsicht gekommen, daß man den jungen Leuten um so eher etwas durchgehen lassen muß, als gerade die liederlichsten Jungen nachher die besten Ehemänner werden. Sollten sie sich aber nach der Hochzeit noch etwas zuschulden lassen kommen - dann keine Gnade, keine Barmherzigkeit für sie; denn "es gehört die Weltansicht eines Libertins dazu".

"Weltansicht eines Libertins!" "Libertinage!" Man sieht "den Menschen" so leibhaftig als möglich vor Augen, wie er die Hand aufs Herz legt und mit freudigem Stolze ausruft: Nein! ich bin rein von aller Frivolität, von "Kammern und Unzucht", ich habe nie das Glück einer zufriedenen Ehe mutwillig gestört, ich hab' immer Treu und Redlichkeit geübt und mich nie gelüsten lassen nach meines Nächsten Weib - ich bin kein "Libertin"!

"Der Mensch" hat recht. Er ist nicht gemacht für galante Abenteuer mit schönen Frauenzimmern, er hat nie auf Verführung und Ehebruch spekuliert, er ist kein "Libertin", sondern ein Mann von Gewissen, ein ehr- und tugendsamer deutscher Spießbürger. Er ist

... l'épicer pacifique,
Fumant sa pipe au fond de sa boutique;
Il craint sa femme et son ton arrogant;
De la maison il lui laisse l'empire,
Au moindre signe obéit sans mot dire
Et vit ainsi cocu, battu, content.

<... der friedliche Krämer,
der seine Pfeife hinten im Laden raucht;
er fürchtet seine Frau und ihren arroganten Ton;
die Herrschaft über das Haus überläßt er ihr,
auf den geringsten Wink gehorcht er stumm.
So lebt er denn gehörnt, geschlagen und zufrieden.>

(Parny, "Goddam" < englischer Fluch; in Frankreich Spottname für Engländer >, chant III.)

<247> Es bleibt uns nur noch eine Bemerkung zu machen. Wenn wir in den vorstehenden Zeilen Goethe nur nach einer Seite hin betrachtet haben, so ist das lediglich die Schuld des Herrn Grün. Er stellt Goethe nach seiner kolossalen Seite hin gar nicht dar. Über alle Sachen, in denen Goethe wirklich groß und genial war, schlüpft er entweder eilig hinweg, wie über die "Römischen Elegien" des "Libertins" Goethe, oder er gießt einen breiten Strom von Trivialitäten über sie aus, der nur beweist, daß er mit ihnen nichts anzufangen weiß. Dagegen sucht er mit einem bei ihm sonst nicht häufigen Fleiß alle Philistereien, alle Spießbürgerlichkeiten, alle Kleinigkeiten auf, stellt sie zusammen, outriert sie echt literatenmäßig und freut sich jedesmal, wenn er seine eigene Borniertheit auf die Autorität des, oft noch entstellten, Goethe stützen kann.

Nicht das Gebelfer Menzels, nicht die beschränkte Polemik Börnes war die Rache der Geschichte dafür, daß Goethe sie jedesmal verleugnete, wenn sie ihm Aug in Auge gegenüber trat. Nein,

So wie Titania in Feen- und Zauberland
Klaus Zetteln in den Armen fand,

so hat Goethe eines Morgens den Herrn Grün in seinen Armen gefunden. Die Apologie des Herrn Grün, der warme Dank, den er Goethen für jedes philiströse Wort stammelt, das ist die bitterste Rache, die die beleidigte Geschichte über den größten deutschen Dichter verhängen konnte.

Herr Grün aber "kann mit dem Bewußtsein die Augen schließen, daß er der Bestimmung, Mensch zu sein, keine Schande gemacht hat" (p. 248).

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