Inhaltsverzeichnis Artikel und Korrespondenzen 1861
Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 15, 4. Auflage 1972, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1961, Berlin/DDR. S. 348-351.
1. Korrektur
Erstellt am 20.09.1998
["Die Presse" Nr. 305 vom 6. November 1861]
<348> England steht heute, wie vor fünfzehn Jahren, einer Katastrophe gegenüber, die sein ganzes ökonomisches System an der Wurzel anzugreifen droht. Die Kartoffel bildete bekanntlich das ausschließliche Nahrungsmittel von Irland und einem nicht unbedeutenden Teil der englischen Arbeiterbevölkerung, als die Kartoffelkrankheit 1845 und 1846 die irische Lebenswurzel mit Fäulnis schlug. Die Resultate dieser großen Katastrophe sind bekannt. Die irische Bevölkerung nahm um zwei Millionen ab, wovon ein Teil verhungerte, der andere über den Atlantischen Ozean flüchtete. Gleichzeitig verhalf dies ungeheure Unglück der englischen Freihandelspartei zum Sieg; die englische Grundaristokratie ward gezwungen, eines ihrer ergiebigsten Monopole zu opfern, und die Abschaffung der Korngesetze sicherte eine breitere und gesundere Grundlage für die Reproduktion und Erhaltung der arbeitenden Millionen.
Was die Kartoffel für die irische Agrikultur war, ist die Baumwolle für den herrschenden Industriezweig Großbritanniens. An ihrer Verarbeitung hängt die Subsistenz einer Bevölkerungsmasse, größer als die Gesamteinwohnerzahl Schottlands, als zwei Dritteile der jetzigen Einwohnerzahl Irlands. Nach dem Zensus von 1861 betrug nämlich die Bevölkerung Schottlands 3.061.117 Köpfe, die Irlands nur noch 5.764.543, während mehr als vier Millionen in England und Schottland direkt oder indirekt von der Baumwollindustrie leben. Nun ist zwar die Baumwollstaude nicht erkrankt. Ebensowenig ist ihre Produktion das Monopol einiger Erdstriche. Umgekehrt, keine einzige Pflanze, die Kleidungsstoff liefert, gedeiht auf gleich ausgedehnten Flächen in Amerika, Asien und Afrika. Das Baumwollmonopol der Sklavenstaaten der amerikanischen Union ist kein natürliches, sondern ein geschichtliches Monopol. Es wuchs und entwickelte <349> sich gleichzeitig mit dem Monopol der englischen Baumwollindustrie auf dem Weltmarkt. Im Jahre 1793, kurz nach der Zeit der großen mechanischen Erfindungen in England, erfand ein Quäker zu Connecticut, Ely Whitney, den Cottongin, die Baumwollzerhackmaschine, welche die Baumwollfaser von dem Baumwollsamen trennt. Vor dieser Erfindung reichte die angestrengteste Tagesarbeit eines Negers kaum hin, ein Pfund Baumwollfasern vom Baumwollsamen zu trennen. Nach der Erfindung des Cottongin konnte ein altes Negerweib bequem täglich 50 Pfund Baumwollfasern liefern, und allmähliche Verbesserungen haben die Wirksamkeit der Maschine später verdoppelt. Jetzt waren die Fesseln der Baumwollkultur in den Vereinigten Staaten gesprengt. Sie wuchs rasch, Hand in Hand mit der englischen Baumwollindustrie, zu einer kommerziellen Großmacht auf. Im Laufe der Entwicklung schien England dann und wann vor dem Monopol der amerikanischen Baumwolle, als einem gefahrdrohenden Gespenst, aufzuschrecken. Ein solcher Augenblick trat z.B. ein zu der Zeit, wo die Emanzipation der Neger in den englischen Kolonien mit 20.000.000 Pfd.St. erkauft wurde. Man fand es bedenklich, daß die Industrie in Lancashire und Yorkshire auf der Souveränetät der Sklavenpeitsche in Georgia und Alabama beruhe, während das englische Volk sich so große Opfer auferlegte, um die Sklaverei in seinen eigenen Kolonien abzuschaffen. Allein die Philanthropie macht keine Geschichte, am wenigsten Handelsgeschichte. Ähnliche Bedenken tauchten auf, so oft eine Baumwollmißernte in den Vereinigten Staaten eintrat und ein solches Naturereignis überdem von den Sklavenhaltern ausgebeutet ward, um den Preis der Baumwolle durch Kombination noch künstlich zu erhöhen. Die englischen Baumwollspinner und Weber drohten dann mit Rebellion gegen den "König Baumwolle". Mannigfaltige Projekte zur Beziehung der Baumwolle aus asiatischen und afrikanischen Quellen kamen zum Vorschein. So z.B. 1850. Indes, die nachfolgende gute Ernte in den Vereinigten Staaten schlug dergleichen Emanzipationsgelüste siegreich nieder. Ja, das amerikanische Baumwollmonopol erreichte in den letzten Jahren einen zuvor kaum geahnten Umfang, teils infolge der Freihandelsgesetzgebung, die den bisher bestehenden Differentialzoll auf die von Sklaven gebaute Baumwolle aufhob, teils infolge der gleichzeitigen Riesenfortschritte der englischen Baumwollindustrie und der amerikanischen Baumwollkultur während des letzten Dezenniums. Schon im Jahre 1857 betrug der Baumwollkonsum in England beinahe anderthalb Milliarden Pfunde. Plötzlich bedroht nun der Amerikanische Bürgerkrieg diesen großen Grundpfeiler der englischen Industrie. Während die Union die Häfen der <350> Südstaaten blockiert, um mit Verhinderung der Ausfuhr ihrer diesjährigen Baumwollernte den Sezessionisten die Haupteinnahmsquelle abzuschneiden, verleiht die Konföderation dieser Blockade erst die zwingende Gewalt durch den Beschluß, keinen Ballen Baumwolle freiwillig auszuführen, und viel mehr England zu zwingen, sich selbst seine Baumwolle von den südlichen Häfen holen zu kommen. England soll dahin getrieben werden, die Blockade gewaltsam zu durchbrechen, der Union dann den Krieg zu erklären und so sein Schwert in die Waagschale der Sklavenstaaten zu werfen.
Seit dem Beginn des Amerikanischen Bürgerkrieges stieg der Preis der Baumwolle in England fortwährend, jedoch geraume Zeit in minderem Verhältnis als zu erwarten stand. Im ganzen schien die englische Kaufmannswelt mit großem Phlegma auf die amerikanische Krisis herabzusehen. Der Grund dieser kaltblütigen Anschauungsweise war unverkennbar. Die ganze letzte amerikanische Ernte befand sich lange schon in Europa. Das Produkt einer neuen Ernte wird nie vor Ende November verschifft, und diese Verschiffung erreicht selten einen bedeutenden Umfang vor Ende Dezember. Bis dahin blieb es also ziemlich gleichgültig, ob die Baumwollballen auf den Plantagen zurückbehalten oder gleich nach ihrer Verpackung zu den Häfen des Südens befördert würden. Hörte die Blockade zu irgendeiner Zeit vor Ende des Jahres auf, so konnte England mit Sicherheit darauf rechnen, im März oder April seine gewöhnliche Baumwollzufuhr zu erhalten, ganz als ob die Blockade nie stattgefunden hätte. Die englische Kaufmannswelt, größtenteils irregeleitet durch die englische Presse, gab sich aber dem Wahn hin, daß ein etwa sechsmonatiger Kriegsspektakel mit Anerkennung der Konföderation von seiten der Vereinigten Staaten enden werde. Ende August jedoch erschienen Nordamerikaner auf dem Markt zu Liverpool, um dort Baumwolle einzukaufen, teils für Spekulationen in Europa, teils für Rückverschiffung nach Nordamerika. Dies unerhörte Ereignis öffnete den Engländern die Augen. Sie begannen den Ernst der Situation zu verstehen. Seitdem befindet sich der Liverpooler Baumwollmarkt in fieberhafter Erregung; die Baumwollpreise waren bald 100 Prozent über ihr Durchschnittsmaß getrieben, die Baumwollspekulation nahm dieselbe wilde Physiognomie an, die die Eisenbahnspekulation 1845 kennzeichnete. Die Spinnereien und Webereien in Lancashire und anderen Sitzen britischer Baumwollindustrie beschränkten ihre Arbeitszeit auf drei Tage in der Woche, ein Teil derselben setzte seine Maschinen völlig still, die unheilvolle Rückwirkung auf andere Industriezweige blieb nicht aus, und ganz England bebt in diesem Augenblicke vor dem Herannahen der größten ökonomischen Katastrophe, die es bisher bedroht hat.
<351> Der Konsum indischer Baumwolle wächst natürlich, und die steigenden Preise werden eine noch beschleunigte Zufuhr aus der uralten Heimat der Baumwolle sichern. Indes bleibt es unmöglich, sozusagen auf Kündigung von wenigen Monaten, die Produktionsbedingungen und den Lauf des Handels umzuwälzen. England sühnt jetzt in der Tat seine lange Mißverwaltung Indiens. Seine jetzigen krampfhaften Versuche zum Ersatz von amerikanischer Baumwolle durch indische stoßen auf zwei große Hindernisse: den Mangel an Kommunikations- und Transportmitteln in Indien, die verkümmerte Lage des indischen Bauers, die ihm die Benutzung der augenblicklich günstigen Umstände versagt. Aber abgesehen hievon, ab, gesehen von dem Veredlungsprozeß, den die indische Baumwolle noch zu durchlaufen hat, um die Stelle der amerikanischen einnehmen zu können, selbst unter den günstigsten Umständen bedarf es der Jahre, bevor Indien das erheischte Quantum Baumwolle für die Ausfuhr produzieren kann. In vier Monaten aber, das steht statistisch fest, wird der Baumwollvorrat in Liverpool aufgezehrt sein. Er wird selbst so lange nur vorhalten, wenn die Beschränkung der Arbeitszeit auf drei Tage in der Woche und das gänzliche Stillsetzen eines Teils der Maschinerie in noch größerem Umfang als bisher von den britischen Baumwollspinnern und Webern durchgeführt wird. Eine solche Prozedur setzt schon die Fabrikdistrikte den größten sozialen Leiden aus. Wenn sich aber die amerikanische Blockade über den Januar hinaus verlängert! Was dann?