Inhaltsverzeichnis Artikel und Korrespondenzen 1862

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 15, 4. Auflage 1972, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1961, Berlin/DDR. S. 447-450.

1. Korrektur.
Erstellt am 25.10.1998.

Karl Marx

Statistische Betrachtungen über das Eisenbahnwesen

Geschrieben Mitte Januar 1862.


[Die Presse" Nr. 22 vom 23. Januar 1862]

|447| Die englischen Eisenbahnen sind ein Menschenalter alt, 30 Jahre. Die Nationalschuld ausgenommen, hat sich kein anderer Zweig des Nationalreichtums so rasch zu so riesigem Umfang entwickelt. Nach einem neulich veröffentlichten Blaubuch betrug bis 1860 das in Eisenbahnen angelegte Kapital 348.130.127 Pfd.St., wovon 190.791.067 Pfd.St. durch gewöhnliche Aktien erhoben waren, 67.873.840 Pfd.St. durch privilegierte Aktien, 7.576.878 Pfd.St. durch Schuldobligationen, 81.888.546 Pfd.St. durch laufende Anleihen. Das Gesamtkapital erreicht ungefähr die Hälfte der Nationalschuld und überwiegt um das Fünffache das jährliche Einkommen von allem liegenden Eigentum in Großbritannien. Diese Parvenuform des Reichtums, die kolossalste Ausgeburt der modernen Industrie, ein merkwürdiger ökonomischer Zwitter, der mit den Füßen in der Erde wurzelt, mit dem Kopf auf der Börse lebt, gab dem aristokratischen Grundbesitz einen gewaltigen Rivalen, der Mittelklasse eine Armee neuer Hilfstruppen.

Im Jahre 1860 umspannten die Eisenschienen 22 000 englische Meilen, wobei Doppellinien und Seitenlinien eingerechnet sind. Im Durchschnitt wären also während der dreißig Jahre 733 Meilen jährlich beschient worden. Solche Durchschnittszahl drückt jedoch in diesem Industriezweig noch ungleich falscher als in allen übrigen den wirklichen Lebensprozeß aus. Einzelne Jahre der Eisenbahnmanie, wie 1844 und 1845, eroberten im Sturmschritt das Hauptterritorium. Die anderen Jahre füllen allmählich aus, verbinden die großen Linien, zweigen ab, erweitern verhältnismäßig langsam. In ihnen sinkt die Eisenbahnproduktion unter das Durchschnittsniveau.

|448| Dem Legen der Schienen gehen enorme Arbeiten voraus. Schon 1854, nach der Angabe von Robert Stephenson, liefen Eisenbahntunnels durch ungefähr 70 Meilen, es existierten 25.000 Eisenbahnbrücken und zahlreiche Viadukte, wovon einer in der Nähe Londons sich über 11 Meilen erstreckte. Die Erdwerke, 70.000 Kubikyard per Meile, würden einen Raum von 550 Millionen Kubikyard füllen. Aufgeworfen in der Form einer Pyramide, betrüge ihr Durchmesser eine halbe Meile (englische), ihre Höhe anderthalb Meilen - ein Erdberg, woneben die St. Paulskirche zum Liliputaner zusammenschrumpft. Seit der Zeit von Robert Stephensons Schätzung wuchs der Umfang der Eisenbahnen aber noch um ein Dritteil.

Der "ewige Weg", wie die Engländer die Eisenbahn taufen, ist keineswegs unsterblich. Er unterliegt einem steten Stoffwechsel. Das Eisen, das durch Verschleiß, Oxydation und Neufabrikation fortwährend verlorengeht, erheischt immer frischen Ersatz. Man hat berechnet, daß eine Dampfmaschine in ihrer Flucht über 60 Meilen 2,2 Pfund abschleift, jeder leere Wagen 41/2 Unzen, jede Tonne Fracht anderthalb Unzen, und daß Eisenbahnen wie die London-North-Western-Linie ungefähr 20 Jahre vorhalten. Der jährliche Gesamtverschleiß des Eisens wird auf ein halbes Pfund den Yard geschätzt; 24.000 Tonnen Eisen sind zum jährlichen Ersatz für das Gesamtsystem in seiner jetzigen Ausdehnung erheischt und 240.000 Tonnen für die jährliche Umrollung. Aber die Schiene bildet den Knochen und bedarf viel langsamerer Reproduktion als das Holzwerk, das die Schiene stützt. Der hölzerne Apparat des Netzes erheischt eine jährliche Neuzufuhr von 300.000 Bäumen, die einen Raum von 6.000 Acres Land zum Wachstum brauchen.

Wenn vollendet, bedarf die Eisenbahn zu ihrer Exploitation der Lokomotiven, Kohlen, Wasser, Eisenbahnwagen, endlich des Arbeiterpersonals. Die Zahl der Lokomotiven betrug 1860 5.801 oder mehr als eine Lokomotive für je zwei Meilen. Wie die meisten Maschinen in ihrer Kinderzeit, waren die Lokomotiven ursprünglich unansehnlich, ängstlich in ihrer Bewegung, gewissermaßen noch befangen in der Erinnerung an das altmodische Werkzeug, das sie ersetzten, und verhältnismäßig wohlfeil. Die erste englische Lokomotive, vierräderig, kaum 6 Tonnen schwer, von einem Preis von 550 Pfd.St., ist allmählich ersetzt worden durch Dampfmaschinen zum Preis von 3.000 Pfd.St., die 30 Passagierwagen, jeder 51/2 Tonnen schwer, 30 Meilen per Stunde oder 500 Tonnen Ware 20 Meilen per Stunde ziehen. Gleich ihren Vorgängern, den Pferden, haben die einzelnen Lokomotiven Eigennamen und mit den Namen verschiedene Grade der Berühmtheit erlangt.

|449| Der "Liverpool", der nordwestlichen Bahn zugehörig, dunstet 1.140 Pferdekräfte aus, wenn in voller Arbeit. Ein solches Ungeheuer verschlingt für seinen täglichen Konsum eine Tonne Kohlen und 1.000 bis 1.500 Gallonen Wasser. Der Organismus dieser eisernen Rosse ist außerordentlich delikat. Er zählt nicht weniger als 5.416 Glieder, die so sorglich wie die einer Uhr zusammengefügt werden. Ein Eisenbahnzug, der 50 Meilen (englische) per Stunde zurücklegt, besitzt den sechsten Teil der Geschwindigkeit einer Kanonenkugel. Die Durchschnittskosten der Lokomotive zu 2.200 Pfd.St. berechnet, beträgt die Auslage für die 5.801 Lokomotiven über 12.700.000 Pfd.St. In jeder Minute des Jahres verwandeln 4-5 Tonnen Kohlen 20-25 Tonnen Wasser in Dampf. Stephenson bemerkt, daß das so in Dampf verwandelte Wasser eine der Gesamtbevölkerung Liverpools täglich genügende Zufuhrsquelle sein würde. Die Masse des verzehrten Brennstoffs aber erreicht beinahe die Höhe, worauf sich die britische Gesamtausfuhr von Kohlen vor vier Jahren befand, mehr als die Hälfte des Gesamtkonsums Londons.

Den 5.801 Lokomotiven folgen als Troß 15.076 Passagierwagen, 180.574 Wagen für den Güterverkehr, die ein Gesamtkapital von 20 Millionen Pfd.St. vertreten. Ein einziger Zug, gebildet von den sämtlichen Lokomotiven und Wagen, würde die ganze Linie von Brighton nach Aberdeen einnehmen, mehr als 600 Meilen.

Über 7.000 Züge laufen jeden Tag, über sieben Züge jede Minute während der vierundzwanzig Stunden. Während des vergangenen Jahres durchmaßen Passagiere und Güter über 100 Millionen Meilen, mehr als viettausendmal den Umkreis der Erde. Während jeder Sekunde im Jahr waren über 3 Meilen Eisenbahn mit Zügen bedeckt. Zwölf Millionen Rindvieh, Schafe und Schweine machten Eisenbahnfahrten, 90 Millionen Tonnen Waren und Mineralien wurden befördert. Die Mineralien betrugen doppelt die Quantität der übrigen Waren.

Die Gesamtroheinnahme zählte 28 Millionen Pfd.St. Die Produktionskosten, abgesehen vom Verschleiß der Eisenbahn selbst, beliefen sich für die Midland Compagnie auf 41 Prozent der Einnahme, für die Yorkshire- und Lancashirebahn auf 42 Prozent, für die Westmidland-Linie auf 46 Prozent und für die Great-Northern-Linie auf 55 bis 56 Prozent, die Durchschnittsausgabe für sämtliche Linien auf 13.187.368 Pfd.St. oder 47 Prozent der Einnahme. Die London- und North-Western-Bahn nimmt der Dimension nach den ersten Rang ein. Ursprünglich beschränkt auf die London- und Birmingham-Linie, die Grand Junction, die Manchester- und Liverpool-Bahn, |450| erstreckt sie sich jetzt mit ihren Zweiglinien von London nach Carlisle und von Peterborough nach Leeds im Osten, nach Holyhead im Westen. Ihre Direktion beherrscht mehr als tausend Eisenbahnmeilen und steht an der Spitze einer industriellen Armee von ungefähr 20.000 Mann. Ihre Konstruktion kostete über 36 Millionen Pfd.St. Stündlich während des Tags und der Nacht zählt sie ein Roheinkommen von 500 Pfd.St., wöchentliche Prozeßkosten von 1.000 Pfd.St. Der Nettoertrag dieser Eisenbahn, sowie der meisten anderen, fiel im Verhältnis, wie ihr Umfang wuchs und sie sich über minder bevölkerte und industrielle Distrikte ausdehnte. Ihre Aktien, zu 100 Pfd.St. ausgegeben, sanken allmählich von 240 Pfd.St. auf 92 bis 93 und die Dividenden von 10 Prozent auf 33/4 Prozent. Gleichzeitig mit dem kolossalen Betriebsumfang dieser wie anderer Eisenbahnen verminderte sich die Kontrolle der Aktionäre, usurpierte die Direktion größere Machtfülle und folgte auf dem Fuß Mißverwaltung.