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Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/ Friedrich Engels - Werke. (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 20. Berlin/DDR. 1962. »Dialektik der Natur«, S. 328-3336.
1. Korrektur
Erstellt am 30.00.1999

Friedrich Engels - Dialektik der Natur

Alte Vorrede zum »[Anti-]Dühring«
Über die Dialektik


|328| Die nachfolgende Arbeit ist keineswegs aus »innerem Antrieb« entstanden. Im Gegenteil wird mir mein Freund Liebknecht bezeugen, wieviel Mühe es ihm gekostet hat, bis er mich bewog, die neueste sozialistische Theorie des Herrn Dühring kritisch zu beleuchten. Einmal dazu entschlossen, hatte ich keine andre Wahl, als diese Theorie, die sich selbst als letzte praktische Frucht eines neuen philosophischen Systems vorführt, im Zusammenhang dieses Systems und damit das System selbst zu untersuchen. Ich war also genötigt, Herrn Dühring auf jenes umfassende Gebiet zu folgen, wo er von allen möglichen Dingen spricht und noch von einigen andern. So entstand eine Reihe von Artikeln, die seit Anfang 1877 im Leipziger »Vorwärts« erschien und hier im Zusammenhang vorliegt.

Wenn die Kritik eines trotz aller Selbstanpreisung so höchst unbedeutenden Systems in dieser durch die Sache gebotenen Ausführlichkeit auftritt, so mögen zwei Umstände dies entschuldigen. Einerseits gab mir diese Kritik Gelegenheit, auf verschiedenen Gebieten meine Auffassung von Streitpunkten positiv zu entwickeln, die heute von allgemeinerem wissenschaftlichem oder praktischem Interesse sind. Und so wenig es mir einfallen kann, dem System des Herrn Dühring ein andres System entgegenzusetzen, so wird der Leser hoffentlich auch in den von mir aufgestellten Ansichten, bei aller Verschiedenheit des behandelten Stoffs, den inneren Zusammenhang nicht vermissen.

Andrerseits aber ist der »systemschaffende« Herr Dühring keine vereinzelte Erscheinung in der deutschen Gegenwart. Seit einiger Zeit schießen in Deutschland die philosophischen, namentlich die naturphilosophischen Systeme über Nacht zu Dutzenden auf wie die Pilze, von den zahllosen neuen Systemen der Politik, der Ökonomie usw. gar nicht zu sprechen. Wie im modernen Staat vorausgesetzt wird, daß jeder Staatsbürger über alle die Fragen urteilsreif ist, über die abzustimmen er berufen, wie in der |329| Ökonomie angenommen wird, daß jeder Käufer auch ein Kenner aller derjenigen Waren ist, die er zu seinem Lebensunterhalt einzukaufen in den Fall kommt - so soll es jetzt auch in der Wissenschaft gehalten werden. Jeder kann über alles schreiben, und darin besteht grade die »Freiheit der Wissenschaft«, daß man erst recht über das schreibt, was man nicht gelernt hat, und daß man dies für die einzige streng wissenschaftliche Methode ausgibt. Herr Dühring aber ist einer der bezeichnendsten Typen dieser vorlauten Pseudowissenschaft, die sich heutzutage in Deutschland überall in den Vordergrund drängt und alles übertönt mit ihrem dröhnenden - höheren Blech. Höheres Blech in der Poesie, in der Philosophie, in der Ökonomie, in der Geschichtschreibung, höheres Blech auf Katheder und Tribüne, höheres Blech überall, höheres Blech mit dem Anspruch auf Überlegenheit und Gedankentiefe im Unterschied von dem simplen platt-vulgären Blech andrer Nationen, höheres Blech das charakteristischste und massenhafteste Produkt der deutschen intellektuellen Industrie, billig aber schlecht, ganz wie andre deutsche Fabrikate, neben denen es leider in Philadelphia nicht vertreten war. Sogar der deutsche Sozialismus macht neuerdings, namentlich seit dem guten Beispiel des Herrn Dühring, recht erklecklich in höherem Blech; daß die praktische sozialdemokratische Bewegung sich durch dies höhere Blech so wenig irremachen läßt, ist wieder ein Beweis für die merkwürdig gesunde Natur unsrer Arbeiterklasse in einem Lande, wo doch sonst, mit Ausnahme der Naturwissenschaft, augenblicklich so ziemlich alles krankt.

Wenn Nägeli in seiner Rede auf der Münchener Naturforscherversammlung sich dahin aussprach, daß das menschliche Erkennen nie den Charakter der Allwissenheit annehmen werde, so sind ihm die Leistungen des Herrn Dühring offenbar unbekannt geblieben. Diese Leistungen haben mich genötigt, ihnen auch auf eine Reihe von Gebieten zu folgen, auf denen ich höchstens in der Eigenschaft eines Dilettanten mich bewegen kann. Es gilt dies namentlich von den verschiednen Zweigen der Naturwissenschaft, wo es bisher häufig für mehr als unbescheiden galt, wenn ein »Laie« ein Wort dareinreden wollte. Indes ermutigt mich einigermaßen der ebenfalls in München gefallene, an einer andern Stelle näher erörterte Ausspruch Herrn Virchows, daß jeder Naturforscher außerhalb seiner eignen Spezialität ebenfalls nur ein Halbwisser, vulgo Laie ist. Wie ein solcher Spezialist sich erlauben darf und erlauben muß, von Zeit zu Zeit auf benachbarte Gebiete überzugreifen, und wie ihm da von den betreffenden Spezialisten Unbehülflichkeit des Ausdrucks und kleine Ungenauigkeiten nachgesehn werden, so habe auch ich mir die Freiheit genommen, Naturvorgänge und |330| Naturgesetze als beweisende Exempel meiner allgemein theoretischen Auffassungen anzuführen, und darf wohl auf dieselbe Nachsicht rechnen {1}. Die Resultate der modernen Naturwissenschaft drängen sich eben einem jeden, der sich mit theoretischen Dingen beschäftigt, mit derselben Unwiderstehlichkeit auf, mit der die heutigen Naturforscher, wollen sie's oder nicht, zu theoretisch-allgemeinen Folgerungen sich getrieben sehn. Und hier tritt eine gewisse Kompensation ein. Sind die Theoretiker Halbwisser auf dem Gebiet der Naturwissenschaft, so sind es die heutigen Naturforscher tatsächlich ebensosehr auf dem Gebiet der Theorie, auf dem Gebiet dessen, was bisher als Philosophie bezeichnet wurde.

Die empirische Naturforschung hat eine so ungeheure Masse von positivem Erkenntnisstoff angehäuft, daß die Notwendigkeit, ihn auf jedem einzelnen Untersuchungsgebiet systematisch und nach seinem innern Zusammenhang zu ordnen, schlechthin unabweisbar geworden ist. Ebenso unabweisbar wird es, die einzelnen Erkenntnisgebiete unter sich in den richtigen Zusammenhang zu bringen. Damit aber begibt sich die Naturwissenschaft auf das theoretische Gebiet, und hier versagen die Methoden der Empirie, hier kann nur das theoretische Denken helfen {2}. Das theoretische Denken ist aber nur der Anlage nach eine angeborne Eigenschaft. Diese Anlage muß entwickelt, ausgebildet werden, und für diese Ausbildung gibt es bis jetzt kein andres Mittel als das Studium der bisherigen Philosophie.

Das theoretische Denken einer jeden Epoche, also auch das der unsrigen, ist ein historisches Produkt, das zu verschiednen Zeiten sehr verschiedne Form und damit sehr verschiednen Inhalt annimmt. Die Wissenschaft vom Denken ist also, wie jede andre, eine historische Wissenschaft, die Wissenschaft von der geschichtlichen Entwicklung des menschlichen Denkens. Und dies ist auch für die praktische Anwendung des Denkens auf empirische Gebiete von Wichtigkeit. Denn erstens ist die Theorie der Denkgesetze keineswegs eine ein für allemal ausgemachte ewige Wahrheit wie der Philisterverstand sich dies bei dem Wort Logik vorstellt. Die formelle Logik selbst ist seit Aristoteles bis heute das Gebiet heftiger Debatte geblieben. Und die Dialektik gar ist bis jetzt erst von zwei Denkern genauer untersucht worden, von Aristoteles und Hegel. Grade die Dialektik ist aber für die heutige Naturwissenschaft die wichtigste Denkform, weil sie allein das |331| Analogon und damit die Erklärungsmethode bietet für die in der Natur vorkommenden Entwicklungsprozesse, für die Zusammenhänge im ganzen und großen, für die Übergänge von einem Untersuchungsgebiet zum andern.

Zweitens aber ist die Bekanntschaft mit dem geschichtlichen Entwicklungsgang des menschlichen Denkens, mit den zu verschiednen Zeiten hervorgetretenen Auffassungen der allgemeinen Zusammenhänge der äußeren Welt auch darum für die theoretische Naturwissenschaft ein Bedürfnis, weil sie einen Maßstab abgibt für die von dieser selbst aufzustellenden Theorien. Der Mangel an Bekanntschaft mit der Geschichte der Philosophie tritt hier aber oft und grell genug hervor. Sätze, die in der Philosophie seit Jahrhunderten aufgestellt, die oft genug längst philosophisch abgetan sind, treten oft genug bei theoretisierenden Naturforschern als funkelneue Weisheit auf und werden sogar eine Zeitlang Mode. Es ist sicher ein großer Erfolg der mechanischen Wärmetheorie, daß sie den Satz von der Erhaltung der Energie mit neuen Belegen gestützt und wieder in den Vordergrund gestellt hat; aber hätte dieser Satz als etwas so absolut Neues auftreten können, wenn die Herren Physiker sich erinnert hätten, daß er schon von Descartes aufgestellt war? Seitdem Physik und Chemie wieder fast ausschließlich mit Molekülen und Atomen hantieren, ist die altgriechische atomistische Philosophie mit Notwendigkeit wieder in den Vordergrund getreten. Aber wie oberflächlich wird sie selbst von den besten unter ihnen behandelt! So erzählt Kekulé (»Ziele und Leistungen der Chemie«), sie rühre von Demokrit her, statt von Leukipp, und behauptet, Dalton habe zuerst die Existenz qualitativ verschiedner Elementaratome angenommen und ihnen zuerst verschiedne, für die verschiednen Elemente charakteristische Gewichte zugeschrieben, während doch bei Diogenes Laertius (X, §§ 43-44 u. 61) zu lesen ist, daß schon Epikur den Atomen Verschiedenheit nicht nur der Größe und Gestalt, sondern auch des Gewichts zuschreibt, also schon Atomgewicht und Atomvolum in seiner Art kennt.

Das Jahr 1848, das in Deutschland sonst mit nichts fertig wurde, hat dort nur auf dem Gebiet der Philosophie eine totale Umkehr zustande gebracht. Indem die Nation sich auf das Praktische warf, hier die Anfänge der großen Industrie und des Schwindels gründete, dort den gewaltigen Aufschwung, den die Naturwissenschaft in Deutschland seitdem genommen, eingeleitet durch die Reiseprediger und Karikaturen Vogt, Büchner etc., sagte sie der im Sande der Berliner Althegelei verlaufenen klassischen deut- |332| schen Philosophie entschieden ab. Die Berliner Althegelei hatte das redlich verdient. Aber eine Nation, die auf der Höhe der Wissenschaft stehn will, kann nun einmal ohne theoretisches Denken nicht auskommen. Mit der Hegelei warf man auch die Dialektik über Bord - grade im Augenblick, wo der dialektische Charakter der Naturvorgänge sich unwiderstehlich aufzwang, wo also nur die Dialektik der Naturwissenschaft über den theoretischen Berg helfen konnte - und verfiel damit wieder hülflos der alten Metaphysik. Im Publikum grassierten seitdem einerseits die auf den Philister zugeschnittenen flachen Reflexionen Schopenhauers und später sogar Hartmanns, andrerseits der vulgäre Reiseprediger-Materialismus eines Vogt und Büchner. Auf den Universitäten machten sich die verschiedensten Sorten von Eklektizismus Konkurrenz, die nur darin übereinstimmten, daß sie aus lauter Abfällen vergangner Philosophien zusammengestutzt und alle gleich metaphysisch waren. Von den Resten der klassischen Philosophie rettete sich nur ein gewisser Neukantianismus, dessen letztes Wort das ewig unerkennbare Ding an sich war, also das Stück Kant, das am wenigsten verdiente, aufbewahrt zu werden. Das Endresultat war die jetzt herrschende Zerfahrenheit und Verworrenheit des theoretischen Denkens.

Man kann kaum ein theoretisches naturwissenschaftliches Buch zur Hand nehmen, ohne den Eindruck zu bekommen, daß die Naturforscher es selbst fühlen, wie sehr sie von dieser Zerfahrenheit und Verworrenheit beherrscht werden und wie ihnen die jetzt landläufige sog. Philosophie absolut keinen Ausweg bietet. Und hier gibt es nun einmal keinen andern Ausweg, keine Möglichkeit, zur Klarheit zu gelangen, als die Umkehr, in einer oder der andern Form, vom metaphysischen zum dialektischen Denken.

Diese Rückkehr kann auf verschiednen Wegen vor sich gehen. Sie kann sich naturwüchsig durchsetzen, durch die bloße Gewalt der naturwissenschaftlichen Entdeckungen selbst, die sich nicht länger in das alte metaphysische Prokrustesbett wollen zwängen lassen. Das ist aber ein langwieriger, schwerfälliger Prozeß, bei dem eine Unmasse überflüssiger Reibung zu überwinden ist. Er ist großenteils schon im Gang, namentlich in der Biologie. Er kann sehr abgekürzt werden, wenn die theoretischen Naturforscher sich mit der dialektischen Philosophie in ihren geschichtlich vorliegenden Gestalten näher beschäftigen wollen. Unter diesen Gestalten sind es namentlich zwei, die für die moderne Naturwissenschaft besonders fruchtbar werden können.

Die erste ist die griechische Philosophie. Hier tritt das dialektische Denken noch in naturwüchsiger Einfachheit auf, noch ungestört von den holden |333| Hindernissen, die die Metaphysik des 17. und 18. Jahrhunderts - Bacon und Locke in England, Wolff in Deutschland - sich selbst aufwarf, und womit sie sich den Weg versperrte, vom Verständnis des Einzelnen zum Verständnis des Ganzen, zur Einsicht in den allgemeinen Zusammenhang zu kommen. Bei den Griechen - eben weil sie noch nicht zur Zergliederung, zur Analyse der Natur fortgeschritten waren - wird die Natur noch als Ganzes, im ganzen und großen angeschaut. Der Gesamtzusammenhang der Naturerscheinungen wird nicht im einzelnen nachgewiesen, er ist den Griechen Resultat der unmittelbaren Anschauung. Darin liegt die Unzulänglichkeit der griechischen Philosophie, derentwegen sie später andren Anschauungsweisen hat weichen müssen. Darin liegt aber auch ihre Überlegenheit gegenüber allen ihren späteren metaphysischen Gegnern. Wenn die Metaphysik den Griechen gegenüber im einzelnen recht behielt, so behielten die Griechen gegenüber der Metaphysik recht im ganzen und großen. Dies ist der eine Grund, weshalb wir genötigt werden, in der Philosophie wie auf so vielen andern Gebieten, immer wieder zurückzukehren zu den Leistungen jenes kleinen Volks, dessen universelle Begabung und Betätigung ihm einen Platz in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit gesichert hat, wie kein andres Volk ihn je beanspruchen kann. Der andre Grund aber ist der, daß in den mannigfachen Formen der griechischen Philosophie sich fast alle späteren Anschauungsweisen bereits im Keim, im Entstehen vorfinden. Die theoretische Naturwissenschaft ist daher ebenfalls gezwungen, will sie die Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte ihrer heutigen allgemeinen Sätze verfolgen, zurückzugehn auf die Griechen. Und diese Einsicht bricht sich mehr und mehr Bahn. Immer seltner werden die Naturforscher, die, während sie selbst mit Abfällen griechischer Philosophie, z.B. der Atomistik, wie mit ewigen Wahrheiten hantieren, baconistisch-vornehm auf die Griechen herabsehn, weil diese keine empirische Naturwissenschaft hatten. Zu wünschen wäre nur, daß diese Einsicht fortschritte zu einer wirklichen Kenntnisnahme der griechischen Philosophie.

Die zweite Gestalt der Dialektik, die grade den deutschen Naturforschern am nächsten liegt, ist die klassische deutsche Philosophie von Kant bis Hegel. Hier ist bereits ein Anfang gemacht, indem auch außerhalb des schon erwähnten Neukantianismus es wieder Mode wird, auf Kant zu rekurrieren. Seitdem man entdeckt hat, daß Kant der Urheber zweier genialer Hypothesen ist, ohne die die heutige theoretische Naturwissenschaft nun einmal nicht vorankommen kann - der früher Laplace zugeschriebnen Theorie von der Entstehung des Sonnensystems und der Theorie von der Hemmung der Erdrotation durch die Flutwelle -, ist Kant bei den Natur- |334| forschern wieder zu verdienten Ehren gekommen. Aber bei Kant Dialektik studieren zu wollen, wäre eine nutzlos mühsame und wenig lohnende Arbeit, seitdem ein umfassendes, wenn auch von ganz falschem Ausgangspunkt her entwickeltes Kompendium der Dialektik vorliegt in den Werken Hegels.

Nachdem einerseits die durch diesen falschen Ausgangspunkt und durch das hülflose Versumpfen der Berliner Hegelei großenteils gerechtfertigte Reaktion gegen die »Naturphilosophie« ihren freien Lauf gehabt und in bloßes Geschimpfe ausgeartet ist, nachdem andrerseits die Naturwissenschaft in ihren theoretischen Bedürfnissen von der landläufigen eklektischen Metaphysik so glänzend im Stich gelassen worden, wird es wohl möglich sein, vor Naturforschern auch wieder einmal den Namen Hegel auszusprechen, ohne dadurch jenen Veitstanz hervorzurufen, in dem Herr Dühring so Ergötzliches leistet.

Vor allem ist festzustellen, daß es sich hier keineswegs handelt um eine Verteidigung des Hegelschen Ausgangspunkts: daß der Geist, der Gedanke, die Idee das Ursprüngliche, und die wirkliche Welt nur der Abklatsch der Idee sei. Dies war schon von Feuerbach aufgegeben. Darüber sind wir alle einig, daß auf jedem wissenschaftlichen Gebiet in Natur wie Geschichte von den gegebenen Tatsachen auszugehn ist, in der Naturwissenschaft also von den verschiednen sachlichen und Bewegungsformen der Materie {3}; daß also auch in der theoretischen Naturwissenschaft die Zusammenhänge nicht in die Tatsachen hineinzukonstruieren, sondern aus ihnen zu entdecken und, wenn entdeckt, erfahrungsmäßig soweit dies möglich nachzuweisen sind.

Ebensowenig kann davon die Rede sein, den dogmatischen Inhalt des Hegelschen Systems aufrecht zu halten, wie er von der Berliner Hegelei älterer und jüngerer Linie gepredigt worden. Mit dem idealistischen Ausgangspunkt fällt auch das darauf konstruierte System, also namentlich auch die Hegelsche Naturphilosophie. Es ist aber daran zu erinnern, daß die naturwissenschaftliche Polemik gegen Hegel, soweit sie ihn überhaupt richtig verstanden, sich nur gegen diese beiden Punkte gerichtet hat: den idealistischen Ausgangspunkt und die den Tatsachen gegenüber willkürliche Konstruktion des Systems.

Nach Abzug von allem diesem bleibt noch die Hegelsche Dialektik. Es |335| ist das Verdienst von Marx, gegenüber dem »verdrießlichen, anmaßenden und mittelmäßigen Epigonentum, welches jetzt in Deutschland das große Wort führt« |Siehe Karl Marx: »Das Kapital», Bd. I, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke Bd. 23, S. 27|, zuerst wieder die vergessene dialektische Methode, ihren Zusammenhang mit der Hegelschen Dialektik wie ihren Unterschied von dieser hervorgehoben und gleichzeitig im »Kapital« diese Methode auf die Tatsachen einer empirischen Wissenschaft, der politischen Ökonomie, angewandt zu haben. Und mit dem Erfolg, daß selbst in Deutschland die neuere ökonomische Schule sich nur dadurch über die vulgäre Freihändlerei erhebt, daß sie Marx abschreibt (oft genug falsch) unter dem Vorwand, ihn zu kritisieren.

Bei Hegel herrscht in der Dialektik dieselbe Umkehrung alles wirklichen Zusammenhangs wie in allen andern Verzweigungen seines Systems. Aber, wie Marx sagt: »Die Mystifikation, welche die Dialektik in Hegels Händen untergeht, verhindert in keiner Weise, daß er ihre allgemeinen Bewegungsformen zuerst in umfassender und bewußter Weise dargestellt hat. Sie steht bei ihm auf dem Kopf. Man muß sie umstülpen, um den rationellen Kern in der mystischen Hülle zu entdecken.«

In der Naturwissenschaft selbst aber begegnen uns oft genug Theorien, in denen das wirkliche Verhältnis auf den Kopf gestellt, das Spiegelbild für die Urform genommen ist, und die daher einer solchen Umstülpung bedürfen. Solche Theorien herrschen oft genug für längere Zeit. Wenn die Wärme während fast zwei Jahrhunderten als eine besondre geheimnisvolle Materie galt, statt als eine Bewegungsform der gewöhnlichen Materie, so war das ganz derselbe Fall, und die mechanische Wärmetheorie vollzog die Umstülpung. Nichtsdestoweniger hat die von der Wärmestofftheorie beherrschte Physik eine Reihe höchst wichtiger Gesetze der Wärme entdeckt und besonders durch [J.-B.-J.] Fourier und Sadi Carnot die Bahn frei gemacht für die richtige Auffassung, die nun ihrerseits die von ihrer Vorgängerin entdeckten Gesetze umzustülpen, in ihre eigne Sprache zu übersetzen hatte.(1) Ebenso hat in der Chemie die phlogistische Theorie durch hundertjährige experimentelle Arbeit erst das Material geliefert, mit Hülfe dessen Lavoisier in dem von Priestley dargestellten Sauerstoff den reellen Gegenpol des phantastischen Phlogiston entdecken und damit die |336| ganze phlogistische Theorie über den Haufen werfen konnte. Damit aber waren die Versuchsresultate der Phlogistik durchaus nicht beseitigt. Im Gegenteil. Sie blieben bestehn, nur ihre Formulierung wurde umgestülpt, aus der phlogistischen Sprache in die nunmehr gültige chemische Sprache übersetzt, und behielten soweit ihre Gültigkeit.

Wie die Wärmestofftheorie zur mechanischen Wärmelehre, wie die phlogistische Theorie zu der Lavoisiers, so verhält sich die Hegelsche Dialektik zur rationellen Dialektik.


Fußnoten von Friedrich Engels

(1) Carnots Funktion C buchstäblich umgestülpt: 1/C = die absolute Temperatur. Ohne diese Umstülpung nichts zu machen aus ihr. <=


{1} Bis zu dieser Stelle strich Engels das Manuskript mit einem senkrechten Bleistiftstrich durch, da er diesen Teil in der Einleitung der ersten Ausgabe des »Anti-Dühring« verwandt hatte. <=

{2} Im Manuskript ist dieser und der vorhergehende Satz mit Bleistift durchgestrichen. <=

{3} Hier folgt ein nicht zu Ende geschriebener Satz, der von Engels durchgestrichen wurde: »Wir sozialistischen Materialisten gehn darin sogar noch bedeutend weiter als die Naturforscher, indem wir auch das ... « <=


Pfad: »../me/me20«


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