Die Lage der Deutschen in Frankreich | Inhalt | Über den Krieg - XXXIV
Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 17, 5. Auflage 1973, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 222-226.
Erstellt am 13.12.1998.
1. Korrektur.
["The Pall Mall Gazette" Nr. 1841 vom 6. Januar l871]
|222| Weihnachten hat den Beginn der wirklichen Belagerung von Paris eingeleitet. Bis dahin war es nur eine Einschließung der riesigen Festung gewesen. Zwar hatte man Stellungen für schwere Belagerungsgeschütze angelegt und einen Belagerungspark errichtet, aber kein Geschütz war in Stellung gebracht, keine Schießscharte eröffnet worden, nicht ein Schuß gefallen. Alle diese Vorbereitungen wurden an der südlichen und südwestlichen Front getroffen, An den anderen Fronten sind ebenfalls Brustwehren aufgeworfen worden, aber diese scheinen nur für Verteidigungszwecke bestimmt zu sein, um Ausfälle aufzuhalten und die Infanterie und Feldartillerie der Belagerer zu schützen. Diese Verschanzungen waren natürlich viel weiter von den Pariser Forts entfernt, als es reguläre Belagerungsbatterien sein müßten; zwischen ihnen und den Forts lag ein breiterer Gürtel Niemandsland, auf dem Ausfälle gemacht werden konnten. Nachdem Trochus großer Ausfall vom 30. November zurückgeschlagen worden war, blieb er doch noch Herr über einen gewissen Teil dieses Niemandslandes auf der Ostseite von Paris, besonders über das isolierte Plateau von Avron, gegenüber dem Fort Rosny. Dieses begann er zu befestigen; wann dies geschah, wissen wir nicht genau, aber wir finden unter dem 17. Dezember erwähnt, daß sowohl der Mont Avron als auch die Höhen von Varennes (im Marnebogen) befestigt und mit schweren Geschützen bestückt worden sind.
Abgesehen von wenigen vorgeschobenen Feldschanzen an der Südfront, in der Nähe von Vitry und Villejuif, die von keiner großen Bedeutung zu sein scheinen, haben wir hier den ersten großangelegten Versuch der Verteidiger, ihre Stellungen durch Konterapprochen auszudehnen. Wir werden hier zu einem Vergleich mit Sewastopol veranlaßt. Mehr als vier Monate nach Eröffnung der Gräben durch die Verbündeten - gegen Ende Februar 1855 -, als die Belagerer unter dem Winter schrecklich gelitten |223| hatten, begann Todtleben vorgeschobene Schanzen anzulegen, und zwar in einer für damalige Verhältnisse bedeutenden Entfernung von seinen Linien. Am 23. Februar hatte er die Feldschanze Selenginsk angelegt, 1.100 Yard vom Hauptwall entfernt; am selben Tage mißlang ein Angriff der Verbündeten auf dieses Werk. Am 1. März wurde noch weiter vorn eine andere Feldschanze (Wolhynsk) vollendet, 1.450 Yard vom Wall entfernt. Diese beiden Schanzen wurden von den Verbündeten "Ouvrages blancs" |"weiße Schanzen"| genannt. Am 12. März war die 800 Yard vor den Wällen liegende Kamtschatka-Lünette, von den Verbündeten "Mamelon vert" |"grüner Hügel"| genannt, vollendet. Vor all diesen Schanzen wurden Schützengräben ausgehoben. Am 22. März wurde ein Sturmangriff zurückgeschlagen. Die Schanzen - nebst einer weiteren auf der rechten Seite des "Mamelon vert", der "Quarry" |"Steinbruch"| wurden sämtlich fertiggestellt und durch einen gedeckten Weg verbunden. Den ganzen April und Mai hindurch versuchten die Verbündeten vergeblich, das durch diese Werke geschützte Gelände wiederzuerobern. Sie mußten mit regulären Belagerungsapprochen gegen sie vorrücken und vermochten sie erst am 7. Juni zu erstürmen, nachdem beträchtliche Verstärkungen eingetroffen waren. So wurde der Fall von Sewastopol durch die vorgeschobenen Feldschanzen um volle drei Monate verzögert, obgleich sie von den mächtigsten Schiffsgeschützen jener Zeit angegriffen wurden.
Damit verglichen sieht die Verteidigung des Mont Avron recht armselig aus. Am 17. Dezember, nachdem die Franzosen für den Schanzenbau über vierzehn Tage Zeit gehabt hatten, waren die Geschützstellungen fertig. Die Belagerer hatten inzwischen Belagerungsartillerie kommen lassen, hauptsächlich alte Geschütze, die bereits bei den vorangegangenen Belagerungen benutzt worden waren. Am 22. waren die Geschützstellungen gegen den Mont Avron fertig, aber es wurde keine Aktion unternommen, bis jede Gefahr eines Ausfalls en masse der Franzosen vorbei war. Die Lager der Armee von Paris, um Drancy herum, wurden am 26. abgebrochen. Am 27. eröffneten dann die deutschen Batterien das Feuer und setzten es am 28. und 29. fort. Das Feuer der französischen Werke wurde bald zum Schweigen gebracht. Am 29. Dezember wurden die Schanzen aufgegeben, weil sie, wie der offizielle französische Bericht sagt, keine Kasematten zum Schutz der Besatzung enthielten.
Das ist zweifellos eine dürftige Verteidigung und eine noch dürftigere Entschuldigung dafür. Der Hauptfehler scheint in der Konstruktion der Schanzen zu liegen. Nach allen Beschreibungen müssen wir annehmen, daß |224| auf dem Mont Avron keine einzige geschlossene Feldschanze war, sondern nur Geschützstellungen ohne Rückendeckung und sogar ohne wirksamen Flankenschutz. Diese Batterien scheinen überdies ihre Front nur nach einer Seite, nach Süden oder Südosten, gehabt zu haben. Ganz in der Nähe aber, im Nordosten, lagen die Höhen von Raincy und Montfermeil, die denkbar vorzüglichsten Geschützstellungen gegen Avron. Die Belagerer nutzten diesen günstigen Umstand aus, um Avron mit einem Halbkreis von Batterien zu umgeben, die bald sein Feuer zum Schweigen brachten und seine Besatzung vertrieben. Aber warum war kein Schutz für die Besatzung da? Der Frost ist nur eine halbe Entschuldigung, denn die Franzosen hatten Zeit genug; und was die Russen in einem Krimwinter und in einem felsigen Boden fertiggebracht hatten, wäre auch vor Paris in diesem Dezember möglich gewesen. Die Artillerie, die gegen Avron verwendet wurde, war sicher weit wirksamer als die der Verbündeten vor Sewastopol; es war aber dieselbe, die gegen die Düppeler Schanzen benutzt worden war, ebenfalls Feldschanzen, aber diese hielten drei Wochen stand. Es ist anzunehmen, daß die Infanteriebesatzung flüchtete und die Artillerie ungedeckt ließ. Möglich ist das; aber es würde die Ingenieure nicht entschuldigen, die diese Schanzen konstruierten. Der Ingenieurstab in Paris muß sehr schlecht organisiert sein, wenn man ihn nach dieser Leistung beurteilen soll.
Die rasche Zerstörung des Mont Avron hat den Appetit der Belagerer auf weitere, ähnliche Erfolge gesteigert. Sie eröffneten das Feuer auf die östlichen Forts, besonders auf Noisy, Rosny und Nogent. Nach zweitägigem Bombardement waren diese Forts fast zum Schweigen gebracht. Was weiter gegen sie unternommen wird, haben wir nicht erfahren; ebensowenig hören wir von Feuer aus den Verschanzungen, die in den Räumen zwischen diesen Forts angelegt worden sind. Aber wir dürfen sicher sein, daß die Belagerer ihr Bestes tun, Approchen gegen diese Forts vorzutreiben, wenn auch nur in primitiver Weise, und sich eine feste Stellung auf dem Mont Avron zu schaffen. Wir würden uns nicht wundern, wenn sie damit, trotz des Wetters, mehr Erfolg hätten als die Franzosen.
Aber wie wirken all diese Ereignisse auf den Fortgang der Belagerung? Wenn diese drei Forts in die Hände der Preußen fielen, so wäre das ohne Zweifel ein bedeutender Erfolg und würde es ihnen ermöglichen, ihre Batterien auf 3.000 bis 4.000 Yard an die Umwallung heranzubringen. Nicht unbedingt jedoch müssen die Forts so bald fallen; denn sie haben sämtlich bombensichere Kasematten für ihre Besatzungen, und die Belagerer haben bisher keine gezogenen Mörser heranbekommen, von denen sie überhaupt bloß wenige besitzen. Diese Mörser sind die einzige Art Artillerie, die |225| bombensicheres Mauerwerk in sehr kurzer Zeit zerstören kann; die alten Mörser sind zu unsicher in ihrer Schußgenauigkeit, um besonders rasche Ergebnisse zu erreichen, und die 24pfünder (mit Granaten von 64 Pfund) lassen keine hinreichende Richthöhe zu, um eine Steilfeuerwirkung zu erzielen. Wenn das Feuer dieser Forts scheinbar zum Schweigen gebracht worden ist, so bedeutet das lediglich, daß die Geschütze in Deckung gebracht worden sind, um sie zur Abwehr eines Sturmangriffs bereitzuhalten. Die preußischen Batterien können zwar die Brustwehren der Wälle zerstören, das wird aber noch keine Bresche ausmachen. Um das sehr gut gedeckte Mauerwerk der Böschungen mit. indirektem Feuer zu durchbrechen, müßten Geschützstellungen in höchstens 1.000 Yard Entfernung von den Forts angelegt werden, und das läßt sich nur durch reguläre Parallelen und Approchen erreichen. Der "abgekürzte" Prozeß bei einer Belagerung, von dem die Preußen soviel erzählen, besteht in nichts anderem, als daß man das feindliche Feuer aus einer größeren Entfernung zum Schweigen bringt, so daß die Approchen mit weniger Gefahr und Zeitverlust angelegt werden können; dann folgt ein heftiges Bombardement und durch indirektes Feuer die Herstellung einer Bresche im Wall. Wenn all das die Übergabe nicht erzwingt - und bei den Pariser Forts ist schwer einzusehen, wie das möglich sein sollte -, dann bleibt nichts anderes übrig, als die Approchen auf dem gewöhnlichen Wege zum Glacis vorzutreiben und einen Sturmangriff zu wagen. Der Sturm auf Düppel wurde unternommen, nachdem die Laufgräben bis auf etwa 250 Yard an die zerstörten Schanzen herangetrieben worden waren, und bei Straßburg wurden die Sappen ganz in der alten Weise bis zum Glaciskamm und darüber hinaus vorgetrieben.
Bei alledem müssen wir immer wieder auf das zurückkommen, was in diesen Spalten schon oft hervorgehoben worden ist: Die Verteidigung von Paris muß aktiv und nicht nur passiv geführt werden. Wenn es jemals eine günstige Zeit für Ausfälle gab, so jetzt. In diesem Augenblick handelt es sich nicht darum, die feindlichen Linien zu durchbrechen, sondern einen örtlich umgrenzten Kampf anzunehmen, den die Belagerer den Belagerten aufzwingen. Daß die Belagerer fast stets an einem gegebenen Punkt das Feuer der Belagerten übertreffen können, ist ein altes und unbestrittenes Gesetz; wenn die Belagerten diesen unvermeidlichen Nachteil nicht durch Aktivität, Kühnheit und Energie in Ausfällen wettmachen, so geben sie ihre beste Chance preis. Es wird behauptet, die Truppen in Paris hätten den Mut verloren; dazu haben sie aber keinen Grund. Sie mögen das Vertrauen zu ihrem Befehlshaber verloren haben - das ist eine ganz andere Sache; so fern Trochu in seiner Untätigkeit beharrt, hätten sie damit ganz recht.
|226| Wir wollen noch mit zwei Worten auf die geistreiche Hypothese einiger Leute hinweisen, nach der Trochu beabsichtige, sich nach dem Fall von Paris mit seinen Truppen auf die befestigte Halbinsel des Mont-Valérien als Zitadelle zurückzuziehen. Diese tiefgründige Vermutung ist von einigen übergescheiten Schlachtenbummlern beim Stab in Versailles ausgeheckt worden und gründet sich hauptsächlich darauf, daß zahlreiche Wagen zwischen Paris und dieser Halbinsel verkehren. Das müßte ein ungewöhnlich gescheiter General sein, der sich eine Zitadelle auf einer niedrigen angeschwemmten Halbinsel anlegte, auf einer Halbinsel, die von allen Seiten von Höhen beherrscht wird, von denen die Lager seiner Truppen wie ein Panorama überblickt und folglich sehr leicht beschossen werden können. Aber solange der preußische Generalstab besteht, spuken darin Männer von übermenschlicher Geistesschärfe. Nach diesen tut der Feind am wahrscheinlichsten stets das Allerunwahrscheinlichste. Im Deutschen sagt man von solchen Leuten: Sie hören das Gras wachsen. Wer immer sich mit der preußischen Militärliteratur beschäftigt hat, muß über diese Sorte von Menschen gestolpert sein; und das einzige Wunder ist, daß sich noch jemand findet, der ihnen glaubt.