MLWerke Marx/Engels - Werke Artikel und Korrespondenzen 1890

Seitenzahlen verweisen auf:    Karl Marx/Friedrich Engels - Werke. (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 22, 3. Auflage 1972, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1963, Berlin/DDR. S. 68-70.
Korrektur:    1
Erstellt:    06.04.1999

Friedrich Engels

[Antwort an die Redaktion der "Sächsischen Arbeiter-Zeitung"]


["Der Sozialdemokrat" Nr. 37 vom 13. September 1890]

|68| An die Redaktion des "Sozialdemokrat"

Der Unterzeichnete bittet ergebenst um Abdruck des folgenden Briefs, der gestern an die gegenwärtige Redaktion der "Sächsischen Arbeiter-Zeitung" in Dresden abgegangen ist.

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In ihrem Abschiedswort (Nr. 105 vom 31. Aug. 1890) sagt die ausscheidende Redaktion der "Sächsischen Arbeiter-Zeitung", der kleinbürgerlich-parlamentarische Sozialismus sei in Deutschland in der Majorität, aber Majoritäten würden oft sehr schnell zu Minoritäten:

"... und so hofft die scheidende Redaktion der 'Sächs. Arb.-Ztg.' mit Friedrich Engels, daß, wie der naive Staatssozialismus Lassalles dereinst überwunden wurde, so auch die erfolgssüchtige parlamentarische Richtung in der gegenwärtigen Sozialdemokratie von dem gesunden Sinn der deutschen Arbeiterschaft bald überwunden werden wird."

Die scheidende Redaktion hat mir in obigem eine starke Überraschung bereitet. Vielleicht aber sich selbst auch ... Von einer Majorität des kleinbürgerlich-parlamentarischen Sozialismus innerhalb der deutschen Partei ist mir bis dato nichts bekannt. Und so möge sie immerhin "hoffen", was ihr beliebt und solange sie Lust hat, aber ich hoffe nicht "mit".

Hätte ich noch Zweifel hegen können über den Charakter der neuesten Literaten- und Studentenrevolte in unsrer deutschen Partei, er müßte schwinden vor der pyramidalen Unverschämtheit dieses Versuchs, mich für die Sprünge jener Herren solidarisch zu machen.

|69| Meine ganze Verbindung mit der ausgeschiedenen Redaktion bestand darin, daß sie mir seit einigen Wochen ihr Blatt unaufgefordert zuschickte, ich jedoch nicht für nötig hielt, ihr zu sagen, was ich darin fand. Jetzt muß ich es ihr wohl sagen, und das öffentlich.

Theoretisch fand ich darin - und das gilt im ganzen und großen auch von der übrigen Presse der "Opposition" - einen krampfhaft verzerrten "Marxismus", bezeichnet einerseits durch starkes Mißverständnis der Anschauungsweise, die man zu vertreten behauptete, andrerseits durch grobe Unbekanntschaft mit den jedesmal entscheidenden historischen Tatsachen, dritterseits durch das den deutschen Literaten so vorteilhaft auszeichnende Bewußtsein der eignen unermeßlichen Überlegenheit. Marx sah auch diese Jüngerschaft voraus, als er von dem zu Ende der siebziger Jahre unter gewissen Franzosen grassierenden "Marxismus" sagte: "tout ce que je sais, c'est que moi, je ne suis pas marxiste" - "ich weiß nur dies, daß ich kein 'Marxist' bin".

Praktisch fand ich darin ein rücksichtsloses Hinwegsetzen über alle tatsächlichen Bedingungen des Parteikampfs, ein todesverachtendes "Nehmen von Hindernissen" in der Phantasie, das zwar dem ungeknickten Jugendmut der Verfasser alle Ehre macht, das aber bei seiner Übersetzung aus der Vorstellung in die Wirklichkeit imstande wäre, auch die stärkste, nach Millionen zählende Partei zu begraben unter dem selbstverdienten Gelächter der ganzen feindlichen Welt. Und daß auch eine kleine Sekte sich solche Gymnasiastenpolitik nicht ungestraft erlauben darf, darüber haben die Herren ja auch seitdem eigentümliche Erfahrungen gemacht.

Alle ihre seit Monaten aufgespeicherten Beschwerden gegen die Fraktion oder den Parteivorstand laufen im besten Fall auf einfache Lappalien hinaus. Aber wenn es den Herren beliebt, Mücken zu seigen, so ist das doch absolut kein Grund für die deutschen Arbeiter, zum Dank dafür Kamele zu verschlucken.

Nun, sie haben geerntet, was sie gesäet hatten. Abgesehn von allen inhaltlichen Fragen, war die ganze Kampagne mit einer solchen Kindlichkeit, mit solchen naiven Selbsttäuschungen über die eigne Wichtigkeit und über den Stand der Dinge und der Ansichten innerhalb der Partei eingeleitet, daß der Ausgang von vornherein feststand. Mögen die Herren die Lektion zu Herzen nehmen. Manche von ihnen haben Sachen geschrieben, die zu allerlei Hoffnungen berechtigten. Die meisten unter ihnen könnten etwas leisten, wären sie weniger von der Vollkommenheit ihrer augenblicklich erreichten Entwicklungsstufe überzeugt. Mögen sie einsehn, daß ihre - ohnehin einer gründlichen, kritischen Selbstrevision bedürftige - |70| "akademische Bildung" ihnen kein Offizierspatent mit Anspruch auf entsprechende Anstellung in der Partei ausstellt; daß in unsrer Partei jeder von der Pike auf dienen muß; daß Vertrauensposten in der Partei erobert werden nicht durch bloßes literarisches Talent und theoretische Kenntnisse, selbst wenn beide zweifellos vorhanden, sondern daß dazu auch Vertrautheit mit den Bedingungen des Parteikampfs und Eingewöhnung in seine Formen, erprobte persönliche Zuverlässigkeit und Charaktertüchtigkeit und schließlich willige Einordnung in die Reihen der Kämpfenden gehört - kurz, daß sie, die "akademisch Gebildeten", alles in allem viel mehr von den Arbeitern zu lernen haben als diese von ihnen.

London, 7. September 1890

Friedrich Engels