MLWerke Marx/Engels - Werke Artikel und Korrespondenzen 1892

Seitenzahlen verweisen auf:    Karl Marx/Friedrich Engels - Werke. (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 22, 3. Auflage 1972, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1963, Berlin/DDR. S. 334-336.
Korrektur:    1
Erstellt:    06.04.1999

Friedrich Engels

Die amerikanische Präsidentenwahl

Geschrieben zwischen 9. und 11. November 1892.


["Vorwärts" Nr. 269 vom 16. November 1892]

|334| Die alte Welt stand unter der Herrschaft des Fatums, der heimarmene, des unabwendbaren geheimnisvollen Schicksals. So bezeichneten Griechen und Römer jene unfaßbare Allgewalt, die alles menschliche Wollen und Streben zunichte machte, alle menschliche Tat zu ganz anderen Resultaten als den beabsichtigten führen ließ, jene unwiderstehliche Gewalt, die man seitdem Vorsehung, Gnadenwahl etc. genannt hat. Diese mysteriöse Gewalt hat allmählich eine faßbarere Form angenommen, und das verdanken wir der Herrschaft der Bourgeoisie und des Kapitals, der ersten Klassenherrschaft, die sich über ihre eigenen Daseinsursachen und Bedingungen klarzuwerden suchte und damit auch die Tür öffnete zur Erkenntnis der Unabwendbarkeit ihres eigenen bevorstehenden Unterganges. Das Schicksal, die Vorsehung - das wissen wir jetzt - sind die wirtschaftlichen Bedingungen, unter denen produziert und ausgetauscht wird, und diese fassen sich heute zusammen im Weltmarkt.

Und darin liegt die Bedeutung der amerikanischen Präsidentenwahl, daß sie ein Weltmarktsereignis ersten Ranges ist.

Vor vier Jahren ließ ich in Boston englisch und in Stuttgart deutsch einen Aufsatz über Schutzzoll und Freihandel drucken. Ich wies darin nach, daß das industrielle Monopol Englands mit der ökonomischen Entwickelung der übrigen Kulturländer unverträglich sei; daß der seit dem Bürgerkrieg in Amerika eingeführte Schutzzoll den Willen der Amerikaner bezeuge, das Joch dieses Monopols abzuschütteln; daß dank den ungeheuren natürlichen Hilfsquellen und der intellektuellen und moralischen Begabung der amerikanischen Rasse dies Ziel jetzt schon erreicht und der Zollschutz |335| in Amerika nicht minder als in Deutschland eine Fessel der Industrie geworden sei. Und dann sagte ich: Wenn Amerika Freihandel einführt, so schlägt es in zehn Jahren England auf dem Weltmarkt.

Nun gut. Die Präsidentenwahl vom 8. November 1892 hat die Bahn zum Freihandel eröffnet. Der Zollschutz in der MacKinleyschen Form ist zur unerträglichen Fessel geworden; die widersinnige Verteuerung aller eingeführten Rohstoffe und Lebensmittel, die auch auf den Preis vieler inländischen zurückwirkte, hat der amerikanischen Industrie den Weltmarkt großenteils verschlossen, während der heimische Markt bereits an Überfüllung durch amerikanische Industrieprodukte litt. Und in der Tat, in den letzten Jahren diente der Schutzzoll nur noch dazu, die kleineren Produzenten zu ruinieren durch den Druck der großen, zu Kartellen und Trusts vereinigten Großproduzenten und diesen letzteren, also dem organisierten Monopol, den Markt und damit die konsumierende Nation zur Ausbeutung zu überliefern. Dieser durch den Schutzzoll verursachten permanenten inneren Industriekrisis kann Amerika nur entgehen, indem es sich den Weltmarkt öffnet, und dazu muß es sich vom Schutzzoll, wenigstens in seiner jetzigen widersinnigen Form, emanzipieren. Daß es dies zu tun entschlossen, zeigt der in der Wahl zutage tretende totale Umschwung der öffentlichen Meinung. Einmal auf dem Weltmarkt etabliert, wird Amerika - wie England und durch England - unaufhaltsam auf der Bahn des Freihandels weitergetrieben.

Und dann werden wir einen Industriekampf erleben wie keinen bisher. Auf allen Märkten werden englische Produkte, namentlich Textil- und Eisenwaren, mit amerikanischen zu kämpfen haben und schließlich unterliegen. Schon jetzt schlagen amerikanische Baumwoll- und Leinengewebe die englischen aus dem Felde. Wollt ihr wissen, wer das Wunder bewirkt hat, die Baumwollarbeiter von Lancashire in einem kurzen Jahr aus wütenden Gegnern zu begeisterten Anhängern des gesetzlichen Achtstundentages zu machen? Schlagt die "Neue Zeit" nach, Nr. 2 vom Oktober d.J., S. 56, wo ihr sehen könnt, wie die amerikanischen Baumwoll- und Leinenzeuge die englischen Schritt für Schritt aus dem heimischen Markt verdrängen, wie die englische Einfuhr seit 1881 nie mehr die amerikanische erreicht hat und 1891 nur noch ungefähr ein Drittel der letzteren betrug. Und China ist, neben Indien, weitaus der Hauptmarkt für diese Gewebe.

Das ist wieder ein Beweis, wie mit der Wende des Jahrhunderts alle Verhältnisse sich verschieben. Legt den Schwerpunkt der Textil- und Eisenindustrie von England nach Amerika, und England wird entweder ein zweites Holland, ein Land, dessen Bourgeoisie von vergangener Größe zehrt |336| und dessen Proletariat eintrocknet, oder - es reorganisiert sich sozialistisch. Das erstere ist nicht möglich, das läßt sich das englische Proletariat nicht gefallen, dazu ist es viel zu zahlreich und zu entwickelt. Bleibt also nur das zweite. Der Sturz des Schutzzolls in Amerika bedeutet den schließlichen Sieg des Sozialismus in England.

Und Deutschland? Wird es, das schon 1878 sich eine Stellung auf dem Weltmarkt erobert, die es dank seiner törichten Schutzzollpolitik jetzt Schritt um Schritt verliert - wird es dabei beharren, sich durch Besteuerung von Rohstoffen und Lebensmitteln den Weg zum Weltmarkt auch fernerhin halsstarrig selbst zu verschließen, auch gegenüber der amerikanischen Konkurrenz, die noch ganz anders ins Zeug gehen wird als bisher schon die englische? Wird die deutsche Bourgeoisie den Verstand und den Mut haben, dem von Amerika gegebenen Beispiel zu folgen, oder wird sie, schlapp wie bisher, abwarten, bis die übermächtig gewordene amerikanische Industrie das Schutzzollkartell zwischen Junker und Großfabrikant gewaltsam sprengt? Und wird Regierung und Bourgeoisie endlich einsehen, wie prachtvoll ungeschickt der Moment gewählt ist, gerade jetzt die ökonomischen Kräfte Deutschlands durch neue, unerschwingliche Militärlasten zu erdrücken, wo es sich darum handelt, den industriellen Wettbewerb aufzunehmen mit der jugendkräftigsten Nation der Welt, die in wenig Jahren ihre kolossale Kriegsschuld spielend abgezahlt hat und deren Regierung nicht weiß, was sie mit den Steuererträgen anfangen soll?

Die deutsche Bourgeoisie hat - vielleicht zum letzten Male - die Gelegenheit, endlich eine große Tat zu tun. Hundert gegen eins, sie ist zu beschränkt und zu feig, sie zu etwas anderem zu benutzen als zum Beweis, daß sie endgültig ausgespielt hat.


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