MLWerke Marx/Engels - Werke Artikel und Korrespondenzen 1890

Seitenzahlen verweisen auf:    Karl Marx/Friedrich Engels - Werke. (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 22, 3. Auflage 1972, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1963, Berlin/DDR. S. 80-85.
Korrektur:    1
Erstellt:    06.04.1999

Friedrich Engels

Antwort an Herrn Paul Ernst


["Berliner Volksblatt" Nr. 232 vom 5. Oktober 1890]

|80| Ein Freund schickt mir die Magdeburger "Volksstimme" vom 16. September. Ich finde darin in einem Artikel, gezeichnet Paul Ernst, folgende Stelle:

"Und wenn Engels jetzt unsre Opposition als 'Studentenrevolte' bezeichnet, so bitte ich ihn, doch zu zeigen, wo wir andere Anschauungen vertreten haben als er und Marx selbst; und wenn ich unsere parlamentarische Sozialdemokratie als teilweise sehr kleinbürgerlichen Charakters dargestellt habe, so braucht Engels sich nur anzusehen, was er 1887 im Vorwort zu seiner 'Wohnungsfrage' geschrieben hat."

Mein Verkehr mit deutschen Schriftstellern hat mich schon seit Jahren mit gar verwunderlichen Erfahrungen bereichert. Es scheint aber, er soll noch angenehmer werden. Ich soll Herrn Paul Ernst sagen, wo "wir" andere Anschauungen vertreten haben usw. Nun, was die "Wir", die neulich so großmächtig aufgetretene und so kleinmütig abgetretene "Opposition" betrifft, die ich als Literaten- und Studentenrevolte bezeichnet, können wir's kurz machen: so ziemlich in jedem Artikel, den sie vom Stapel gelassen.

Was aber Herrn Ernst selbst betrifft, so brauche ich ihm das gar nicht mehr zu sagen. Ich habe es ihm nämlich schon vor vier Monaten gesagt und muß nun wohl oder übel das Publikum mit dieser meiner "Ernst"lichen Korrespondenz belästigen.

Am 31 .Mai d.J. schrieb mir Herr Ernst aus Görbersdorf, Herr Hermann Bahr werfe ihm in der "Freien Bühne" vor, er wende die Marxsche Methode der Geschichtsauffassung in Beziehung auf die nordische Frauenbewegung unrichtig an, und da möchte ich ihm

"in ein paar Zeilen mitteilen, ob meine Ansicht der von Marx entspricht oder nicht, und mir außerdem den Gebrauch des Briefes gegen Bahr gestatten".

|81| Darauf antwortete ich am 5. Juni, in seinen Streit mit Herrn Bahr könne ich mich nicht mischen. Die "nordische Frauenbewegung" sei mir total unbekannt. Dann fuhr ich fort:

"Was Ihren Versuch angeht, die Sache materialistisch zu behandeln, so muß ich vor allem sagen, daß die materialistische Methode in ihr Gegenteil umschlägt, wenn sie nicht als Leitfaden beim historischen Studium behandelt wird, sondern als fertige Schablone, wonach man sich die historischen Tatsachen zurechtschneidet. Und wenn Herr Bahr Sie auf diesem Holzweg zu ertappen glaubt, so scheint er mir einen kleinen Schatten von Recht für sich zu haben.

Sie fassen ganz Norwegen und alles, was dort geschieht, zusammen unter die eine Kategorie Spießbürgertum, und schieben dann diesem norwegischen Spießbürgertum unbedenklich Ihre Anschauung vom deutschen Spießbürgertum unter. Da stellen sich nun zwei Tatsachen quer in den Weg.

Erstens: als in ganz Europa der Sieg über Napoleon sich als Sieg der Reaktion über die Revolution darstellte und nur in ihrem französischen Vaterland die Revolution noch so viel Angst einflößte, um der rückkehrenden Legitimität eine bürgerlich-liberale Verfassung abzunötigen, da fand Norwegen die Gelegenheit, sich eine Verfassung zu geben, weit demokratischer als irgendeine gleichzeitige in Europa.

Und zweitens hat Norwegen in den letzten 20 Jahren einen literarischen Aufschwung erlebt, wie ihn außer Rußland kein einziges Land gleichzeitig aufweisen kann. Spießbürger oder nicht, die Leute leisten weit mehr als die andern und prägen ihren Stempel auch anderen Literaturen auf, nicht zum mindesten der deutschen.

Diese Tatsachen machen es in meinen Augen nötig, das norwegische 'Spießbürgertum' einigermaßen auf seine Besonderheiten zu untersuchen.

Und da werden Sie wahrscheinlich finden, daß ein sehr wesentlicher Unterschied zutage tritt. In Deutschland ist das Spießbürgertum Frucht einer gescheiterten Revolution, einer unterbrochnen, zurückgedrängten Entwicklung, und hat seinen eigentümlichen, abnorm ausgebildeten Charakter der Feigheit, Borniertheit, Hilflosigkeit und Unfähigkeit zu jeder Initiative erhalten durch den 30jährigen Krieg und die ihm folgende Zeit - wo gerade fast alle anderen großen Völker sich rasch emporschwangen. Dieser Charakter ist ihm geblieben, auch als die historische Bewegung Deutschland wieder ergriff; er war stark genug, sich auch allen andern deutschen Gesellschaftsklassen mehr oder minder als allgemein deutscher Typus aufzudrücken, bis endlich unsere Arbeiterklasse diese engen Schranken durchbrach. Die deutschen Arbeiter sind gerade darin am ärgsten |82| 'vaterlandslos', daß sie die spießbürgerliche deutsche Borniertheit total abgeschüttelt haben.

Das deutsche Spießbürgertum ist also keine normale historische Phase, sondern eine auf die Spitze getriebene Karikatur, ein Stück Degeneration, grade wie der polnische Jude die Karikatur des Juden ist. Der englische, französische etc. Kleinbürger steht keineswegs mit dem deutschen auf gleichem Niveau.

In Norwegen dagegen ist Kleinbauerntum und Kleinbürgertum mit einer geringen Beimischung von Mittelbürgertum - wie es etwa in England und Frankreich im 17. Jahrhundert bestand - seit mehreren Jahrhunderten der Normalzustand der Gesellschaft. Hier ist nicht die Rede von gewaltsamem Zurückwerfen in veraltete Zustände durch eine gescheiterte große Bewegung und einen 30jährigen Krieg. Das Land ist durch Isolierung und Naturbedingungen zurückgeblieben, aber sein Zustand ist vollständig seinen Produktionsbedingungen angemessen und daher normal. Erst ganz neuerdings kommt ein ganz klein wenig große Industrie sporadisch ins Land, aber für den stärksten Hebel der Kapitalkonzentration, die Börse, ist kein Raum. Und dann wirkt konservierend grade die gewaltige Ausdehnung des Seehandels. Denn während überall anderswo der Dampf die Segelschiffe verdrängt, dehnt Norwegen seine Segelschiffahrt enorm aus und hat, wo nicht die größte, sicher die zweitgrößte Segelflotte der Welt, meist im Besitz kleiner und mittlerer Reeder, wie in England sage um 1720, Aber doch ist damit Bewegung in die alte stockende Existenz gekommen, und diese Bewegung drückt sich auch aus im literarischen Aufschwung.

Der norwegische Bauer war nie leibeigen, und das gibt der ganzen Entwicklung, ähnlich wie in Kastilien, einen ganz anderen Hintergrund. Der norwegische Kleinbürger ist der Sohn des freien Bauern und ist unter diesen Umständen ein Mann gegenüber dem verkommenen deutschen Spießer. Und was auch die Fehler z.B. der Ibsenschen Dramen sein mögen, sie spiegeln uns eine zwar kleine und mittelbürgerliche, aber von der deutschen himmelweit verschiedene Welt wider, eine Welt, worin die Leute noch Charakter haben und Initiative und selbständig, wenn auch nach auswärtigen Begriffen oft absonderlich, handeln. So etwas ziehe ich vor, gründlich kennenzulernen, ehe ich aburteile."

Hier habe ich also Herrn Ernst, wenn auch in höflicher Form, aber darum nicht minder klar und bestimmt gesagt, "wo", nämlich in dem mir von ihm selbst eingesandten Artikel der "Freien Bühne". Wenn ich ihm auseinandersetze, daß er die Marxsche Auffassungsweise als reine Schablone gebraucht, wonach er sich die historischen Tatsachen zurechtschneidet, so |83| ist das gerade ein Exempel von dem "starken Mißverständnis" derselben Auffassungsweise, das ich den Herren vorwarf. Und wenn ich ihm dann an seinem eigenen Beispiel, Norwegen, nachweise, daß seine auf Norwegen angewandte Schablone des Spießbürgertums nach deutschem Muster den geschichtlichen Tatsachen ins Gesicht schlägt, so belege ich ihm damit im voraus und an seiner eigenen Person die jenen Herrn ebenfalls vorgeworfene "grobe Unbekanntschaft mit den jedesmal entscheidenden historischen Tatsachen".

Und nun betrachte man sich die zimperliche Sittsamkeit, womit Herr Ernst sich stellt wie die Unschuld vom Lande, die in Berlin auf der Straße vom ersten besten gräflichen Lumpazius behandelt wird, als wär' sie "so eine"! Wie die gekränkte Tugend tritt er vor mich, vier Monate nach obigem Brief; Ich soll ihm sagen, "wo?". Herr Ernst scheint nur zwei literarische Gemütsphasen zu haben. Erst fährt er los mit einer Keckheit und Zuversichtlichkeit, als sei wirklich etwas anderes dahinter als Wind; und wenn dann die Leute sich ihrer Haut wehren, dann hat er nichts gesagt und klagt über schnöde Mißachtung seiner reinen Gefühle. Gekränkte Tugend in seinem Brief an mich, worin er jammert, Herr Bahr habe ihn "ganz unglaublich unverschämt behandelt"! Verletzte Unschuld in seiner Antwort an mich, wo er ganz naiv fragt, "wo?", während er dies seit vier Monaten wissen muß. Verkannte schöne Seele in der Magdeburger "Volksstimme", wo er den alten Bremer, der ihm verdientermaßen auf die Finger geklopft, auch fragt: "wo?"

Und immer fragt der Seufzer: wo?
Immer, wo?

Will Herr Ernst noch weiter wissen, "wo?" - Nun, z.B. in dem Artikel der "Volks-Tribüne" über die "Gefahren des Marxismus", wo er ohne weiteres die verschrobene Behauptung des Metaphysikers Dühring sich aneignet, als mache sich bei Marx die Geschichte ganz automatisch, ohne Zutun der (sie doch machenden) Menschen, und als würden diese Menschen von den ökonomischen Verhältnissen (die doch selbst Menschenwerk sind!) als pure Schachfiguren aus[ge]spielt. Einem Mann, der die Verdrehung der Marxschen Theorie durch einen Gegner wie Dühring mit dieser Theorie selbst zusammenzuwerfen imstande ist, dem möge ein anderer helfen - ich gebe es auf.

Und nun erlasse man mir die Antwort auf jedes weitere "wo?". Herr Ernst ist von einer solchen Fruchtbarkeit, die Artikel gehen ihm mit einer |84| solchen Behendigkeit ab, daß man überall auf sie stößt. Und denkt man, man sei endlich damit zu Ende, so meldet er sich noch als Verfasser von diesem und jenem Anonymen. Da kann unsereiner nicht mit und wird versucht zu wünschen, Herr Ernst möge sich etwas verschreiben lassen. Weiter heißt es:

"Wenn ich unsere parlamentarische Sozialdemokratie als teilweise sehr kleinbürgerlichen Charakters dargestellt habe, so braucht Engels" usw.

Teilweise sehr kleinbürgerlich? In dem Artikel der "Sächs[ischen] Arb[eiter]-Z[ei]t[un]g", der mich zur Erwiderung zwang, heißt es, der kleinbürgerlich-parlamentarische Sozialismus sei jetzt in Deutschland in der Majorität. Und davon, sagte ich, sei mir nichts bekannt. Jetzt will Herr Ernst nur die Behauptung vertreten, die Fraktion sei "teilweise" sehr kleinbürgerlich. Wieder die verkannte schöne Seele, der die böse Welt allerlei Schandtaten andichtet. Wer hat denn je bestritten, daß in der Fraktion nicht nur, sondern auch in der ganzen Partei, die kleinbürgerliche Richtung ebenfalls vertreten ist? Einen rechten und einen linken Flügel hat jede Partei, und daß der rechte Flügel der Sozialdemokratie kleinbürgerlicher Art ist, liegt in der Natur der Sache. Wenn's weiter nichts ist, wozu dann all der Lärm? Mit dieser alten Geschichte rechnen wir seit Jahren, aber von da ist es noch ein gut Stück bis zu einer kleinbürgerlichen Majorität in der Fraktion oder gar der Partei. Wenn diese Gefahr drohen sollte, dann wird man nicht auf die Warnungsrufe dieser sonderbaren getreuen Eckarte warten. Einstweilen hat der frische fröhliche Proletarierkampf gegen das Sozialistengesetz und die rapide ökonomische Entwicklung diesem kleinbürgerlichen Element mehr und mehr Boden, Luft und Licht entzogen, während das proletarische Element sich immer übermächtiger entwickelt.

Eins aber kann ich Herrn Paul Ernst noch zum Schluß verraten: Weit gefährlicher für die Partei als eine kleinbürgerliche Fraktion, die man doch bei der nächsten Wahl in die Rumpelkammer werfen kann, ist eine Clique vorlauter Literaten und Studenten, besonders, wenn diese nicht imstande sind, die einfachsten Dinge mit Augen zu sehen und bei Beurteilung einer ökonomischen oder politischen Sachlage weder das relative Gewicht der vorliegenden Tatsachen noch die Stärke der ins Spiel kommenden Kräfte unbefangen abzuwägen, und die daher der Partei eine total verrückte Taktik aufnötigen wollen, wie sie namentlich die Herren Bruno Wille und Teistler, und in geringerem Maß auch Herr Ernst, ans Licht gebracht haben. Und noch gefährlicher wird diese Clique, wenn sie sich zu einer gegenseitigen |85| Assekuranzgesellschaft zusammentut und alle Mittel der organisierten Reklame in Bewegung setzt, um ihre Mitglieder in die Redaktionssessel der Parteiblätter zu schmuggeln und vermittelst der Parteipresse die Partei zu beherrschen. Vor zwölf Jahren hat uns das Sozialistengesetz von dieser schon damals hereinbrechenden Gefahr gerettet. Jetzt, wo dies Gesetz fällt, ist sie wieder da. Und dies wird auch wohl dem Herrn Paul Ernst klarmachen, weshalb ich mich mit Händen und Füßen dagegen wehre, daß man mich mit den Elementen einer solchen Clique identifiziert.

London, 1. Oktober 1890

Friedrich Engels


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