Über den Krieg - XXXII | Inhalt | Über den Krieg - XXXIII

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 17, 5. Auflage 1973, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 218-221.

Erstellt am 13.12.1998.
1. Korrektur.

Friedrich Engels

Die Lage der Deutschen in Frankreich


["The Pall Mall Gazette" Nr. 1830 vom 24. Dezember 1870]

|218| Die Verluste dieses Krieges beginnen in Deutschland zu wirken. Die erste Invasionsarmee, die die gesamten Linientruppen Nord und Süddeutschlands umfaßte, war etwa 640.000 Mann stark. Zwei Monate Feldzug hatten diese Armee so weit vermindert, daß der erste Nachschub aus den Depotbataillonen und -schwadronen - etwa ein Drittel ihrer ursprünglichen Zahl - ins Feld geschickt werden mußte. Sie kamen gegen Ende September und Anfang Oktober dort an, und obgleich sie etwa 200.000 Mann betragen haben müssen, waren die Feldbataillone doch noch längst nicht wieder auf ihre ursprüngliche Zahl von je 1.000 Mann gebracht. Die Bataillone vor Paris zählten 700 bis 800 Mann, während die vor Metz noch schwächer waren. Krankheiten und Kämpfe verminderten die Truppenstärke weiter, und als Prinz Friedrich Karl die Loire erreichte, waren seine drei Korps auf weniger als die Hälfte ihrer normalen Stärke zusammengeschmolzen, durchschnittlich 450 Mann je Bataillon. Die Kämpfe dieses Monats und das unbeständige rauhe Wetter müssen sowohl die Truppen vor Paris als auch die Armeen, welche die Belagerung deckten, schwer mitgenommen haben, so daß gegenwärtig die Bataillone sicherlich weniger als 400 Mann im Durchschnitt zählen. Anfang Januar werden die Rekruten der Aushebung von 1870 so weit sein, nach dreimonatiger Ausbildung ins Feld zu rücken. Das dürften etwa 110.000 Mann sein und weniger als 300 Mann für jedes Bataillon bedeuten. Wir hören, daß Teile davon bereits Nancy passiert haben und täglich neue Truppen ankommen; demnach werden die Bataillone bald wieder auf etwa 650 Mann angestiegen sein. Wenn tatsächlich der verfügbare Rest der jüngeren unausgebildeten Männer der Ersatzreserve |Ersatzreserve: hier und im weiteren in der "P.M.G." deutsch|, wie nach verschiedenen Anzeichen wahrscheinlich, zusammen mit den Rekruten der regulären Aushebung ausgebildet worden ist, so würde die Verstärkung jedes Bataillons etwa 100 Mann mehr betragen, |219| also je Bataillon eine Gesamtstärke von 750 Mann ergeben. Dies würde etwa Dreiviertel der ursprünglichen Zahl ausmachen und eine Armee von 480.000 Mann dienstfähigen Soldaten ergeben, gegenüber der ganzen Million, die aus Deutschland an die Front geschickt worden sind. Folglich sind mehr als die Hälfte der Soldaten, die Deutschland mit den Linienregimentern verließen oder diesen seitdem zugeteilt wurden, in weniger als vier Monaten gefallen, verwundet oder dienstuntauglich geworden. Wenn dies jemand unglaubwürdig erscheinen sollte, so mag er die Verluste früherer Feldzüge, zum Beispiel die von 1813 und 1814, zum Vergleich heranziehen und dabei berücksichtigen, daß die fortgesetzten langen und schnellen Märsche der Preußen während dieses Krieges auf ihre Truppen furchtbar gewirkt haben müssen.

Bis jetzt haben wir nur die Linientruppen behandelt. Außer diesen ist fast die gesamte Landwehr nach Frankreich marschiert. Die Landwehrbataillone umfaßten ursprünglich 800 Mann bei der Garde und 500 Mann bei den anderen Bataillonen, sind aber allmählich auf eine Stärke von rund 1.000 Mann gebracht worden. Das würde eine Gesamtzahl von 240.000 Mann einschließlich Kavallerie und Artillerie ergeben. Der bei weitem größere Teil dieser Truppen ist schon seit einiger Zeit in Frankreich, um die Verbindungen aufrechtzuerhalten, Festungen einzuschließen usw. Aber auch dafür reichen sie nicht aus. Darum ist man jetzt dazu übergegangen, vier weitere Landwehrdivisionen aufzustellen (wahrscheinlich durch Bildung eines dritten Bataillons in jedem Landwehrregiment), die wenigstens fünfzig Bataillone oder 50.000 Mann umfassen. Alle diese Truppen sollen jetzt nach Frankreich geschickt werden; jene, die bisher noch in Deutschland waren, um die französischen Gefangenen zu bewachen, sollen jetzt von diesem Dienst durch neugebildete "Garnisonbataillone" abgelöst werden. Woraus diese bestehen werden, können wir nicht genau sagen, bevor wir nicht den vollen Wortlaut der Verfügung über ihre Errichtung erhalten haben, deren Inhalt wir bisher nur aus einer telegraphischen Meldung kennen. Aber wenn, und wir wissen, daß es der Fall ist, die genannten vier neuen Landwehrdivisionen nur dadurch aufgeboten werden können, daß Männer von vierzig Jahren und darüber einberufen werden, was bleibt dann anders für die Garnisonbataillone an ausgebildeten Soldaten übrig als Männer zwischen Vierzig und Fünfzig? Es besteht kein Zweifel, daß durch diese Maßnahme die Reserve an ausgebildeten Mannschaften in Deutschland völlig ausgeschöpft wird, darüber hinaus ein ganzer Rekrutenjahrgang.

Die Landwehrtruppen in Frankreich haben weit weniger Märsche, Biwake und Kämpfe durchgemacht als die Linientruppen. Sie haben meist |220| leidliche Quartiere, gutes Essen und mäßigen Dienst gehabt, so daß ihre Gesamtverluste mit etwa 40.000 Toten und Verwundeten angesetzt werden können. Einschließlich der jetzt aufgestellten neuen Bataillone ergäbe dies 250.000 Mann. Aber es ist sehr ungewiß, wie bald, ja ob überhaupt jemals diese Truppen sämtlich für die Front frei gemacht werden können. 200.000 Mann - für die nächsten zwei Monate - wäre eine hohe Schätzung für die in Frankreich stehende Landwehr.

Linientruppen und Landwehr zusammen werden somit in der zweiten Januarhälfte etwa 650.000 bis 680.000 Mann in Frankreich unter Waffen haben; davon sind 150.000 bis 200.000 Mann augenblicklich auf dem Wege nach Frankreich oder werden dazu vorbereitet. Aber diese Streitkräfte werden ihrem Charakter nach sehr verschieden sein von den bisher eingesetzten. Genau zur Hälfte werden die Linienbataillone aus jungen Männern zwischen zwanzig und einundzwanzig Jahren bestehen - aus unerfahrenen Männern eines Alters, in dem die Beschwerden eines Winterfeldzugs überaus heftig auf die Konstitution wirken. Diese Leute werden bald die Lazarette füllen, während die Bataillone zahlenmäßig wieder zusammenschmelzen. Andererseits wird die Landwehr mehr und mehr aus Männern über zweiunddreißig Jahren bestehen, also fast ohne Ausnahme aus verheirateten Männern und Familienvätern, die überdies in einem Alter sind, wo das Kampieren im freien Felde bei kaltem oder nassem Wetter fast mit Sicherheit bei jedermann rasch Rheumatismus erzeugt. Zweifellos wird der größere Teil dieser Landwehr infolge des ausgedehnteren Territoriums, das unter ihre Aufsicht gestellt wird, mehr Märsche und Kämpfe durchmachen müssen als bisher. Das Durchschnittsalter der Linientruppen wird also beträchtlich niedriger, das der Landwehr beträchtlich höher werden als bisher. Die Rekruten, die in die Linientruppen gesandt werden, haben kaum Zeit gehabt, die nötige Ausbildung und Disziplin zu erhalten; die neuen Verstärkungen für die Landwehr haben reichlich Zeit gehabt, beides zu vergessen. So erhält die deutsche Armee Elemente, die ihrer Verfassung nach mehr als bisher den ihnen gegenüberstehenden frisch ausgehobenen Truppen der Franzosen ähnlich sind; allerdings haben die Deutschen den Vorteil, daß diese Elemente in die starken und festen Kader der alten Armee eingefügt werden.

Welche Reserven verbleiben hiernach den Preußen an Männern, die eingezogen werden könnten? Die Rekruten, die 1871 ihr zwanzigstes Lebensjahr erreichen, und die älteren Männer der Ersatzreserve. Die letz- |221| teren sind sämtlich unausgebildet, die meisten verheiratet, und sie stehen in einem Alter, wo man wenig Neigung oder Fähigkeit hat, noch Soldat zu spielen. Diese Leute einzuberufen, Männer, die seit langem gewöhnt sind, ihr Verhältnis zur Armee als bloß nominell zu betrachten, wäre sehr unpopulär. Noch unpopulärer wäre es, jene waffenfähigen Männer einzuberufen, die aus diesem oder jenem Grunde überhaupt der Dienstpflicht entgangen sind. In einem ausgesprochenen Verteidigungskrieg würden alle diese Männer ohne Zögern marschieren; in einem Eroberungskrieg aber und zu einer Zeit, da der Erfolg dieser Eroberungspolitik zweifelhaft wird, kann man das nicht von ihnen erwarten. Ein Eroberungskrieg mit wechselndem Glück kann auf die Dauer nicht von einer überwiegend aus verheirateten Männern bestehenden Armee geführt werden; ein oder zwei empfindliche Rückschläge müssen solche Truppen, die eine solche Aufgabe haben, demoralisieren. Je mehr durch die Verlängerung des Krieges die preußische Armee in Wirklichkeit zum "Volk in Waffen" wird, desto unfähiger wird sie zum Eroberungskrieg. Mag der deutsche Philister wegen Elsaß und Lothringen noch so heftig toben, es ist dennoch gewiß, daß Deutschland wegen der Eroberung dieser Gebiete nicht dieselben Entbehrungen, dieselbe soziale Desorganisation, dieselbe Einschränkung der nationalen Produktion auf sich nehmen kann, die Frankreich zu seiner Verteidigung willig erträgt. Dieser selbe deutsche Philister wird, wenn er erst einmal in Uniform gesteckt und in Marsch gesetzt worden ist, auf einem französischen Schlachtfeld oder in einem kalten Biwak wieder zur Besinnung kommen. Und so mag es am Ende das beste sein, wenn tatsächlich beide Nationen in voller Rüstung einander gegenübertreten.